Kurt-Schwitters-Preis der Niedersächsischen Sparkassenstiftung 2015:
Pierre Huyghe „Orphan Patterns“,
Sprengel Museum Hannover, 30. Jan. – 24. April 2016.
Alle zwei Jahre kann sich die/der jeweilige Preisträger/in des Kurt-Schwitters-Preises (mit EUR 25.000 dotiert) in einer ganz besonderen Ausstellung im Sprengel Museum Hannover präsentieren. Unvergessen etwa die beiden Installationen von Thomas Hirschhorn, dem vorletzten Preisträger, die Ende 2011 mit einer Mixtur aus Geschichtsbewusstsein und Fantasie, aus Materialfülle und Gegenwartskritik auf sinnliche Art und Weise die Besucher beeindruckten.
Weitere Preisträger waren u.a. Sigmar Polke (1984), Nam June Paik (1989), Tacita Dean (2009), Elaine Sturtevant (2013).
Dem Preisträger 2015, Pierre Huyghe (53) aus Paris, der in Paris und Santiago de Chile lebt, „eine der schillernsten Persönlichkeiten der Kunstszene“ (Direktor Reinhard Spieler), bot das Sprengel Museum optimal Voraussetzungen; denn alle zehn neuen Räume des frisch eröffneten, modernen Erweiterungsbaus wurden ihm für sein Projekt „Orphan Patterns“ (übersetzt: Waisen-Muster) zur Verfügung gestellt. Die Ausstellung möchte Konzepte vereinen, „die aus den Bereichen der Mathematik, Biologie und Spieletheorie stammen. Ein Waisenmuster bezeichnet ein Pattern ohne ‚Eltern‘, ohne Vorgänger, das trotzdem verschiedene, mehr oder weniger komplexe bis chaotische Strukturen ausbilden kann.“
Der Anfang des Ausstellungsparcours beginnt mit solch „chaotischen Strukturen“; denn auf dem Fußboden des ersten Raums wuchern Pulverstrudel, die der Zerstörung durch Besucher-Füße ausgesetzt sind. „Es sind Wand- und Farbstaub beispielsweise aus dem Centre Pompidou in Paris, dem Museum Ludwig in Köln und dem Los Angeles County Museum of Art (LACMA).“ Souvenirs, die Pierre Huyghe in früheren Ausstellungs-Institutionen abgeschabt hat und die nun hier seinen Reigen beginnen.
Der zweite (an sich leere) Raum des „ritualisierten Pfads“ ist mit schwarzem Teppich ausgelegt, die Besucher-Schuhsohlen tragen nun das Centre Pompidou, das Museum Ludwig und das LACMA im winzigsten Miniformat dorthin und drucken diese Gebäude dadurch als sichtbare Spur in den Boden. Pierre Huyghe „verwendet dokumentarische Mittel, die sich dann aber oft als Fiktion entpuppen“, so Reinhard Spieler.
Doch dem (im wortwörtlichen Sinne) Betreten, dem Start dieser groß angelegten Aktion, entwächst nicht wirklich ein Erlebnis oder eine Erkenntnis, und das wird sich, sobald der Teppich nur noch ein vermischt grauer Bodenbelag ist, wohl noch weniger einstellen.
Ein paar Räume weiter die nächste Spezialität von Pierre Huyghe, „der Einbezug von Lebewesen“. An den weißen Wänden und in der Luft tummeln sich Stubenfliegen. Viele, aber keine beängstigende oder bedrängende Menge. In einer Ecke sitzen zwei maskierte Personen. Sie würfeln. Was der Besucher nicht sieht, aber wahrscheinlich im Vorfeld gelesen hat, ist das Material dieser Spielgeräte. „Ein aus Bernstein geschnittener Würfel enthält zwei sich paarende Insekten. Sie wurden vor Millionen von Jahren zufällig gefangen, in ihrer Fortpflanzung und ihrem Lebensalter angehalten und verfestigt.
Zwischendurch leuchtet eine (oder beide) Masken auf, blinkt kurz rhythmisch, um dann wieder in Lichtlosigkeit zu verharren. „Zwei Menschen mit Leuchtmasken, die photosensible Insekten anziehen, spielen mit Würfeln und folgen den Spielanweisungen.
Das kommunizierende Lichtspiel ihrer Masken wurde so programmiert, dass sie instinktiven Verhaltensweisen folgen; es sind Locksignale, Muster von Blinkzeichen, die biolumineszierende Insekten vor der Paarung aussenden.“
In der folgenden Station, auf von beiden Seiten betrachtbarer Leinwand der Film „De-extinction“ (übersetzt in etwa: Ent-Auslöschung). Was (auch aufgrund des Soundtracks) an eine SF-Produktion erin-nert, langsame Kameraschwenks über undefinierbar erscheinende Materien, sind Makro-Aufnahmen aus dem Innern eines Bernsteins.
Im zehnten und letzten Raum zogen am Tag der Ausstellungseröffnung schwarz gekleidete Menschen ihre Bahnen, verharrten manchmal in statischen Figuren, zu zweit, zu dritt. Trugen alle, das erinnerte an klassische Avantgarde-Filme von Maya Deren (1917-1961) oder Jean Cocteau (1889-1963), glatte LED-Masken, die die performenden Personen zu anonymen Gestalten verwandelten.
Mit dieser Raum-Tier-Film-Schauspiel-Kombination habe Huyghe „das Prinzip Collage“, bekanntlich die große künstlerische Entdeckung von Kurt Schwitters, „in die Jetztzeit überführt.“ Vielleicht fehlt „Orphan Patterns“ aber diese gewisse spielerische Leichtigkeit, die Dada zwar provozierend, aber auch befreiend wirken ließ.
Hans-Jürgen Tast
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