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© getidan

 

Eine Reaktion auf den Seufzer eines melancholischen Rock-Sängers, dass der alte Sozialismus erschöpft und keine neue Idee von Sozialismus in Sicht sei.

Der Sozialismus hat eine Geschichte, viele Geschichten, einen Berg von Theorien, von Scheitern, Irrtum und Verbrechen in der Praxis. Es ist so viel gedacht und so viel getan worden in seinem Namen und mit seinen Instrumenten. Jeder Gedanke über den Sozialismus, und sei er noch so intuitiv, experimentell, vorläufig, muss sich erst einmal rechtfertigen, muss sich abklären lassen an „Klassikern“ und „Urvätern“ (auch die eine oder andere Urmutter ist dabei), an Debatten, die schon einmal geführt wurden, an akademischem Wissen; jeder Gedanke an den Sozialismus als möglicherweise bessere Lebens- und Wirtschaftsform, muss sich in ein gewaltiges, wennzwar teilweise ruinenförmiges Gebäude einfügen, muss sich von diesem absetzen, es jenem recht machen (zurückkehren, nur zum Beispiel, zu dem, was Marx „wirklich“ über den Staat gedacht hat, wie es einst Henri Lefebvre, natürlich zu Recht, was seine Wissenschaft anbelangt, gefordert hatte) und sich am Ende immer doppelt rechtfertigen: Gegen schlechte Praxis und gegen ein Übermaß an Theorie.

Bevor ein „linker Gedanke“ sich gerechtfertigt und positioniert hat, ist er so unverständlich und unhandlich geworden, dass man ihn auch gleich ungedacht hätte lassen können. Ein Faschist wird man aus dem Stand heraus, so ohne jedes Nachdenken und nur mit Hilfe von ein paar Parolen, dass es eine Schande für das Menschentum ist, gewiss; „Kapitalist“, als wäre das nicht nur eine ökonomische sondern auch eine philosophische Position, wird man aufgrund sehr aktueller Leistungs- und Genusserfahrungen (in denen sich Ideologie perfekt verbergen lässt); Sozialist aber wird man offenbar nur auf den längsten Wegen und Umwegen, nur wenn man es studiert und gegenstudiert hat, und zwar in Konkurrenz mit anderen, die alles noch besser studiert und gegenstudiert haben. Man muss „richtig“ Sozialist sein, sonst ist man schlimmer als gar keiner. So geschah das Absurdeste: Dass Sozialismus-Denken ein manisches Denken in die Vergangenheit hinein wurde anstelle dessen, was es einst war, ein Denken in die Zukunft hinaus. Dass Sozialismus-Denken sich aufreibt am Messen an der Vergangenheit.

Und wie sahen die Alternativen aus? (Oder sollten wir es Fluchten nennen?) Das Auseinanderbrechen in „blinden“ Aktionismus und akademische Schwerarbeit, die keinen Adressaten mehr findet als sich selber. Die Idee, auf die „alten“ Zuordnungen von rechts und links verzichten zu können oder zu müssen, um wieder in die Praxis und in das „wirkliche Leben“ der Menschen zurückkehren zu dürfen. „Realo“ werden, ganz und gar „undogmatisch“, „pragmatisch“. Die spiralförmige Bewegung in den Mainstream hinein, bis man die Ausgangsideen in ihre Gegenteile verwandelt hat, ohne es zu bemerken. Anders herum: Ein linkes Sektierertum um die Kulte des einzig wahren Weges. Nostalgisches Träumen von den großen Zeiten der sozialistischen Ideen. Fetischistische Klammerung an Teilaspekte. Die Idee, sich zu identifizieren durch eine spezielle Gegnerschaft, im Anti-Faschismus, im Anti-Rassismus, im Anti-Kapitalismus. Das Aussitzen der großen Vergessenheit in der Hoffnung darauf, das verhasste System werde sich selber zerstören, und dann würden sozialistische Ideen wieder von selbst gefragt sein. Das Umkippen in eine apokalyptische Welterzählung. Und vieles mehr.

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1969: Hochhaus Pirnaischer Platz mit dem Schriftzug „Der Sozialismus siegt“, links der Bildmitte die Ruine des Kurländer Palais (CC BY-SA 3.0 Erich Braun)

Viel geholfen hat das alles nicht. Dabei ist nichts davon wirklich „falsch“, und schon gar nichts davon ist nicht verständlich. Zumal angesichts eines offensichtlich unbezwingbaren Gegners, eines politisch-ökonomischen Konstrukts, das sich sogar Natur (-wissenschaft) und Anthropologie unterworfen zu haben scheint. (Der Markt als Natur eines Menschen, der „von Natur aus“ dem Wettbewerb, dem Konsum, der Akkumulation, der Gier etc. zuneigt.) Musste unter solchen Umständen nicht aus dem Aufbruch zu einem neuen, so oder so „sozialistischen“ Reichs der Freiheit und des Glücks eine heroisch-verzweifelte Verteidigung der Reste von Aufklärung, Demokratie, Menschen- und Bürgerrechten, ökologischen Minimalstandards, kleinen Inseln der Solidarität werden? Woher sollte Sozialismus eine Option sein, wenn es nicht einmal mehr eine sozialdemokratische Bremse der Kapitalisierung der Welt gibt? Realismus und Sozialismus, das ist Konsens, lassen sich derzeit und vielleicht überhaupt nicht zusammen denken und schon gar nicht zusammen denken.

Daher die Inversion bis zur Implosion im Denken von Sozialismus. Es ist von der Vergangenheit schwer bedrückt (und es wäre ja nun wahrlich ein Wunder, wenn die Gegenseite diese Bedrückung nicht erkennen und nutzen würde!), von der Gegenwart entwürdigt und in sich selbst in tausendundeiner Windung von Identifikation, Rechtfertigung, Differenzierung verhakt. Bevor dieses Denken des Sozialismus wieder auf den Marktplatz der Möglichkeiten treten kann, muss es sich selbst befreien. Es muss einen neuen Anfang machen.

Wohlgemerkt: Es geht hier ganz und gar nicht um „Theoriefeindlichkeit“. Eine gute Theorie ist immer noch etwas sehr Praktisches. Es geht vielmehr darum, den Sozialismus von heute her zu denken, und aus dem heute heraus. Sozialismus-Denken aus den Klauen eines Akademismus zu befreien, der das Denken an Sozialismus als Alternative genau denen vorenthält, die es am Dringendsten brauchen. Das Erbe der Klassiker soll dabei nicht verworfen werden, im Gegenteil. Sie neu und weiter zu denken ist ein notwendiger Aspekt in der Arbeit des politischen Bewusstseins. Aber zur gleichen Zeit ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich nicht um „heilige Schriften“ handelt. So wenig der Sozialismus eine Wissenschaft ist (er ist einfach eine Idee, oder ein Durcheinander von Ideen, wie man korporativ, kreativ und frei miteinander leben könnte), so wenig ist er eine Religion. Sozialismus ist kein anderes Heilsversprechen als das, dass das Leben für die Menschen interessanter, glücklicher, friedlicher, klüger, angstfreier und liebevoller wäre als das jetzige. Ansonsten bleibt das Leben, Göttinseidank, unperfekt, widersprüchlich und offen.

Jeder Gedanken an Sozialismus droht entweder in seinem Schrifttum zu ertrinken oder eine romantische Schriftfeindlichkeit zu erzeugen. Dieses Erbe ist bedrückend. Kann man es, wenigstens temporär und partiell, ausschlagen? „Naiv“ sein, einen Nullpunkt annehmen, noch einmal utopisch denken, ganz unabhängig von den politischen Lagen und Lagern und den akademischen Debatten? So wie wir uns, jedenfalls mit einer verbliebenen kindlichen Phantasie, gewisse griechische Philosophen vorstellen, die sich einfach hingestellt hätten, um öffentlich darüber nachzudenken, was das Richtige und was das Falsche sei.

Wie ist es möglich, dass das Werk von Karl Marx, zum Beispiel, frivol und bedenkenlos von den Protagonisten der ökonomischen Ideologie (die sich frech eine „Wirtschaftswissenschaft“ nennt aber genau weiß, dass sie das nicht ist, und nicht einmal so wunderbar simulieren kann, das alljährliche Gelächter bei der Verleihung der entsprechenden Nobelpreise zu unterdrücken) benutzt werden, während sich Linke jeder Art daran die Zähne ausbeißen, weil sie zu ehrfurchtsvoll und zu narzisstisch damit umgehen. Wenn Sozialismus schon eine Wissenschaft sein soll, dann bitte eine fröhliche Wissenschaft. Eine Debatte, die nicht ausschließen, sondern einladen soll. Ein offenes Denken, das sich auch den Irrtum leisten kann, weil man dafür weder verfolgt noch von anderen verfolgt wird. Der neue Sozialismus wäre ein Experiment mit dem Leben, im Gegensatz zum sicheren Tod der Seelen und Körper im Kapitalismus.

Klingt wirklich kindlich; Huckleberry Finn / Pipi Langstrumpf-Sozialismus. Nein, ganz und gar naiv und von heute aus kann man den Sozialismus nicht denken. Das wäre ja auch sehr sonderbar und eigentlich unmöglich. Die Splitter der Geschichte und die Seiten der Theoriebildung werden einem immer wieder dazwischenkommen. Aber vielleicht kann man eine simple Linie ziehen zwischen einem neuen und den alten Projekten des Sozialismus. Vielleicht so:

Sozialismus und Staat sind Antagonisten, ein Staatssozialismus ist ein Widerspruch in sich.

Eine Partei, die immer recht hat, gibt es genau so wenig wie Personen, in denen sich irgend etwas anderes ausdrückt als, nun eben, eine Person.

Der neue Sozialismus ist eine Sache der Praxis und nicht eine Erfüllung einer großen Welterzählung mit fest stehendem Ende.

Nie und nimmer „heiligt der Zweck die Mittel“.

Der Sozialismus ergibt nur einen Sinn als Erfüllung und als Medium von Demokratie und Aufklärung.

Von einer solchen Linie aus (auch sie natürlich: in Bewegung) könnten wir vielleicht ein neues Denken von Sozialismus riskieren, in dem alles vorherige zum historischen Material wird, voller Anregungen, Sympathien, Beispiele, aber ohne die Fesseln endloser Rechtfertigungsspiralen.

Desweiteren gilt es, die Fesselung des Denkens von Sozialismus an die Parameter von Realisierbarkeit zu binden, die man vom Gegner übernommen hat. Der Kapitalismus lässt sich nur von seiner Machbarkeit her denken. Genauer gesagt: Man kann ihn überhaupt nicht denken. Es gibt ihn, weil er „funktioniert“, und sein „Funktionieren“ ist seine einzige wirkliche Rechtfertigung. Aber ist denn nicht beinahe jedem Menschen klar, dass sein Leben einen Dreck wert wäre, wenn es nur aus „Funktionieren“ bestünde? Warum zum Teufel soll das denn mit den Beziehungen von Menschen untereinander und zu den Dingen der Welt anders sein? „Funktionieren“ ist ein anderes Wort für Tot-sein. Sozialismus muss heißen: Menschen wollen nicht tot sein (in Gefühlen, Gedanken, Bewegungen), sie wollen nicht funktionieren (als Hersteller und Verbraucher toter Dinge), sondern sie wollen ausprobieren, erfinden, erfahren, erkennen. Der Kapitalismus im Stadium seiner Stalinisierung hat das „Alternativlose“ zu seinem Dogma erklärt. Der neue Sozialismus ist das genaue Gegenteil, das Suchen nach Alternativen, nach Entscheidungsmöglichkeiten für alle, nach Möglichkeiten, die zu denken und zu träumen einem ausgetrieben werden sollen.

Der totalitäre Kapitalismus hat alle jene Horrorvisionen erfüllt, die eine „bürgerliche Gesellschaft“ einst dem Sozialismus unterstellte: „Gleichmacherei“, Cliquenherrschaft, Indoktrination, Überwachung bis in die letzten Winkel des Privatlebens, Abschaffung der Demokratie, Willkür von Polizei und Justiz, Gleichschaltung von Medien und Presse, Personenkult, Vernichtung des freien Marktes (durch eine Verflechtung von Staat, Bank und Konzern), militanter Konformismus, Bürokratie, Zwangsarbeit, Missbrauch von Psychiatrie und Pharmazie, Gehirnwäsche, Geheimdienstterror, eine von den Menschen entfernte „politische Klasse“, Militarisierung, Massenchoreographien… Es kam nur alles auf etwas anderen Wegen als erwartet.

Die Behauptung, der Kapitalismus habe im Wettlauf der Systeme „gesiegt“ ist eine dreiste Propagandalüge. Der „real existierende Sozialismus“ und der Kapitalismus der „sozialen Marktwirtschaft“ sind zur gleichen Zeit, ineinander und aneinander, untergegangen. Aus den Trümmern entstand etwas neues, wenn auch in mehreren Variationen: der postdemokratische oder parademokratische oder auch gänzlich undemokratische „Turbokapitalismus“, der asoziale Neoliberalismus oder wie man diese letzten Häutungen (the worst of both sides) sonst nennen mag.

Ein neuer Sozialismus entwirft dazu nicht einfach ein neues Gegenbild (the best of both sides, Demokratie plus Gerechtigkeit), er setzt den Menschen wieder in sein Recht als Subjekt der Geschichte. Er sieht eine Gesellschaft der Freien, die sich weder vom Staat noch von wirtschaftlicher Herrschaft unterdrücken lässt. Das klingt romantisch, unvernünftig. Ist es vernünftig, es gar nicht erst zu versuchen?

 

Georg Seeßlen in konkret

Bild:  1969 – Hochhaus Pirnaischer Platz mit dem Schriftzug „Der Sozialismus siegt“ (CC BY-SA 3.0 Erich Braun)