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Urs Widmer

Literaturkritiker Jörg Magenau beschreibt den Schriftsteller als lebensbejahenden Menschen

Urs Widmer habe mit seinen Erzählungen den Tod zurück ins Leben geholt und die Tragik des Todes in etwas Heiteres verwandelt, sagt Jörg Magenau über den verstorbenen Schweizer Autor. Er sei ein Meister der sinnlichen Beschreibung gewesen.

Katrin Heise: Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer ist gestern gestorben, im Alter von 75 Jahren. Neben einem sehr umfangreichen Werk – er schrieb sowohl Hörspiele, Theaterstücke als auch Romane, Erzählungen, Essays – gründete er auch den Verlag der Autoren. Dort erscheinen zum Beispiel seine Theaterstücke bis heute, bekannt ist da beispielsweise „Top Dogs“, das ist eine Sozialsatire auf Führungskräfte. Sein Debüt gab der in Basel geborene ’68 mit der Erzählung „Alois“. Auf die bekannten Werke werden wir gleich noch zu sprechen kommen, zu Gast im Studio begrüße ich nämlich den Literaturkritiker Jörg Magenau.

Jörg Magenau: Guten Tag!

Heise: Guten Tag! Kann man sagen, Herr Magenau, das war ein Leben für und in der Literatur?

Magenau: Das kann man durchaus, weil er ja im Haus eines Übersetzers schon aufwuchs, sein Vater Walter Widmer, bekannter Übersetzer. Er selbst hat auch übersetzt, unter anderem Joseph Conrad, „Reise ins Herz der Finsternis“. Er ist mit der Literatur groß geworden, mit Büchern. Heinrich Böll war Gast, Freund der Familie, Verlagsgründer, Sie haben es gesagt, Verlag der Autoren, er war 1968 Lektor bei Suhrkamp, gehörte da zu den Lektoren, die den Lektorenaufstand gegen Unseld auch mitgetragen haben. Da ging es um die Sozialisierung des Verlages und daraus ging ja dann der Verlag der Autoren erst hervor.

Er lebte dann bis ’84 in Frankfurt, war da Dozent an der Universität, Literaturkritiker auch, hat für die „FAZ“ geschrieben, und ging dann zurück in die Schweiz. Also, nach seiner Tätigkeit als Lektor bei Suhrkamp und beim Verlag der Autoren war er dann freier Autor, und das Leben mit Büchern, für Bücher, und dann vor allem sehr, sehr viele selbst geschriebene Bücher. Das ist schon bei ihm das Zentrale.

Mit dem Schreiben Leben erschaffen

Heise: Was für ihn das Schreiben, oder woraus er eigentlich sein Schreiben schöpfte, das sagte er hier im Deutschlandradio mal so:

O-Ton Urs Widmer: Ich glaube, es gibt keine Literatur, die nicht irgendwo auf einem Leid gründet. Das Leiden, der Schmerz ist natürlich nicht die einzige Quelle, sondern dazu brauchen Sie einen Mangel. Ist auch nicht genügend. Sie brauchen auch irgendwo in sich diesen seltsamen Überschuss, der die Künstler auszeichnet. Und dieser Überschuss ist Leben. Wir machen im Grunde genommen einen Dauertest, wie sehr wir selber noch am Leben sind, wie weit die Leser noch am Leben sind, und wir schöpfen, erschaffen Leben, so wie wir Schönheit erschaffen.

Heise: Urs Widmer zu seinem Schreiben. Leben erschaffen, gleichzeitig hat er sich aber auch mit dem Tod oder vielleicht deswegen immer wieder in seinem Werk mit dem Tod beschäftigt, oder?

Magenau: Der Tod gehört natürlich zum Leben dazu. Und gerade wenn man sich so intensiv damit beschäftigt, mit dieser Verwandlung von Leben in Literatur, in etwas, was gewesen ist auch an Erinnerungsstoff, dann ist der Tod integral. Und er ist bei Widmer in vielen Büchern vorhanden. Und wie alles ist der Tod auch etwas, was er in seiner Tragik, in seiner existenzialen Dimension auslotet und zugleich aber in was Heiteres verwandelt.

Das kann man zum Beispiel sehen in dem Buch in dem „Buch des Vaters“, 2004 erschienen, in dem er über seinen Vater schreibt, teils autobiografisch. Und da gibt es ein Dorf, aus dem dieser Vater in dem Roman kommt, in den Alpen, das sich dadurch auszeichnet, dass die Bewohner, wenn sie geboren werden, einen Sarg vor die Tür gestellt bekommen. Und der steht dann da als lebenslanges Zeichen der Sterblichkeit der Menschen. Und nach dem Tod des Vaters reist der Sohn dorthin und will diesen Sarg abholen und stellt dann fest: Das Dorf ist irgendwie durchsaniert und da kommen jetzt die Japaner und machen Fotos und dann würden die Särge stören. Also, das Wegdrängen des Todes aus dem Leben ist da auch ein Thema, und er holt das mit seinem Erzählen immer wieder zurück.

Eines seiner letzten Bücher, „Herr Adamson“, 2009 erschienen, das liest sich von heute aus fast schon wie ein Abschiedsroman. Da entwirft er einen Ich-Erzähler, eben dieser Herr Adamson, der 94 wird, zu alt, wie er sagt, um noch alle Kerzen auf dem Kuchen unterzubringen. Und der hat Geburtstag im Jahr 2032, genau an Widmers Geburtstag, er sieht auch aus wie er, ein alter Mann mit zerzaustem Haar und großem Schnauzbart. Und der begegnet, an seinem Geburtstag kriegt er dann ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Gute Reise“, er bekommt Brot und Wein als Wegzehrung geschenkt, der Tod ist schon da, er geht aber in den Garten und erinnert sich seiner Kindheit und eines Lebens, das mit einem Toten parallel geführt wird. Die Konstruktion ist, dass jeder, der auf die Welt kommt, in dem Augenblick stirbt ein anderer und die beiden sind dann Partner, die gehen gemeinsam durch. Und diesen einen Toten kann man sehen, mit dem kann man reden. Also, dieser Ausflug ins Fantastische, das gehört auch immer zu Urs Widmer.

Die Reibung zwischen Fantasie und Wirklichkeit

Heise: Das hört sich, wenn Sie so schildern, wie er mit Tod, mit Leben und Tod umgegangen, überhaupt nicht dramatisch, sondern leichtfüßig an!

Magenau: Das ist seine große Kunst, und überhaupt immer das Zusammenkoppeln von Gegensätzen, wenn er schreibt. Es gibt immer das Tragische und das Komische, das ist aber immer etwas, was zusammenhört, das Sterben-Müssen, aber eben auch das Verwandeln des Todes in etwas Leichtes, in Leben. Das gehört dazu. Und genauso das Fantastische und das Realistische, also dass er sehr genau sinnliche Eindrücke beschreibt. Zum Beispiel „Der blaue Siphon“, eines seiner berühmtesten Bücher, da geht es um eine Flasche, die dann beschrieben wird auch in ihrer Konkretheit, und gleichzeitig ist sie das Tor für Erinnerung, für Fantasie, für eine andere Welt, in die der Erzähler dann eintritt. Also, es gibt immer die exakte, sinnliche, genaue Beschreibung, das kann er sehr gut. Aber schon während er das tut, ist man eigentlich in einer ganz anderen fantastischen Welt. Dieser Übergang zeichnet ihn aus.

Er hat auch mal gesagt: Ich bin zuweilen damit beschäftigt, mir in meinem Leben drin etwas Schönes vorzustellen, Bäume oder Ozeane oder Luft oder Liebe, weil es da, wo ich wohne, irgendwie nicht immer schön genug ist, zu wenig Bäume und Ozeane und Luft und Liebe. Das, was ich mir vorstelle, schreibe ich zuweilen auf, und gleichzeitig kommt es mir so vor, als bekäme ich die sogenannte Wirklichkeit auf diese Weise oder wieder besser in mein Gesichtsfeld, weil sich das Erwünschte fühlbar an ihr reibt. Und darum geht es bei ihm, um diese Reibung zwischen dem, was er an Schönem in die Welt stellt, und der Wirklichkeit, die nicht so schön ist, wie sie sein könnte. Und deshalb gibt es die Literatur. Und das sind die Qualitäten, die Urs Widmers Bücher auch außerordentlich liebenswert machen.

Heise: Sagt Jörg Magenau, der uns noch mal ein bisschen auch in das Werk einfühlen lässt zum Tode eben von Urs Widmer. Nennen Sie noch mal so ein paar seiner wichtigen Bücher. Oder das, was Sie sagen, das sind dann doch die wichtigsten?

Magenau: Das bekannteste war vielleicht „Der blaue Siphon“, den ich gerade genannt habe, eines der für mich schönsten ist „Liebesnacht“ von 1982, da geht es um eine Gruppe von Aussteigern auf dem Land, die sich eine Nacht lang treffen und sich Geschichten erzählen über ihre erste große Liebe im Leben und über ihre letzte große Liebe. Und dann heißt es im Nebensatz: Und alles, was da zwischen war! Diese kleinen, vertrackten Zwischensätze, die gehören auch zu Urs Widmer dazu. Sehr gut gefällt mir auch „Das Buch des Vaters“, 2004 erschienen, und aus dem Jahr 2000 das Mutter-Buch. Diese beiden autobiografischen Portale, das sind auch die Bücher, die ihn wirklich bekannt gemacht haben, „Der Geliebte der Mutter“ hieß das, 2000, das war ein Buch, das im „Literarischen Quartett“ damals ganz hoch gelobt wurde und das deshalb auch zu seinem größten Verkaufserfolg geworden ist.

Der Sprache hinterher eilen

Heise: Autobiografische Portale, sagen Sie, weil man so ganz sicher ja nie war?

Magenau: Ganz sicher kann man bei ihm nie sein, weil es immer den Umschlag in Fiktion und Fantastik gibt und weil es bei ihm auch das Primäre des Sprachlichen gibt. Er hat auch mal gesagt, der Stoff interessiert mich eigentlich gar nicht so sehr, sondern die Form und die Sprache. Die Sprache ist mein Feind, den muss ich besiegen, weil alles, was man sagt, was man erzählen möchte, immer nicht das ist, was man eigentlich ursprünglich wollte. Der Erzähler läuft dem immer hinterher, die Sprache ist nie da, wo sie hinzielt. Und je genauer, je feinfühliger man mit der Sprache umgeht, umso genauer weiß man das auch.

Es gibt auch noch ein sehr schönes Buch von ihm, „Liebesbrief für Mary“, ein Erzähler, der nach Australien reist, seiner Geliebten hinterher, die dort mit einem Tankwart zusammenlebt, sie dann zwar sieht, aber nicht besucht und ihr stattdessen einen sehr langen Brief schreibt. Und dieser Brief kann aber natürlich auch nicht ausdrücken, was er wirklich will. Er will sie zurückholen. Und da sieht man, wie Sprache vorläufig ist dem, was gesagt werden will, wie der Erzähler hinterhereilt. Und damit hat Urs Widmer sein ganzes Leben lang zu tun gehabt und deshalb entsteht ja schließlich auch Literatur.

Heise: Sagen Sie, hat er sich auch an seiner Heimat, der Schweiz, abgearbeitet, wie das so viele tun?

Magenau: Er ist natürlich ein dezidiert Schweizer Autor und ist neben Frisch und Dürrenmatt zu nennen. Er ist einer, der wie alle Schweizer Autoren ein sehr liebevoll-kritisches Verhältnis zu seiner Heimat hatte.

Heise: Und die Schweizer zu ihm eigentlich? Nicht sehr kritisch?

Magenau: Die Schweizer auch zu ihm, aber er ist ja doch einer, der alle Widersprüche, die da sind, erstens als existenzielle Widersprüche beschreibt und nicht so sehr als politische – ich würde ihn nicht als politischen Autor sehen –, und zweitens der sie eben wieder ins Heitere, ins Versöhnliche, ins Schöne aufbaut. Die Welt schöner zu machen, als sie ist, das ist ja sein Grundtenor, wie er gerade auch in dem O-Ton sagte. Der Mangel ist da, aber wir können ihn verwandeln.

Heise: Ursula März schrieb im Dezember in der „Zeit“, Urs Widmer sage, er habe seine Geschichten auserzählt. Würden Sie sagen, er hat sich vorbereitet?

Magenau: Sie waren damit zu Ende erzählt, das kann durchaus sein. Er hat ja auch in den letzten zehn Jahren eben diese autobiografischen Stoffe, Vater, Mutter und dann auch er selbst als Zwerg in einem Romantitel, das letzte Buch war auch ein autobiografisches Buch. Wobei man da immer sehr vorsichtig sein muss, weil eben viel Erfindung auch mit drinsteckt. Aber das kann durchaus sein, dass er mit diesem Stoff des Lebens, seines Lebens tatsächlich zurande gekommen ist. Und dieser Herr Adamson, der eben dann doch schon älter ist, als Kerzen auf den Kuchen passen, vielleicht passt das auch zu Urs Widmer.

Heise: Zum Tode von Urs Widmer, gestern verstarb der Schweizer Autor. Jörg Magenau, danke schön für diesen Rückblick auf diesen Literaten!

Magenau: Bitte sehr.

 

BEITRAG HÖREN
Deutschlandradio Kultur vom 03.04.2014

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Jörg Magenau, Deutschlandradio Kultur 03-04-2014
Moderation: Katrin Heise

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. (Deutschlandradio Kultur)

Bild: Urs Widmer; CC BY-SA 3.0 Dontworry