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Spielbook oder Lesegame

Die interaktive Graphic Novel „Netwars – The Butterfly Attack“ arbeitet an der Erfindung eines neuen Hybridmediums

Cyberterrorismus ist wahrhaftig ein Thema der Zeit. Wie wäre es mit den angemessenen Mitteln in den Diskursteil der Popkultur umzusetzen? Das Hybridmedium der Stunde, das Computergame, ästhetisch wie narrativ gewiss auf der Höhe, scheint dafür vielleicht ein wenig, tja, frivol; ein gewöhnlicher Roman oder die visuelle Entsprechung einer Graphic Novel dagegen vielleicht ein Tick zu altmodisch und linear, von Rocksongs und Kino ganz abgesehen, die sich in ihren Authentizitätsfallen quälen, der neuen Lage gerecht zu werden. Warum es also nicht mit einer Hybridform versuchen: einer interaktiven, mehrdimensionalen, mit Musik und Geräuschen unterlegten grafischen Erzählung zum Beispiel. Vielleicht kann man es auch einfach einen Comic für Tablet und Kopfhörer nennen.

Das Ausgangsmaterial dieser Produktion aus dem Hause filmtank ist einerseits eine sechsteilige Romanfolge von M. Sean Coleman, der sich auch als Drehbuchautor bei der Adaption von Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis und als Autor von Graphic Novels erprobt hat. In vergleichsweise kurzen Episoden geht es um eine cyberkriminelle Vereinigung namens Black Flag und einen Agenten der National Cyber Crime Unit, der unter dem Namen Strider auch außerhalb der Legalität operiert. So weit, so simpel; das Ganze will nicht mehr sein als Lesefutter für internetaffine Leute, die in der U-Bahn keinen Platz finden, um richtig zu spielen. Aber dazu kommt ein sehr viel seriöseres Projekt, ein von Arte initiiertes und filmisch dokumentiertes Projekt eines Berliner Hackers, sich in die sensiblen Steuersysteme bei deutschen Energieversorgern zu hacken.

Aus diesen Vorgaben entstand eine interaktive Graphic Novel, die einen ziemlich gelungenen Bogen von leicht trashiger Thrillerkonstruktion zu einer kritischen Beschäftigung mit den Fakten dahinter schlägt und nebenbei an der Erfindung eines neuen Hybridmediums arbeitet.

Bild, Text und Musik

Die Geschichte von Netwars – The Butterfly Attack beginnt mit dem Hackerteam Sixth Column und ihrem Anführer Max Parson, die die Sicherheitssoftware Chimera für die europäische Regierung (so was gibt es jetzt) geschaffen haben. Um sie zu testen, wird ein Hackerangriff auf die wichtigen Netzwerke der Stadt Oslo simuliert. Ein Cyberkrimi kann beginnen. Unter anderem aufgrund eines geopolitischen Konflikts zwischen Norwegen und Russland um Ölfelder in der Arktis mit weltweiten Konsequenzen.

Aber natürlich ist nicht der Plot das Aufsehenerregende an Netwars. Es liegt vielmehr in der Verknüpfung von Fiktion und Information, in einer neuen Anordnung der Erzähllinien von Bild (einfache, aber stimmungsvolle Zeichnungen mit einem Flair Neonoir, Panels, die sich überlagern, manchmal durch eine Schwarzblende getrennt werden und gelegentlich als 3-D-Tableaus zu genauerem Hinsehen einladen), Musik (ein dräuendes Wabern, das eine akustische Grundstimmung vorgibt und Verbindungen zwischen den grafischen Elementen schafft), Text (klassischer Sprechblasentext, aber auch etwa Displays, die man anklicken kann, Nachrichtentexte et cetera) und Film. Dazu kommen Elemente des Spiels, selbst wenn es hier kein wirkliches Eingreifen des Benutzers gibt: Mit einem orangefarbenen Knopf kann man Objekte wie Computer oder die Leitzentrale eines – durch Cyberangriffe gefährdeten – Wasserversorgungswerks ansteuern oder mit einem i-Knopf faktische Informationen anfordern. Das Hybride zwischen Lesen, Sehen und Spielen wird durch Wischbewegungen auf dem Tablet und das Drücken des einen oder anderen (virtuellen) Knopfs im Bild erzeugt.

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Man kann diesem Hybridmedium dabei zusehen, wie es seine eigenen Möglichkeiten erprobt und erweitert. Ab der zweiten Episode werden verstärkt auch Geräusche von Hubschraubern, Sirenen und Funkgeräten eingeführt. Eher verzichtbar sind dabei tautologische Effekte (Schritte beim Laufen, trockene Schläge bei einem Boxhieb). Der 3-D-Effekt hat nun manchmal eine weitere Möglichkeit: Ein gelber Knopf ist am Bildrand verborgen und kann nur durch Drehen des Bildschirms entdeckt werden, Aufmerksamkeit und Neugier sind Voraussetzung für die Lektüre. Besonders beeindruckend funktioniert das, wenn sich die Verknüpfung von Fiktion und Wirklichkeit direkt in die mediale Wirklichkeit des Spielers / Lesers hinein bewegt, wie etwa eine Warnung über ein Video, das auf den eigenen Handheld zugreifen wird (die Bedrohung durch das Hacken wird gewissermaßen auf den User des Comic-Spiels zurückgespiegelt). Und auch die Warnung, die von Black Flag ausgesandt wird, ist durchaus realistisch: „Ignoranz schützt euch nicht.“ Weiterlesen/-spielen ist also auf einer Ebene gleichsam die Simulation einer echten Gefährdung.

Gelehrte, Freaks und Normale

Bei dem Cyberangriff auf die Wasserwerke von Oslo und das SCADA-System (Supervisory Control and Data Acquisition) sind wir in der Tat in die Vernetzungen involviert, und bei dem Fortschritt der Handlung kann man wirklich erschrecken über das System der Abhängigkeiten, das bei der digitalen Infrastruktur unserer Städte blitzrasch zu einer Gefährdung der lebensnotwendigen Versorgungen führt. Die Tests laufen in der Regel mit einer virtuellen Kopie eines Steuersystems ab; solche virtuellen Kopien werden als sogenannte Honeypots auch eingesetzt, um potenzielle Angreifer auf falsche Spuren und in Fallen zu führen.

Der interaktive Comic ist in dieser Form sicher noch nicht perfekt. Einerseits gibt es viele Elemente, die kaum mehr als Effekte sind. Die Dialoge sind ein wenig hölzern geraten, es geht eher um Typen als um Charaktere, und daher fehlt es ein wenig an einem menschlichen Pendant zur gelungenen technischen Identifikation. Was auch deswegen ein wenig schade ist, weil es, ganz realistisch, ja auch um das Misstrauen zwischen den Mitgliedern der Gruppe geht, um einen weiteren Übersprung in der digitalen Untergrundkultur vom Cyberangriff zur Paranoia. Das macht auch die Thrillerhandlung (der Hacker Nightshade ist nicht nur im Netz, sondern genauso als Mörder in der Realität der Körper und Beziehungen unterwegs) ein wenig zweitrangig.

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Umso präziser funktioniert der ständige Umschlag des Bedrohungspotenzials in der Fiktion in die Erkenntnis eines ganz und gar möglichen, realen Geschehens. Immer wieder schweifen wir zu wirklichen Situationen ab (dem Stromausfall in New York), geschickt ist auch die Simulation eines Chats, in dem Pro und Contra von Cyber-Attacken diskutiert werden.

Wir müssen, lautet die Erkenntnis, zugleich mit Überwachung und Spionage, mit „gewöhnlicher“ Cyberkriminalität und schließlich mit einer eigenen Form des Terrorismus (und also Gegenterrorismus) rechnen. Erschreckend dabei die Idee der Open Source Weapons: „Im Gegensatz zu herkömmlichen Waffen können digitale Waffen kopiert werden. Ist eine Waffe einmal im Umlauf, kann sich theoretisch jeder frei bedienen.“ Der Quellcode taucht im Internet auf. Eine Waffe im Internet macht sich selbstständig; so wie der Wurm Stuxnet, mit dem die iranische Atomanreicherungsanlage gehackt wurde, als Matrix neuer digitaler Angriffswaffen (nun auch gegen die andere Seite) im Netz fungierte. Das Einfallstor war ein Sicherheitsproblem jenes Microsoft Word-Programms, das die meisten von uns im täglichen Gebrauch haben. Und in einem interaktiven Comic könnte es natürlich ebenfalls auftauchen.

Netwars – The Butterfly Attack ist nicht der erste interaktive digitale Comic, und doch kann man sich vorstellen, dass hier ein neues Medium nicht allein der Erzählung, sondern auch der Information und der Kritik entsteht, eines, das seinem Gegenstand in eigener Sprache gegenübertritt. Jedenfalls geht der Deutsche E-Book-Award 2014 für die dreiteilige Serie in Ordnung.

In der Videozuspielung inmitten des Films heißt es einmal angesichts der neuen Gefährdungen: „Der Computer muss neu erfunden werden.“ Nachdem er technisch und ökonomisch erfunden wurde, militärisch und kriminell ohnehin, muss er vielleicht wirklich kulturell und sozial noch einmal erfunden werden. Man benötigt für die kommende Auseinandersetzung dazu nicht nur eine Sprache der Gelehrten und der Freaks, sondern auch eine innerhalb der Popkultur. Interaktive Digitalcomics mit Infotiefe und semantischer Fantasie sind dazu kein schlechter Anfang.

Georg Seeßlen

Bilder: screenshots (Ausschnitte) Filmtank

Der Text erschien zuerst in Freitag 5-2015