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Jede Bewegung, jede Partei, jede ideologische Kultur hat ihren Nachwuchsbereich. Das gilt auch für den Neoliberalismus, der ja nicht nur eine politische Ökonomie bezeichnet, sondern auch eine, wie sagt man: Lebensauffassung. Ein mehr oder weniger geschlossenes Weltbild, in dessen Theorie und Praxis man hineinwachsen muss. Möglichst koordiniert und kontrolliert. Den natürlich informellen und (scheinbar) selbstorganisierten Nachwuchszweig des Neoliberalismus nennen wir, in Ermangelung anderer Begriffe: die Schnösel. Die Schnösel Schnösel nennen kann man, weil sie von den anderen gern so genannt werden, den Nerds und Freaks, den Hipstern, Alternativen, Prolls, sogar den Normalos und ganz gewöhnlichen Kunden. Der vermutlich meistgebraucht Dialog in Deutschland: „Wie war dein Tag, Schatz?“ – „Ich hatte Ärger mit diesem Schnösel von . . .“. Und während der Neoliberalismus – darin sind sich mittlerweile die meisten Kritiker von Neoliberalismus und Postdemokratie einig – auf der makrophysikalischen Ebene der Macht eine neue Oligarchie ausbildet, funktioniert er unten, im Mikrobereich der ökonomisierten Macht, durch etwas, das wir die prekäre Herrschaft der Schnösel oder kurz Schnöselokratie nennen könnten. Egal, welches Problem sie haben, welche Beschwerde sie vorbringen wollen, welchen Wunsch sie äußern, früher oder später gelangen sie an einen Schnösel, an dem alle Ihre Hoffnungen auf eine menschliche Seite der Ökonomie zerschellen müssen. Schnösel sind die Türsteher und Straßenjungs des Neoliberalismus, die Laufburschen und Schaufensterpuppen, die Propagandisten und Prostituierten. Lange bevor man an diesem System verzweifelt, verzweifelt man an seinen Schnöseln. Ohne Schnöselokratie täte sich der Neoliberalismus schwer dabei, uns für dumm zu verkaufen. Jungschnösel, so ist es der Brauch, dürfen ein bisschen forscher und nun ja, rotziger, auftreten als die alten Herrn. Darum hat jeder wichtige Mensch in diesem System auch eine Meute von jungen Schnöseln um sich.

Um zu begreifen, dass mit Schnösel nicht einfach nur ein abwertender Spott über einen Menschen gemeint ist, der sich „was Besseres“ dünkt, uns missachtet und schwer auf den Senkel geht, muss man den Bedeutungswandel des Begriffs nachvollziehen. Der Begriff Schnösel entstand wohl im 19. Jahrhundert aus dem Wortbereich Schnodder oder schnäuzen und beschreibt erst einmal etwas der „Rotznase“ vergleichbares, bevor es sich, vielleicht mit einem Zwischenschritt von „altklug“ und „besserwisserisch“, in Richtung der Bedeutung von „junger, eingebildeter und eben rotzfrecher Mensch“ entwickelte. Im 20. Jahrhundert eroberte die Schnösel-Zuschreibung auch die Erwachsenenwelt, es blieb indes in aller Vorstellung vom Eingebildeten, Ignoranten, Stutzerhaften und Anmaßenden auch etwas von „unreif“. Der Schnösel wurde zum Typus in Komödien, Operetten, Filmen und Karikaturen; das Happy End, wenn es für ihn eins gab, lag darin, dass er, etwa durch die Liebe, von seiner Schnöseligkeit kuriert wurde (wie der junge Heinz Rühmann in seinen Filmen). Unsere Sympathie mit dem Schnösel freilich könnte schon da beginnen, wo er zum komischen Schreckbild der faschistischen Unterhaltung wird. Denn irgendwie, nicht wahr, versucht der Schnösel ja wenigstens noch Stil zu zeigen.

Der Schnösel war zunächst ein Kind aus privilegiertem Haus, das sich gegen seine Umwelt arrogant und egozentrisch benehmen durfte, ohne dass er dadurch soziale Nachteile zu gewärtigen hatte. Ein Gewinner-Attribut, das freilich schon zuerst die Abwertung und dann auch den Abstieg beinhaltete, denn der Schnösel ist in der Regel nicht mehr in der Lage, das ererbte Unternehmen zu führen; der Schnösel macht kaputt, was seine Vorgänger aufgebaut haben. Wer in einer Fabrik oder in einem Büro einen Vorgesetzten als Schnösel identifiziert, der hat ihm innerlich schon einen Teil von Loyalität und Gehorsam aufgekündigt. Das zwingt, wie wir in jedem Supermarkt sehen können, den Schnösel (in Form eines Filialleiters hier vielleicht) dazu, besonders tückische Formen der Machtausübung zu wählen. Im Schnösel ist die bürgerliche Autorität (die Souveränität des Handelns und Denkens) zerbrochen in eine äußere Darstellung und eine innere Mechanik der Macht, die kaum noch etwas miteinander zu tun haben. Es gibt in jeder Klasse, auch in der bäuerlichen, auch in der proletarischen eine je eigene Form von Schnöseln, doch zum Rollenmodell, zugleich Problem und Ideal, wird der Schnösel erst im Bürgertum. Der Schnösel drückt die ganze Widersprüchlichkeit dieser Klasse aus. Deshalb spielt er in ihrer Mythologie eine Schlüsselrolle. Doch erst in einer Mediengesellschaft kann der Schnösel von einem Rand- und Krisensymptom zu einem zentralen Lebensmodell werden.

Interessanterweise taucht der Schnösel an signifikanten Stellen der Klassenbeziehungen auf. Im 19. Jahrhundert etwa ist er in den Komödien der Kleinbürger, der sich zum Groß-, Besitz- und Bildungsbürger aufplustert (so wie sich sein Molièrescher Vorgänger, der „Bürger als Edelmann“ zum Pseudo-Aristokraten aufzuplustern versuchte), und im 20. Jahrhundert, nun vor allem als Film-Figur, der „entwurzelte“ Aufsteiger, der sich Wunder was auf sich einbildet, indem er jede Modetorheit, jedes neue semantische oder technologische Angebot annimmt, die Vorgaben der Aufsteiger- und Angestelltengesellschaft übererfüllt. Und am Ende als betrogener Betrüger dasteht.

Der Schnösel des Jahres 2014 verhält sich nicht viel anders. Er hält sich selbst für das Mitglied einer Klasse, die ihn in Wirklichkeit allenfalls ausbeutet, wenn nicht gar verhöhnt. Er macht bedingungslos jede Mode mit, die ihm verspricht, dazuzugehören, vielleicht sogar vornedran zu sein. Und er erfüllt die Ideologie, an die die wirklichen Gewinner seines Systems kein bisschen glauben, mit manchmal fanatischem Ernst. Daher ist der Schnösel bereit die ideologische Drecksarbeit zu leisten. Es ist der Schnösel, der Verachtung und Ignoranz offensiv zur Schau stellt. Der Schnösel glaubt an den Markt, an die Freiheit, an den Erfolg, an die Leistung, an den Optimismus, an den Fortschritt, an die erlösende Kraft von Markenartikeln. Seine drei Säulen sind Freiheit, Neuheit und Party. Vom Partymachen ist der Schnösel so besessen, dass er jede Party ruiniert, weil er aus ihr eine Feier der Selbstbestätigung macht. Der Schnösel vertreibt den Spaß, den er sich selbst als Rübe vor den Mund hält, radikal. Denn wie das „frei“ und das „neu“ wird ihm auch der „fun“ zum ideologischen Ritual, zur panischen Performance.

Natürlich gibt es auch unter den Schnöseln extreme Hierarchien. Grundsätzlich ist zwischen dem weißhemdigen und dem hellblauhemdigen Schnösel zu unterscheiden. Der weißhemdige Schnösel ist meistens im Verkauf, also im unteren Bereich der Dienstleistung zu finden. Er ist einer, der als Herrscher in einem „kleinen Reich“ zu sich finden will. Er ist das Gegenbild zum nerdigen Tech-Nick, der seine Nische gefunden hat; er hat keine technische, sondern modische Kompetenz. Der weißhemdige Schnösel verkauft dir nicht, was du brauchst, sondern das, was derzeit schwer angesagt ist. Sein Verkaufsargument ist immer das Trendige, er hat immer ein paar Promi-Namen parat, er kennt die Ranking- und Sellerlisten. Der weißhemdige Schnösel ist nachgiebig und verspricht, auf alle deine Wünsche einzugehen.

Der blauhemdige Schnösel dagegen will höher hinaus, auch und gerade wenn er in extrem prekären Arbeitsverhältnissen steckt. Im Gegensatz zum weißhemdigen Schnösel ist der blauhemdige Schnösel (mit irgendwie italienisch wirkendem Schuhwerk) nicht zuvorkommend, sondern verkauft seine eigene angebliche Überlegenheit. Er macht seinem Gegenüber unmissverständlich klar, dass er, der blauhemdige Schnösel, auf der Seite der Gewinner steht, der andere dagegen (noch) auf der Seite der Verlierer. Der blauhemdige Schnösel verkauft sich an seinen Kunden mit einem unausgesprochenen: Du möchtest es doch auch. Du möchtest, quatsch, du musst sein wie ich. Dann kannst du auch so ein arrogantes Arschloch sein. Fühlt sich gut an, ehrlich.

Wie bei den meisten Menschenarten werden auch die Schnösel erst wirklich unerträglich, wenn sie in Gruppen auftreten, in denen sie sich wechselseitig zu überschnöseln trachten. Der Schnösel ist individuell vor allem mit seiner eigenen Erscheinung beschäftigt, die freilich bemerkenswert konformistisch ist. Seine Frisur sitzt perfekt, seine Rasierwasser- und sonstigen Duftmarken durchsetzen wie olfaktorische Netzwerke Büros, Shopping Mals, Messen oder Banken, er benutzt so viel „wearable technology“ als möglich, seine Sprache protzt mit dem Konsum- und Öko-Jargon, wie es kein Kabarettist hinbekäme, und seine Performance lässt immer das mediale Vorbild zur Zeit durchschimmern. Dies vielleicht unterscheidet den Schnösel 2014 von seinen Vorgängern: dass es ihm nichts ausmacht, außerhalb seiner Welt als Karikatur wahrgenommen zu werden. Denn dieses Außerhalb ist dem neuen Jungschnösel herzlich egal. Es schmutzt, es versteht nichts von Geld, es hat schon so was von Verloren. Einen Schnösel kann man gar nicht beleidigen, so weit sieht er von vorneherein auf dich herab. Respekt haben Schnösel nur vor anderen Schnöseln.

Gewiss gibt es auch den weiblichen Schnösel, aber hallo. Allerdings scheint er nicht auf die gleiche Weise uniformiert und auf Anhieb erkennbar. Auch der weibliche Schnösel zeigt vergleichsweise aggressiv die Zeichen der Eitelkeit und Selbstinszenierung: Frisuren, die verzweifelt versuchen, zugleich modisch und für den harten Aufstiegskampf betoniert zu sein, Kostüme, die sexy sein und zugleich als Kampfanzüge für den immerwährenden Wettbewerb dienen sollen, ein Lächeln, das vor allem Biss verrät. Vielleicht ist Ursula von der Leyen die Mutter aller weiblichen Schnösel, oder die Dame von den Börsennachrichten. Auf jeden Fall kommen auch hier die Vor-Bilder vorzugsweise von amerikanischen Serien. Business Girls und Media Chicks. Natürlich ist es wie überall: Um in der Schnösel-Welt Erfolg zu haben, muss eine Frau doppelt so schnöselig sein wie ein Mann. Und man darf zugleich nur halb so viel darüber lachen dürfen.

Natürlich gibt es immer noch den „reichen Schnösel“, das Klischeebild vom Sohn, dem der Unternehmerpapi zum Abitur einen Porsche schenkt. In der mehr oder weniger neuen Oberschicht wird Schnöseligkeit durchaus gepflegt, allerdings mit einer gewissen Ironie und mit einer gewissen Kokain-begleiteten Abgründigkeit. Der reiche Schnösel als Serienmörder ist ja mittlerweile schon wieder eine feste Figur in der populären Kultur. Die Mehrzahl der Schnösel allerdings wird durch arme Schweine gebildet. Dass sie mit allem was sie so angelegentlich tun, Schiffbruch erleiden müssen ist das eine, das andere ist, dass sie niemanden haben, dem sie die Schuld dafür geben können als sich selbst. Man sieht sechs, sieben Schnösel beieinander stehen, die sich modisch gleichen wie Klone, und die von ihren neuen tollen Geräten, ihren Reisen und vom Finanzmarkt schwadronieren, bevor sie sich wieder in ihre Handyshops, Praktikantenstellen, Beratungsbüros verdrücken. Und man weiß: dreiviertel von euch werden alles verlieren, die Träume vom Haus mit Pool und Vorzeigefamilie, vom Loft, vom Mitspielen in eurer Traumwelt. Und wer bezahlt eure teuren Kosmetika, wie tief sitzt ihr schon in der Schuldenfalle, aus der ihr euer Leben lang nicht mehr herauskommt; wen müsst ihr betrügen, um am Leben zu bleiben und euer Lebensmodell aufrecht zu erhalten? Eines Tages wird sie kommen, die große, tragische Schnösel-Erzählung, so signifikant wie im vorigen Jahrhundert „Der Tod eines Handlungsreisenden“.

Der Schnösel, keine Frage, ist sozial abgestiegen. Schnösel sind die Reservearmee des Neoliberalismus. Aber der Schnösel ist auch zu einem beliebten Feindbild geworden; Schnösel-Studenten, zum Beispiel, sind für jedes Ranking deutscher Universitäten ein Graus; ein Siegbert Schnösel tritt als Bild eines Erfolgreichen und Unerträglichen im „Sponge Bob“-Universum auf, der zwar alles hat, aber eben keine Freunde. Der Held oder der Clown der neuen Schnösel, wie man es nimmt, ist „in echt“ der 17-jährige Param Sharma, der, woher sonst, aus Kalifornien seinen wunderbaren Alltag unter dem Namen „Lavish“ in die Welt postet, Spross einer indischen Unternehmerfamilie, der so hemmungslos angeberisch und eitel seiner eigenen Schnöseligkeit frönt, dass man immer wieder einmal glaubt, einer gekonnten Parodie beizuwohnen: „Ich lebe den Traum, den du nur träumst“, höhnt er seinen Followern zu, und beschreibt seinen Alltag: „Ich wache auf, dusche mich, stelle sicher, dass meine Fingernägel gut aussehen, ziehe mich an und werde zur Schule gefahren. Ich checke mehrmals am Tag die Börsenkurse, aber sonst ist alles normal. Nach der Schule lasse ich mich massieren, treffe Freunde, nichts Außergewöhnliches. An Samstagen gehe ich shoppen.“ Wie es scheint, gibt es unzählige junge Menschen, die ein solches 17jähriges Leben als erstrebenswert ansehen. Um den Nachwuchs muss sich die Schnöselokratie keine Sorgen machen, oder?
Dabei könnte man den Schnösel durchaus als ein Auslaufmodell sehen, eines, das endgültig in den Status der Selbstparodie umgekippt ist. Der Schnösel würde gewissermaßen der FDP entsprechen, so wie ja die FDP ihrerseits genügsam als Schnöselpartei dingfest gemacht wurde. Beide, die jungen Individualschnösel und die FDP, schaden dem System mehr als sie ihm nutzen, wenn sie es, während sie es propagieren zugleich entlarven. Doch ist der Schnösel selber flexibel genug, um notfalls militantere Positionen zu finden. Für den Schnösel in der Krise ist die AfD eine neue politische Heimat, man sieht im Nachbarland massenweise Schnösel in den Reihen des Front National. Die Schnösel-Mehrheit aber gibt sich – noch – betont unpolitisch.

All das aber verhindert, wie gesagt, den Abstieg des Schnösels nicht. Es ist das Verdienst der Bild-Zeitung, wieder mal, den subproletarischen, prekarianischen „Hartz IV-Schnösel“ zu entdecken, der es ablehnt, die entwürdigenden Angebote seines Job Centers anzunehmen und sich „bei Sandra Maischberger ohne Schuhe auf einem Sofa lümmelt“. Tiefer, wahrlich, kann der Schnösel nicht sinken als vom Vorzeige-Karrieristen zum Kotzbild der brav arbeitenden Bild-Gemeinde.

Wir befinden uns offensichtlich in einem verschärften Schnösel-Krieg. War der Schnösel einst das Kind der Reichen, das in Arroganz und narzisstischem Wahn die soziale Legitimation von Familie und Klasse verspielte, wurde er dann zum Sinnbild eines vom Kapitalismus zugleich hoffierten und verratenen Bürgers, der auf alles und jeden reinzufallen bereit war, was ihm die materiellen und sozialen Wünsche zu erfüllen versprach, und schließlich zum Rollenmodell des prekarisierten Neoliberalismus, zum perfekten Darsteller von Kapitalismus auf der Bühne der trostlosen Fußgängerzonen- und Bürowelten, so ist der Schnösel also nun am unteren Ende des sozialen Spektrums angelangt: Der Schnösel, der seine Ignoranz und Arroganz gegen die soziale Abwertung setzt, aber keine eigene „Leistung“ zu erbringen bereit ist, einer, der den Tag vor dem Fernseher verbringt und mit dem SUV zur Lebensmittelabholung bei der „Tafel“ fährt, der „Sozialschmarotzer“, der keine Arbeit hat aber über die Vorzüge von online banking und Immobilienfonds schwadroniert. Wenn es nach der Bild-Zeitung geht, dann also ist der Schnösel vom Schreckbild der Gewinner zum Symbol des Selbsthasses der Verlierer geworden.

„Erbarmen!“ (Um das Lieblingswort eines populären, literarischen Super-Schnösels zu gebrauchen.) Wir, die wir unter der Schnöselokratie tagaus und tagein leiden müssen, von Schnöseln drangsaliert, von der Benutzung eines Nahverkehrsmittels bis zum Entsetzen über einen vollkommen unnützen Versicherungsvertrag, wir, die wir Opfer der Mitleidlosigkeit des Schnösels sind, müssen selber mit ihm tiefes Mitleid empfinden. Denn auch der Neoliberalismus frisst am liebsten seine Kinder. Die Schnösel.

Georg Seeßlen

(taz 08.10.2014)