DEUTSCHLAND IM NEUEN JAHR NULL

Haben wir eigentlich ein „Flüchtlingsproblem“? Die Experten streiten in den Hinterzimmern, denn öffentlich darf man schon gar nicht mehr sagen, dass dieses Problem womöglich gar nicht besteht, oder doch um so vieles geringer ist, als es Politik und Medien darstellen. Dass es unter den Flüchtlingen nicht nur tüchtige, fleißige und biedere Mittelständler gibt, die für jede noch so geringe Chance dankbar sind und rasch die erfahrenen Demütigungen vergessen, hat auch der freundlichste „Gutmensch“ nicht angenommen. Dass die Flüchtlinge, wie die entsprechenden Fachleute rasch berechnet haben, eher unterdurchschnittlich kriminell und sogar überdurchschnittlich „gesund“ sind, gehört so sehr zum Hintergrundwissen wie die Tatsache, dass ein Land wie Deutschland aus „demographischen Gründen“ auf Zuwanderung angewiesen ist und man, kämen sie nicht als Flüchtlinge, Einwanderer ins Land holen müsste, um die ökonomischen Strukturen und die Sozialsysteme aufrecht zu erhalten. Wirklich bedeutend für eine Haltung gegenüber Flüchtlingen ist das ohnehin nicht, es gibt humanistische Grundüberzeugungen, zivilisatorische Selbstverständlichkeiten, demokratische Werte und nicht zuletzt internationale Konventionen. Seltsam, wie rasch das alles verschwunden ist. Der Verdacht liegt auf der Hand: Es gibt weniger ein Flüchtlingsproblem als vielmehr ein Problematisierungsinteresse. Kritische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen könnten vielleicht ihr Augenmerk einmal darauf richten, was im Schatten der längst irreparabel (und mit der Sexualisierung des Konflikts „nach Köln“ vollendet) hysterisierten Debatten geschieht:

In Deutschland findet offensichtlich ein Königinnenmord statt: Die Ära der großen Mutter Merkel neigt sich, so oder so, dem Ende zu, ihre „Söhne“ und Rivalen (einschließlich einiger Rivalinnen) mobilisieren den nationalistischen und rassistischen Untergrund, um ihre Machtspiele mittels der irrationalen Flüchtlingsangst zu befeuern. Das Projekt eines politisch und demokratisch geeinten Europa wird in einer beschleunigten Renationalisierung, einschließlich neuer Grenzen, Zäune und Mauern, begraben. Die Protagonisten des Neoliberalismus, seine Ideologen wie seine Nutznießer, betreiben ungehindert ihre Geschäfte. Die AfD wurde maßgeblich von Vertretern eines kapitalistischen Fundamentalismus mitgegründet, und nur wenige prominente Vertreter haben die immer weiter ins faschistische Lager übergehende Partei verlassen, stattdessen entwickelt sich hier der Nukleus eines politischen Bündnisses von Straßenfaschismus und einer „mittelständischen nationalen Wirtschaft“, die schon immer gern mit dem rechten Rand sympathisierte. In der Aufmerksamkeitsökonomie wird die Hysterisierung dankbar auch von jenen Medien aufgegriffen, die sich gerade noch als demokratisch, kritisch, nüchtern und dem, nun ja, Qualitätsjournalismus verpflichtet verstanden. Wieder einmal sieht man „nach Köln“ einem unfassbar dummen, schnellen und korrupten Mainstreaming zu. Und nebenbei einer Verrohung, Entkultivierung und eben Entdemokratisierung der Sprache und der Bilder. Dass die Sprache der Politiker und der Medien sich von Tag zu Tag mehr der Sprache des historischen Faschismus angleicht, wird natürlich mit Empörung zurückgewiesen.

Die Lage ist unübersichtlich, gewiss. Mit einer gewissen Verblüffung mag der eine oder die andere von uns registrieren, mit welcher Leichtigkeit Nachbarn, ja sogar Freunde einen Diskurs- und Seitenwechsel vornehmen, wer da alles, von Links und Alternativ (von der Sozialdemokratie reden wir hier aus Gründen historischer Barmherzigkeit nicht mehr) in die „Das Boot ist voll“- und „Nach Köln“-Rhetorik verfällt. Und so gut wie niemand scheint bereit zu erkennen, dass wir weniger ein Flüchtlings- als ein Demokratieproblem haben. Um die „Gefahr“ der „Flüchtlingsströme“ abzuwenden, scheint bereits eine Mehrheit der Bevölkerung bereit, demokratische Grundwerte und humanistische Gewissheiten der Zivilgesellschaft zu opfern. Mehr noch: Es gibt offenkundig bis in die Mitte der politischen Klasse hinein Personen und Organisationen, die auf eine solche Gelegenheit nur gewartet haben. Dabei werden sicher nicht gleich freie Wahlen oder, wie in Polen, Pressefreiheit und Gewaltenteilung aufgehoben.

Aber Demokratie ist mehr als ein Regierungssystem, das Rechtsstaatlichkeit, freie Wahlen und Gewaltenteilung verbindet, und es ist mehr als eine liberale Gesellschaft, in der die Menschen verschiedene Meinungen, Geschmäcker und Religionen pflegen dürfen (solange sie die Meinungen, Geschmäcker und Religionen der anderen nicht unterdrücken). Demokratie ist vor allem eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen. Männer und Frauen, Alteingesessene und Neuankömmlinge, Stadt und Land, Regierende und Regierte, Käufer und Verkäufer – sie alle und noch viel mehr müssen, wenn wir Demokratie denken und leben, einander als Freie und Gleiche begegnen. Natürlich war man auch in besseren Zeiten der Demokratie von diesem Ideal weit entfernt, aber man konnte sich doch sagen: Wir arbeiten dran.

Der Rückbau der Demokratie, ihre innere Entleerung, ihren ständigen Kompromiss mit dem Un- und Antidemokratischen, was wir seit Jahrzehnten beobachten, ohne dass uns recht etwas einfallen würde, wie dem schleichenden Abbau des Demokratie-Projektes zu begegnen wäre, ist drei großen Gegenbewegungen zu verdanken:

1). Einem Transformationsprozess des Kapitalismus, der dem Prinzip der Gleichheit Hohn spricht. Da geht, wie man so sagt, die Schere zwischen den Armen und den Reichen immer weiter auf. Wenn weniger als zehn Prozent mehr als die Hälfte des Volksvermögens besitzen, dann stimmt nicht nur mit dem ökonomischen Gleichgewicht etwas nicht. Die Überakkumulation des Kapitals löst ja nicht nur „Sozialneid“ aus – das ist wohl sowieso eher ein ideologisches Phantasma – als vielmehr ein mehr als berechtigtes Misstrauen gegenüber der neuen Konzentration von Macht. Im Zuge dieser Transformationsprozesse, die man mit dem Label „Neoliberalismus“ versehen hat, sind neue Klassen, neue Ungleichheiten entstanden, die neue ökonomische Oberschicht, das neue Prekariat und dazwischen ein Mittelstand, der unentwegt in Verlierer und Gewinner zerfällt. Nicht einmal eine demokratische Selbstverständlichkeit wie die ökonomische, politische und kulturelle Gleichheit von Männern und Frauen wurde auf diese Weise verwirklicht. Im Namen einer Umdeutung von „Freiheit“ im Neoliberalismus hat sich unsere Demokratie von einer ihrer Voraussetzungen verabschiedet. Eine Gemeinschaft der Gleichen werden wir so schnell nicht mehr

2). Die Trägerform einer jeden Demokratie, eine selbstbewusste, dynamische und wachsame Zivilgesellschaft, geriet von mehreren Seiten her unter Druck. So wie die Verbindung von Demokratie und Kapitalismus im Kern immer absurd war und nur durch ein Geflecht von gegenseitigen Kontrollen und von Kompromissen aufrecht erhalten werden konnte, so war auch die Verbindung von Demokratie und Nation problematisch genug. Nur in Nationen konnte sich Demokratie entwickeln, aber Demokratie, die sich nicht über die Nationen hinaus entwickeln, sind schließlich zur Versteinerung verdammt. Die „nationalen Interessen“ wurden in Krisensituationen immer wieder über die „Belange der Demokratie“ gestellt. Neo-Nationalismus ersetzte zunehmend das demokratische Projekt als Medium der Einigung, und es entstand ein nationalistischer „Untergrund“ der demokratischen Gesellschaften in Europa, der immer weiter rassistische und faschistische Impulse an sich zog. Seit den siebziger Jahren wuchs sich dieser rechtspopulistische Untergrund als heftige Konkurrenz zur demokratischen Zivilgesellschaft aus. Dass diese Zivilgesellschaft die Gefahr nicht erkannte, lag zu einem nicht geringen Teil an jenen postdemokratischen Regierungen, die sich zwischen diesen beiden immer weiter auseinander driftenden politischen Kulturen, der rechtspopulistischen, anti-demokratischen und partialfaschistischen und der demokratischen, zivilgesellschaftlichen und humanistischen, nicht entscheiden wollten. Die Mischung aus Kompromissbereitschaft und taktischem „Bedienen“ der rechtspopulistischen Bewegungen, die sich vom „Volk“ zum „Völkischen“ bewegten, ließ schließlich auch entsprechende rechtspopulistische Regierungen in Europa zu und bewegte die gesamte politische Kultur nach rechts.

3). Zwischen der anschwellenden Kraft der rechtspopulistischen, nationalistischen, rassistischen und anti-demokratischen Bewegungen und der demokratischen, engagierten und kritischen Zivilgesellschaft war eine Mehrheit von Menschen erzeugt werden, die man, missverständlicherweise, als „entpolitisiert“ beschrieben hat. Sie entsprachen weitgehend dem Schreckbild von Platos früher Kritik an der Demokratie: Menschen, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten, die eigenen Vergnügungen, die eigenen Freiheiten kümmerten und die Demokratie eigentlich nur als „Mantel“ für ihren Egoismus ansahen. Der entpolitisierten Mehrheit, so sah es die Kritik, war die Demokratie bestenfalls „angenehm“. Würden diese entpolitisierten Hedonisten, sagte Plato, in ihrem Egoismus und ihrer Vergnügungssucht nicht mehr befriedigt, dann würden sie stehenden Fusses in das Lager eines neuen Tyrannen wechseln. Plato hat das übrigens vor ungefähr 2500 Jahren gesagt.

Ist die Demokratie also noch zu retten? Ist eine Zivilgesellschaft zu retten, die nicht nur von rechts unter Druck geraten ist, sondern auch von ihren politischen Repräsentanten, ihren Medien und ihren Intellektuellen im Stich gelassen wurde? Die sich im Kampf gegen ungehemmte Bösartigkeit, Gleichgültigkeit und Ausbeutung auf die eigene Erschöpfung zu bewegt? Hat die Aufklärung einer multiphonen Hysterisierung noch etwas entgegen zu setzen? Soll Europa, als politisch-kulturelles Projekt einer transnationalen Demokratie gescheitert, als hochgerüstete, nationalistisch verschachtelte Festung statt um Demokratie und Menschen- und BürgerInnenrechte um Ober- und Außengrenzen organisiert werden?

Flüchtlinge müssen aufgenommen werden. Nicht nur in Länder, Kulturen und Sprache. Sondern vor allem in der Demokratie. In einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen. Die sind wir augenblicklich zu verlieren im Begriff. Nicht durch die Flüchtlinge. Im Gegenteil. Nur mit ihnen wird eine Neuerfindung von Demokratie und Zivilgesellschaft möglich sein. Wer da etwas dagegen hat, wird immer deutlicher. Immerhin.

Georg Seeßlen 

erweiterte Version des Textes in taz 03-02-16