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Auf der Suche nach neuen Perspektiven für die Documenta: Das Werk „Landschaft im Dia“ des Künstlerkollektivs „Haus-Rucker- Co“ von der Documenta 6 / 1977 am Eingang der Kasseler Karlsruhe. Foto: Ingo Arend

Nach den Beaux Arts

Arbeit in der Verhandlungszone. Anmerkungen zur Zukunft der Weltkunstschau Documenta aus Anlass ihres 60. Geburtstages

Kassel. Kairo. Kabul, Banff. Als Carolyn Christov-Bakargiev 2012 die 13. Documenta im Jahr 2012 über fast die ganze Welt verteilte, war das nicht nur ein Marketinggang. Mit der topologischen Vierteilung vollzog die streitlustige, amerikanisch-italienische Kuratorin eine bewusste Geste. Für sie drückte sich darin das „emotionale, politische, ethische Verständnis dafür aus, dass niemand der Nabel der Welt ist“.

Die Kunstfreunde in Nordhessen scheinen das überhört zu haben. „Kassel ist der Documenta zur Heimat geworden und heute Teil unserer Identität„, erklärte Bertram Hilgen, der Oberbürgermeister der Stadt, zum 60. Geburtstag der Documenta in der vergangenen Woche.

Was konnte der SPD-Politiker damit gemeint haben? Hatte sich Kassel zu der Weltoffenheit und Grenzüberschreitung durchgerungen, für die die Documenta steht? Oder wollte Hilgen sie zum Tool der regionalen Identitätsbildung umdefinieren?

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Few Notes from an Extellectual – 
auf dem Podium v.l.n.r. Carmen Amor, Adam Szymczyk, Hiwa K. (Foto: Holger Jenss, 2015)

Vielleicht war es auch einfach nur die Flucht nach vorn: Jahrzehntelang hatten die Bewohner der Provinzmetropole gereizt auf die Herausforderungen der internationalen Kunstavantgarden reagiert. Ob nun Walter de Maria 1977 einen „Erdkilometer“ in den Platz vor dem Kasseler Fridericianum bohrte.

Oder ob Joseph Beuys 1982 mit 7000 Eichen die „Stadtverwaldung“ Kassels in Angriff nahm. Kurz vor dem Jubiläum hatten Unbekannte in der Karlsaue den Korbinians-Apfelbaum zerstört, den Carolyn Christov Bakargiev und der Künstler Jimmie Durham 2012 zum Gedenken an den KZ-Häftling gepflanzt hatten.

Doch ausgerechnet in dem Moment, in dem „die Kasseler die documenta inzwischen lieben“ (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) denkt die Weltkunstschau ans Abwandern. Stichwort: Documenta in Athen. Das große Fest jedenfalls, dass Kassel seiner wichtigsten Kulturinstitution ausrichtete, kann nicht über die schleichende Identitätskrise hinwegtäuschen, die an ihr nagt.

Geistige Frühverrentung ist nicht so sehr die Gefahr, der sich die Documenta gegenübersieht. So wie sich die Schau bei jeder Ausgabe neu erfindet – programmatisch, organisatorisch, personell – dürfte ihr eine Zukunft weit jenseits der Rente mit 67 sicher sein. Und die Vokabel „Erfolgsgeschichte“, mit der die Schau stereotyp belegt wird, liegt rein numerisch auf der Hand.

Besuchten 1955 um die 130.000 Menschen Arnold Bodes erstes „Museum der Hundert Tage“, konnte die 13. Documenta vor zwei Jahren mit knapp 800.000 Besuchern ihren bisherigen Rekord vermelden. Selbst zur wesentlich längeren Biennale in Venedig pilgern nur rund 470.000 Kunstfreunde.

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Zu welch‘ jugendlichem Leichtsinn die alte Tante immer wieder fähig ist, hatte sich im vergangenen Jahr gezeigt, als sich Adam Szymczyk, der neue Kurator der Documenta 14, entschloss, mit der Schau nach Athen auszureißen. „Zustimmung macht schläfrig“, kommentierte der polnische Ausstellungsmacher trocken.

Im krisengeschüttelten Griechenland schien ihm Arnold Bodes Prinzip der Hilfe zum geistigen Wiederaufbau eher am Platz als ein schal gewordenes Ritual zu wiederholen: Die Pilgerfahrt ins Nordhessische, bei der sich Kunstfreunde alle fünf Jahre der Illusion hingeben, den definitiven Stand der Weltkunst zu erfahren.

Symczyk ist freilich nicht der einzige, der sich leise fragt: Was soll eigentlich noch kommen nach 13 Documentas? Die geistigen Nachholbedürfnisse der Nachkriegszeit sind befriedigt, die Aussöhnung mit der von den Nazis geschmähten Moderne hat Arnold Bode geschafft.

Mit dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann trat auf der Documenta 5 der Kurator als Künstler auf den Plan. Die Französin Catherine David revolutionierte 1997 mit der Documenta X das Kunstfeld radikal mit Film, Diskurs und Politik.

Okwui Enwezor verabschiedete mit seiner postkolonialen Documenta 11 die Hegemonie des Kanons der Westmoderne. Und den letzten Schritt ging die Documenta 13. Mit Ökologie, Feminismus, Wissenschaft und nichtmenschlichem Leben propagierte Carolyn Christov-Bakargiev einen final erweiterten Kunstbegriff.

Spätestens in Pierre Huyghes wucherndem Biotop der „Post-Art“ in der Kasseler Karlsaue, bei dem auf den ersten Blick nicht festzustellen war, was gestaltet und was schon immer da war, durch das ein Hund mit rosafarbenem Fell streifte, in dem sich die Grenze zwischen Kunst und Leben, Kunst und Natur zu verflüchtigen schien, stellte sich die Frage: Welches ästhetische Paradigma sollte eine Documenta jetzt noch durchsetzen, welche letzte Grenze auflösen?

Mit seiner Athen-Entscheidung hat Adam Szymczyk den schon mit Okwui Enwezors Diskurs-„Plattformen“ angeschobenen Trend zur Deterritorialisierung der Documenta weitergetrieben. Der Schritt war spektakulär. Weicht der Grundsatzfrage nach der Zukunft der Kunst-Großausstellungen in einer Welt mit 200 Biennalen aber aus.

Zwar kann sich Deutschland glücklich schätzen, dass es nach dem finalen Sieg von Schäubles und Merkels Austeritätspolitik gegenüber Griechenland nun – unversehens wie unverdient – über ein Symbol der kulturellen Solidarität mit der Wiege der europäischen Demokratie verfügt, das die Politik so demonstrativ verweigerte.

Zum Prinzip erhoben würde dieser Ansatz die Documenta freilich in eine Art ästhetische Rapid Deployment Force verwandeln. Die Krisenregionen der Welt, für die „Collapse and Recovery“ – das Motto, das Carolyn Christov-Bakargiev für ihren Documenta-Einsatz in Kabul wählte – mindestens ebenso gelten könnten wie für Griechenland, lassen sich jetzt schon auf der Landkarte ankreuzen.

Das Szymczyk dergleichen vorzuschweben scheint, zeigte sich auf dem Kasseler Kongress zum Documenta-Jubiläum am Wochenende. Statt eines programmtischen Schlusswortes ließ der zurückhaltende Kurator einen Videostreifen vorführen, der Szenen aus einer nahöstlichen Krisenregion zeigte: Während eine panische aufgeregte Menschenmenge unter Beschuss gerät und sich mit blutenden Beinen in Sicherheit zu bringen versucht, hören ein paar Mundharmonika-Spieler nicht auf zu musizieren.

Ganz auf Groß-Ausstellungen à la Documenta zu verzichten, nur weil sie dem schnellen Kunstkonsum Vorschub leisten, wie es Catherine David vorschwebt, scheint aber auch keine gute Idee zu sein. Die heutige Vizechefin des Pariser Centre Georges Pompidou plädierte in Kassel dafür, sich stattdessen um „kleinere Projekte in spezifischen Kontexten“ zu kümmern.

Zum Beleg für diese Strategie hatte sie eine Gruppe chinesischer Künstler um den Pekinger Installationskünstler Wang Jianwei eingeladen. Die Gruppe hat sich von Mao Zedongs „Langem Marsch“ von 1934 / 35 zu einem ästhetischen Projekt „Long March Space“ in Chinas Provinzen inspirieren lassen.

Denn Biennalen, wie auch die Documenta eine ist, buchstabieren nicht nur globale Probleme im lokalen Kontext. Sie verteilen nicht nur die „diskursive Autorität“ (Okwui Enwezor) in Sachen Kunst neu. Sie sind auch unverzichtbare „Maschinen kultureller Reproduktion“ (Oliver Marchart). Sie bündeln die öffentliche Aufmerksamkeit für relevante Themen und initiieren so gesellschaftliche Änderungen – mit ihnen arbeitet die Gesellschaft an sich selbst.

Welch grundlegenden Gestaltwandel die Kunst in diesen Maschinen durchlaufen könnte, deutete sich schon mit „Erweiterte Denkkollektive“, dem Titel der von Dorothea von Hantelmann, der Documenta-Gastprofessorin an der Kasseler Kunsthochschule konzipierten Veranstaltung an.

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Dorothea von Hantelmann. Documenta-Gastprofessorin an der Universität Kassel und Organisatorin der Konferenz. (Foto: Holger Jens, 2015)

Die Formel geht auf den polnischen Mediziner und Mikrobiologen Ludwig Fleck zurück, der als Lemberger Jude die KZs in Auschwitz und Buchenwald überlebte. Der Harvard-Wissenschaftshistoriker und Physiker Peter Galison hat dessen Idee von in Denkkollektiven ausgeprägten „Denkstilen“ zur Grundlage eines faszinierenden Cross-Over-Projekts zwischen Kunst und Naturwissenschaft gemacht.

In einem jahrelangen, gemeinsamen „Denkkollektiv“ mit dem südafrikanischen Künstler William Kentridge half er, dessen Video-Installation „The Refusal of time“ zu entwickeln, die auf der Documenta 13 gezeigt wurde. Spätestens mit diesem Projekt wird deutlich, dass die Kunst womöglich endgültig in die „Zeit nach den Beaux Arts“ eingetreten ist, die Catherine David schon 1997 vorschwebte. In ihr ist Kunst „Arbeit in der Verhandlungszone“.

Ingo Arend

Dieser Artikel erschien zuerst in: taz, 20. 07. 2015

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James LeeByars, Calling German Names (1972). Foto: Krings. © documenta Archiv

 

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