Francesco Rosis Weg von der Recherche zur Oper

I.

Ein großer, vielleicht ein wenig gespenstischer Augenblick des Kinos: An drei schmalen Häusern innerhalb von Montelepro hat man ein großes Leintuch aufgehängt, das Falten wirft und nicht ganz sauber ist. Männer und Frauen stehen auf dem Platz. Ein paar sitzen auch auf Stühlen. Die älteren haben ihr Haupt mit Mützen und Kopftüchern bedeckt. Aber heute Nacht gibt es nicht das übliche Dorfkino-Spektakel. Auf der Leinwand ist, größer und beängstigend, die eigene Welt zu sehen, das sizilianische Bergdorf, aus dem Salvatore Giuliano, der Bandit, stammt. Als Francesco Rosis Film SALVATORE GIULIANO die Szene erreicht hat, wo der Bandit, getroffen von den Kugeln des mutmaßlichen Mörders, seines früheren Adjutanten Gaspare Pisciotta, verblutet, löst sich ein Schrei aus der Menge: „Non e vero! Non e vero!“.

Die Szene stammt aus einer Zeit, in der das Kino und die Wirklichkeit sich noch verstanden, weil die Wahrheit noch verstanden werden konnte als die wirklichen Taten von Menschen, mochten sie zunächst auch verborgen und von einer „Mauer des Schweigens“ geschützt sein. Es war also zumindest denkbar, daß Filme sich auf wirkliche Taten von Menschen auswirkten. Jedenfalls drehte Francesco Rosi in den sechziger Jahren Filme, die nicht nur eine neue „Poesie“ der materialistischen Recherche begründeten, sondern auch die ideale Vorstellung von Aufklärung erfüllten, auch in Handlung umzuschlagen. Immerhin wurden nach den Aufführungen der Filme Parlamentsausschüsse ins Leben gerufen, es wurden polizeiliche Sonderkommandos gebildet, Politiker hielten flammende Reden gegen Mafia und Korruption, und die Zeitungen begannen, anderes über die Zusammenhänge von Verbrechen und Politik zu berichten. Die Form der Recherche war der einzige mögliche Weg, der politischen Wahrheit in einer Gesellschaft auf die Spur zu kommen, die nicht von starken Machtblöcken, sondern von wechselhaften Allianzen in einem „unveränderlichen“ Zustand gehalten wird. Polizei und Verbrecher bekämpfen einander, aber ein Teil des Verbrechens und ein Teil der Polizei kann sich jederzeit verbünden, um jemanden zu beseitigen, der das Gleichgewicht der Kräfte verletzt. Die verschiedensten politischen Gruppierungen und Parteien sind untereinander koalitionsfähig; der Faschismus bedient sich Verbündeter in Wissenschaft, Politik und Verbrechen. Selbst die Kommunisten sind zu ihrem „historischen Kompromiß“ gelangt, in Ansätzen längst bevor es den Namen und die offizielle Politik dafür gab. Diese Koalitionsfreiheit aller politischen Kräfte schafft eine brodelnde statt einer steinernen Macht, eine Macht, deren innere Widersprüche ständig zutage treten und die ständig Opfer fordert, eine Macht aber auch, die gerade durch diesen ständigen Wandel besondere Stabilität erlangt.

Die horizontalen und vertikalen Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft, Militär, Verbrechen und Kirche gibt es in allen Ländern, in denen eine bürgerlich-industrielle Gesellschaftsform über eine traditionelle Agrarkultur obsiegt, deren Reste sie zwar weiterhin ausbeutet, sie aber nicht mehr wie die feudalistische Struktur in einem gewissen Umfang auch zu schützen vermag. Aber selten haben sie sich so geografisch eindeutig manifestiert. Der Süden Italiens war und ist geprägt von den verschiedenen Formen des Verbrechens, die gleichzeitig und nebeneinander bestehen, auch sie in den entsprechenden Situationen miteinander koalitionsfähig. Eine Veränderung der Situation ergibt sich fast stets als eine neue Form der Verelendung.

Rosis Filme beschreiben diese Situation nicht, sie dringen in sie ein. Zunächst geschieht das ganz direkt: Die Dreharbeiten werden dort durchgeführt, wo einer der „sozialen Schlüsselfälle“ (Rosi) Ausgang oder Abschluss gefunden hat. Der Regisseur bemüht sich, Betroffene sich selbst spielen zu lassen. Die Bewegung des Films ist die der Rekonstruktion, des Zusammenfügens von Fakten, weniger wie ein Detektiv Fakten zusammenfügt, um einen Schuldigen zu überführen, eher wie jemand, der sich nicht länger mit den falschen Legenden zufriedengeben mag und in seinen Filmen eine Macht demonstriert, die möglicherweise nicht die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen in der Lage ist, die schützende Legende aber nicht mehr sein lässt. Man kann wie Rosi die Verbindungen zwischen Politik und Verbrechen betrachten, ohne einen neuen idealistischen Mythos über der unlösbaren Vereinigung des Widersprüchlichen zu errichten. Das aber kann, gewissermaßen, nur geschehen, solange man in Bewegung bleibt. Nicht die Wahrheit, sondern die Suche nach der Wahrheit ist es, die dem Schweigen und der Legende gefährlich werden kann.

Rosis Methode ist materialistisch, aber nicht in jedem Fall dialektisch. Sie beschreibt die „unterirdischen“ Verbindungen ausgehend von einem jener Punkte, an denen sie für den Augenblick sichtbar werden, an denen die strukturelle Gewalt in einen manifesten Ritus umschlägt. Denn auch dies will uns ja die Augen schließen, dass der Mord so sehr als Ritus erscheint, als Vollzug einer wenn auch bösen, so anders doch auch heiligen Handlung, und die Verschwörung findet in den weinenden Müttern eben zu keinem Abschluss, sondern wird durch sie fortgesetzt. Die Morde, je grausamer, körperlicher und ritueller, desto mehr, verbergen ihre politische Ursache. Zunächst ist da stets die Legende von dem „persönlichen Motiv“, die erst durch beharrliches Zusammenfügen der Fakten in Frage gestellt werden kann. Aber sie ist nicht einfach zu entkräften, denn je mehr Fakten sich darstellen, desto mehr sind da auch wirkliche Menschen mit wirklichen Leidenschaften. Die Menschen und die „Politik“ gehen nicht vollständig ineinander auf. Nur gilt es, das System dieser (mindestens) zwei Wahrheiten vom Kopf auf die Füße zu stellen: Das wirtschaftliche Interesse ist der Leidenschaft stets vorgeordnet. Man schweigt nicht aus Tradition, sondern aus Furcht, und dann erst webt man die Legende; der Tomatenhandel ist wichtiger als die Liebe; die Macht der Kollektive ist größer als die Macht der einzelnen. Mit der Konzeption einer Montage des Faktischen, die die Gewalt der Interessen hinter der Gewalt der Körper sichtbar macht, schuf Rosi einen Film, der eingreift. LA SFIDA (1958) war fertig, als der Prozess gegen Assuata Maresca und Gaetano Orlando eröffnet wurde, die vor dem Hintergrund der Umstrukturierung der neapolitanischen Camorra auf dem Gebiet des Gemüse- und Obstzwischenhandels zu Mördern geworden waren. In LE MANI SULLA CITTÀ (1963) zeigt er, wie parlamentarische Untersuchungsausschüsse zur Farce werden, wenn sie – zum Beispiel – von der monarchistischen Rechten und der DC sabotiert werden, zu einer Zeit, da eben solche Ausschüsse gebildet werden sollten. Seine Helden sind stets weniger faszinierend als ihr Hintergrund; und stets gelingt es ihnen nicht, etwas anderes als Repräsentant der Verhältnisse zu sein. Vito in LA SFIDA ist der Repräsentant des Verlustes an Einfluss, den die Camorra auf die Bauern hat. Seine Liquidation ist ohne praktische Bedeutung. Der Mord bezeichnet eher die Ohnmacht als die Macht der Organisation gegenüber dem Kapital, das zunächst die Ausbeutung der Bauern übernimmt. Durch diese Repräsentanz aber wächst ihnen doch noch eine weitere Qualität zu. Schon vom Schluß von LA SFIDA hat man behauptet, er sei „opernhaft“.

Dies ist zunächst ein merkwürdiger Widerspruch, der sich durch die Entwicklung von Rosis Regie-Stil zieht. Aus der Recherche zu den Machtverhältnissen wird die Film-Oper; und weil kein Mensch in der Politik aufgeht, erscheinen schließlich doch wieder die beiden Opern-Elemente auf dem Bild: das Schicksal und die Leidenschaft.

So besehen hätte der Neorealismus, von dem Rosi von Beginn an sich abhebt, den scheinbar natürlicheren Weg zwischen Materialismus und Oper gefunden, indem er sich dem Alltag der kleinen Leute nähert, um ihnen eine verlorene Würde wiederzugeben.

Rosis Blick auf diese „kleinen Leute“ scheint zunächst von einer gewissen Kälte. Sie ist die notwendige Konsequenz aus der Betrachtung der Verhältnisse, denn sie sind nicht nur die Menschen, die die Machenschaften der Mächtigen erdulden, sie sind es auch, die sie geschehen lassen, die sie erst ermöglichen. Nottola, der profitgierige Spekulant, der seine Verbündeten überall, von der Politik bis zum organisierten Verbrechen, findet, ist so sehr Repräsentant der apathischen, unbewussten Haltung der Neapolitaner wie Salvatore Giuliano der Repräsentant der Ohnmacht der Bauern ist. Wie aus der materialistischen Recherche (eine der wenigen Arten, Politik im Film nicht nur darzustellen, sondern zu entwickeln) immer als mehr oder minder natürliches Derivat das Opernhafte entsteht, so verlagert sich auch im Laufe der Arbeit Rosis Interesse von den Tätern auf die Opfer. Aus der Frage, wie Macht und Gewalt sich entfalten können, wird die Frage, wie und warum Menschen sie erdulden, ohne sich zur Wehr zu setzen. Oder genauer: gibt es eine Struktur des Denkens, Handelns und Fühlens, weit unterhalb dessen, was gesellschaftliche Kräfte als manifeste Gewalten in Konkurrenz und Koalition miteinander schaffen, und wie ist diese Struktur der natürlichen Gewalt mit der politischen Gewalt kongruent?

Diese Fragestellung führt Rosi von der Politik zum Mythos, von LE MANI SULLA CITTÀ zu CRISTO SI E FERMATO A EBOLI. Rosis Filme der sechziger und frühen siebziger Jahre haben einen Gegenstand (organisiertes Verbrechen in Italien, Korruption, der Zugriff von Kapital und Verbrechen auf den archaischen Süden) und eine Methode (die materialistische Montage, die Inszenierung des Kollektivs, die Choreographie sozialer Bedrohung). Der Film, der eine Recherche wiedergibt anstelle einer Konstruktion, wird zum eingreifenden Film, wo die Authentizität der Zeit, des Ortes und der Menschen am größten ist.

So eingreifende Filme Wie LA SFIDA, SALVATORE GIULIANO und LE MANI SULLA CITTÀ hat Rosi nicht mehr drehen können, selbst dort, wo Gegenstand und Methode erneut übereinstimmten (LUCKY LUCIANO), oder wo das Eingreifen-Wollen geradezu mit Händen greifbar ist (CADAVERI ECCELLENTI). Aber sicher haben sich Rosis Gegenstand und seine Methode geändert nicht allein deshalb, weil sie sich selbst und weil sie den Autor erschöpften. CADAVERI ECCELLENTI ist der Höhepunkt und der Abschluss einer Bestimmung der Macht. In diesem Film fällt der Satz, dass die Wahrheit nicht immer revolutionär sei. Ein Satz, der, da er von einem Kommunisten gesprochen wird, zunächst auf den historischen Kompromiss deutet. Sodann ist gesagt worden, Rosi habe die Kommunisten vor der Provokation durch die Rechtsputschisten warnen wollen. Aber über dies hinaus ist es der Satz, der das Scheitern von Rosis Methode belegt, ein Scheitern, das nicht in der Entwicklung des Künstlers allein begründet ist, sondern auch in den Veränderungen in der Kultur des Wahrnehmens, insbesondere in der Geschichte der Wahrnehmung von Politik.

Waren in der materialistischen Montage die Menschen, ihre Interessen, ihre Taten die Wirklichkeit, und das Bild, die Montage, der Ausschnitt mutig und klar so zu wählen, dass diese Interessen und Taten sichtbar würden, so verändert sich, weil nichts sich verändert durch den Blick auf die Taten und Interessen, entscheidend die Vorstellung der Wirklichkeit. Noch war dabei der Boden (oder der Himmel) des Materialismus nicht gänzlich verlassen. Aber indem Rosi den Blick öffnete für Historie, für den Mythos, für die Leidenschaft, indem er zu den Taten die Gedanken fügte und indem er die Ursachen für das Elend in konkreten Taten allein nicht mehr ausfindig machen konnte, mussten seine Bilder an Klarheit verlieren und das vergangene oder vergehende Kollektiv zur Legende werden.

Der frühe Rosi sprach über die Macht, der späte über die Ohnmacht; der frühe Rosi sprach über das Verbrechen, der späte über die Gewalt. Dabei sind zweifellos Filme wie TRE FRATELLI und CRISTO SI E FERMATO A EBOLI politische Kunstwerke, aber es sind Filme der Klage, und sie tragen insofern unserer veränderten Wahrnehmung Rechnung, als sie eine innere Wirklichkeit miteinbeziehen, in der die Menschen gleichsam mit ihrem Hintergrund verschmelzen wollen, der umgekehrt zu einer „Erklärung“ für ihr passives Leiden wird.

Für Rosi werden die Rituale wichtig, die ihn immer wieder in die Nähe zur Oper führen, von seinem Stierkämpferfilm IL MOMENTO DELLA VERIT4 (1964) über den Opernfilm CARMEN (1983) bis zu CRONACA DIUNA MORTE ANNUNCIATA (1987), wo es die unauflösliche Einheit von Liebe und Tod gibt und in ihrer Darstellung die größtmögliche Ferne von Politik und Materialismus.

Der Francesco Rosi der Oper war schon stets in den Filmen der materialistischen Montage gegenwärtig; umgekehrt ist aber auch der Materialist in der Oper nicht verschwunden. Und es setzt sich bis in seine letzten Filme fort, daß die Dinge nicht aufgehen; entscheidende Fragen, und nicht zuletzt die nach der „Schuld“ im Sinne der Verbrechenssühnung, bleiben stets offen.

II.

Das Scheitern der Methode Rosis (oder ist es eine Transponierung?) hat eine lange Geschichte. Sie wäre zu umschreiben als Verlust eines Subjektes, als Verlust von Menschen, einer Kultur, die sie anzuwenden verstünde. Die materialistische Recherche findet noch in zwei Filmen ihre präzise und poetische Anwendung, in lL CASO MATTEI (1971) und in LUCKY LUCIANO (1973). In ihnen verwirklicht Rosi noch einmal seine eigene Einheit von Politik und Film: „Ich glaube, mein Interesse an diesen Dingen leitet sich von der Tatsache her, dass wir in Italien die Demokratie ziemlich spät erobert haben, dass diese Eroberung im Grunde noch andauert und somit jeder von uns an dieser Eroberung im täglichen Leben teilnimmt. Das heißt, ich muß diese Filme einfach deshalb machen, um teilzunehmen an der Entwicklung der Gesellschaft, in der ich lebe.“ Jeder seiner Filme ist also ein Modell für das Teilnehmen und das Eingreifen, ist eine „Übung“ im Kampf um die Demokratisierung, was gerade dadurch ermöglicht wird, daß die Recherche nicht zu der politischen oder menschlichen Wahrheit führt, sondern zu einer (und die Möglichkeit zu anderen Wahrheiten, die wir nun, an einem bestimmten Punkt der künstlerischen Demokratisierung, auch „Ergebnisse“ nennen können, ist in diesen Filmen stets mit vorhanden). Zum Modell für die Demokratisierung werden die Filme auch deshalb, weil der Film keine Recherche zeigt, sondern selber eine ist. Damit delegieren die Filme Rosis den Anspruch und die Kraft, die Untersuchung über die Macht anzustellen, mit der jede Demokratie beginnt (und mit deren Unterdrückung, wie wir erfahren, sie versinkt), an das Publikum, ans Volk.

Ein entscheidender Bruch mit dieser Methode deutet sich schon frühzeitig an. In IL CASO MATTEI begegnen wir der Person des Regisseurs selbst als Rechercheur; in LUCKY LUCIANO gewinnt der Fahnder Siragusa zunehmend Kontur, und in CADAVERI ECCELLENTI begleiten wir Inspektor Rogas auf seiner Suche nach den Zusammenhängen. Zwar versteht es Lino Ventura, diese Figur frei von dem moralischen Identifikationsmuster zu halten, das die Recherche an eine Autorität bindet (um ihr damit die Funktion der Demokratisierung zu rauben). Er hat eine ausschließlich professionelle Identität. Aber indem wir auf der Leinwand gewissermaßen einem Stellvertreter begegnen, ist uns ein Teil unserer Macht (und nebenbei: Rosis Filmen ein Teil ihrer materialistischen Poesie) genommen.

Die Einführung eines Stellvertreters als moralischen Puffer offenbart ein Problem in Rosis Methode, das solange keines war, solange der Zuschauer einen wirklich demokratischen Zugriff zu den montierten Fakten hatte. Nun aber wird deutlich, daß der Endpunkt der Recherche nicht die politische Begrifflichkeit, sondern die emotionale moralische Revolte ist. Die aber ist nur möglich, solange es dafür ein Subjekt gibt. Dies könnte nur „das Volk“ sein (denn eine „Klasse“ ist nicht moralisch), das der Neorealismus als prinzipiell „gut“ ansah. Rosi hingegen hat dieses Volk von Beginn an weniger mythisch gesehen; er zeigt seine Kraft und verzweifelt an seiner Apathie.

So zeigt er es etwa in UOMINI CONTRO (1970) als Opfer eines Krieges, in dem es nichts zu gewinnen hat, wie er es in I MAGLIARI (1959) als Opfer der Armut zeigt. Der Süden, das Volk ist Opfer des Nordens, der Herrschaft, und es ist zugleich sein eigenes Opfer, denn es weiß sich nicht zu einigen, weiß die Gewalt nicht zu richten, die in den späten Filmen als sinnloses Ritual der Selbstbestrafung erscheint.

Diesem politischen und künstlerischen Dilemma entkommt Rosi in den beiden Filmen IL CASO MATTEI und LUCKY LUCIANO, die so etwas wie Gegenstücke zu SALVATORE GIULIANO und LE MANI SULLA CITTÀ darstellen, indem er sein Thema von der Verbindung von Verbrechen, Wirtschaft und Politik international ausweitet. In diesen Filmen ist der Tod am wenigsten bizarr, am wenigsten rituell. Lucky Luciano und Enrico Mattei sind beides internationale Manager (und werden nicht zufällig von Gian Maria Volonte in derselben Art verkörpert, als Menschen, die kein „privates“ Interesse zu haben scheinen). Der Grad der Abstraktion hat seinen Höhepunkt in CADAVERI ECCELLENTI erreicht, wo es nichts anderes als Verschwörungen mehr zu geben scheint, in die fast zufällig auch wirkliche Menschen verwickelt sind. An diesem Punkt (in Italien erschüttern tatsächlich die Versuche des Rechtsputschs das kaum gefestigte demokratische Selbstvertrauen; an diesem Punkt ist tatsächlich das Interesse an der Aufklärung politischer Verbrechen erloschen; an diesem Punkt ist tatsächlich offengelegt, dass es die „Gruft“ unter Italien gibt) verlässt Rost nicht nur das „cinema di denuncia“ und wendet sich der anderen, der nicht – oder anders (rituell statt politisch) öffentlichen Seite der Gewalt zu, er begibt sich auch der Möglichkeiten der materialistischen Montage. Etwas ist in Rosi vorgegangen. Etwas ist in der Politik vorgegangen. Etwas ist in der Filmkunst vorgegangen (etwas, nebenbei, das an unsere eigene Wahrnehmung, die Nicht-Wahrnehmung in Filmen, die Unfähigkeit zur Politik rührt). Denn die Methode Rosis, die er ganz offensichtlich nicht ohne Verzweiflung und ganz offensichtlich nicht, liest man die Interviews seit dieser Zeit, ohne eine gehörige Portion Selbstbetrug beiseite gelegt hat, ist auch von niemand anderem weiter benutzt worden. Ist unsere Herrschaft unrecherchierbar geworden? Oder hat die Recherche nur die banale Feststellung zutage gefördert, dass es neben den Koalitionen der Macht auch Koalitionen der Gefühle gibt?

Das Motiv der Suche bleibt merkwürdigerweise in den Filmen Rosis erhalten, ebenso wie gewisse Bild-Konstellationen, die in der materialistischen Montage eine eindeutige Aussage hatten (etwa der Kreis, der um ein Opfer gebildet ist, der Tod als Fluchtpunkt für den, der in einer „absurden“ gesellschaftlichen Situation seinen Platz verließ, das bizarre Ritual des Mordens, die Choreographie des Kollektivs und ihre „Explosionen“ etc.). Aber beschrieben wird nun das Innen statt des Außen, und die materialistische Recherche (die zweifellos auch auf dieses Innen anzuwenden ist, wie die Tavianis es gelegentlich betreiben) weicht der Suche nach etwas Verlorenem, nach dem verlorenen Gefühl, der verlorenen Leidenschaft, dem verlorenen Ritus, dem verlorenen Italien.

Moral und Politik werden nun zum Gestus; zum Mythos, der die Suche vor allzu neugierigen Beobachtungen schützt. In CADAVERI ECCELLENTI stellt Rosi die bürgerlichen Interieurs aus, wie um zu zeigen, daß auch sie ihre Rolle spielen im Geflecht der Macht. Zugleich zeigt er sie wie Teile von etwas Vergangenem. Danach verwandelt sich radikal (wenn auch kaum „sichtbar“) Rosis Haltung zur Landschaft. War sie vorher die archaische Gebieterin über das materielle Leben ihrer Bewohner und damit eine der Erklärungen für das Elend der Menschen, so ist sie nun das verlorene gewaltige Ereignis der Natur, das einzig offene noch.

In TRE FRATELLI ist die Mutter gestorben, das ist das alte Italien. An ihrem Grab versammeln sich die auseinanderstrebenden Kräfte der Opposition, oder, um es in Zusammenhang mit Rosis anderen Filmen zu sehen: die verbliebenen Anwälte der Demokratisierung, der (immerhin noch) liberale Jurist, der Gewerkschafter, der Sozialarbeiter. Mit der Macht sind sie nur noch gewissermaßen mythisch oder schlimmer: pädagogisch befasst, während sich ihre wirklichen Probleme, unbarmherzig, in ihnen selbst und in ihrem Gegeneinander zeigen.

Längst hat Italien ein Wirtschaftswunder hinter sich, längst ist es zur Gewohnheit geworden, das kulturelle und ökonomische Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden öffentlich zu bekämpfen, die Europäische Gemeinschaft und das Fernsehen haben Unterschiede verwischt, die demokratischen Rechte sind ausgeprägter als in den meisten Ländern ringsum. Das Ergebnis ist: die Verhältnisse sind so noch sehr viel komplexer geworden, während die Apathie nun ein völlig anderes Gesicht hat. Die wirkliche Demokratisierung, schon gar eine, in der marxistische Hoffnungen aufgehoben wären, ist ferner denn je. Zur gleichen Zeit sind die alten Strukturen, die Traditionen, die Mythen, die Riten des Zusammenlebens, zerschlagen worden. Wie die Macht sich aus Koalitionen zusammensetzt, ob die Mafia in den Vatikan hineinregiert oder umgekehrt, das ist ein aufregendes Spektakel, zwischen DALLAS und QUELLI DELLA NOTTE. So bleibt, wie in TRE FRATELLI angedeutet, nur die Frage nach der Verantwortung des einzelnen. Und unterhalb der Ebene der Beschreibung von Verantwortung und wieder, wenn man so will, Recherche (CRISTO SI E FERMATO A EBOLI) lebt eine Sehnsucht auf nach der Vergangenheit, nach dem alten Elend, das wenn nicht „besser“, so doch in jedem Fall „schöner“ war als das neue Elend, das Elend der Medien-Freßsucht und der Atomisierung. Denn während in den Städten das Proletariat, die organisierte Arbeiterschaft mit einer eigenen Kultur und eigenen Formen des Widerstands verschwindet, wird auf dem Lande etwas anderes, ein größerer Tod spürbar; der Tod des „Volkes“, auf das allein eine Methode wie die Rosis bezogen sein konnte, solange er auf der Vorherrschaft des Gefühls vor der Politik (die vielleicht tatsächlich so wenig existiert wie ihr Gegenbild) beharrt. Die eigentliche Schönheit in TRE FRATELLI liegt unterhalb, jenseits des Diskurses. Aber sie ist zugleich auch ein Gegenmittel gegen die Resignation, gegen etwas noch Schlimmeres: die Angst. In TRE FRATELLI und im EBOLI-Film verteidigt Rosi den Rechercheur, den intellektuellen Opponenten, gerade, indem er seine Schwächen zeigt, seine Ängste. Er verteidigt ihn auf eine listige Art, indem er zurückverweist auf Natur und Geschichte. Und er wird dabei konservativ, so wie notgedrungen die Oppositionsbewegungen in der aktuellen Situation, der sich zersetzenden Gesellschaft und der Produktion auf den Tod, konservativ werden, im schlimmsten Fall schwärmerische Ideologie des alten Elends.

Dieser Weg zurück ist ebenso notwendig wie er voller Gefahren steckt. Rosis Filmsprache, in TRE FRATELLI und EBOLI noch ausgesprochen diszipliniert, hört auf, materialistisch zu sein. Die Bilder wollen sich verlieren in einer Allgemeinheit, in einer Welt der end- und geschichtslosen Natur, in einem Traum, während sich die Personen verzweifelt dagegen wehren, den Rest ihres Bewusstseins, den Rest ihres Selbstverständnisses zu verlieren. Es ist vergeblich.

In CARMEN und in CRONACA DI UNA MORTE ANNUNCIATA hat sich Rosi in einen nur noch geträumten Süden begeben, in dem er gegen die Schimären einer allgemeinen „Gewalt“ kämpft, die aus einem Volk kommt, das immer noch in einer alten, vergangenen Weise gelähmt ist. Aber diese archaische Form der Gesellschaft, in der die Gewalt nicht Ausdruck des Interesses, sondern des reinen Rituals ist, ist durch und durch künstlich, und es wäre ein schreckliches Missverständnis, glaubte Rosi, glaubten wir, dort den Ursachen, dem Beginn oder auch nur dem Abbild gesellschaftlicher Gewalt zu begegnen.

Rosi weiß diesen Opern-Süden auch nicht wirklich zu gestalten. Entsprechend „schlampiger“ werden seine Bilder, entsprechend überwältigend versucht er seine Landschaft zu präsentieren, entsprechend überlässt er den Kunstmenschen, den Stars das Feld. Die Montage gleicht sich noch mehr der Oper an. Sie will in Akte und Aufzüge gliedern, läßt die „Arie“ zu wie den Chor. In CRONACA DI UNA MORTE ANNUNCIATA taucht, fast wie ein Zitat aus SALVATORE GIULIANO, mehrfach das Bild der Menge auf, die sich im Kreis um den bizarren Leichnam gruppiert. So schließt sich auch ein weiterer Kreis. Der Tod im Süden erfährt seine Apotheose im Ornament des rituellen Mordes.

III.

Es ist ein leichtes, Francesco Rosis Filme, die Konstruktion und Dekonstruktion seiner Methode als Folie über die Entwicklung der linken Opposition (und der linken Ästhetik) zu legen: der Einfluss der populistischen Linken während seiner Zeit als Drehbuchautor und Regieassistent, der noch bis in das melodramatische I MAGLIARI spürbar ist; die Aufbruchstimmung und Formierung der Linken zu der Zeit von SALVATORE GIULIANO und LE MANI SULLA CITTÀ; die Zeit des Zurückdrängens und der Ernüchterung, in der Rosi IL MOMENTO DELLA VERITA und C’ERA UNA VOLTA (1967) drehte, eine offensichtlich durch die Produktion verdorbene historische Fabel aus dem Süden; die Neuformung der Linken unter dem Zeichen der Militanz und der radikalen Absage an die offene Volksfront (UOMINI CONTRO); der Einfluß der neuen Linken und des Internationalismus (IL CASO MATTEI, LUCKY LUCIANO), auf die die Reaktion folgte, die Entwicklungen des Terrorismus und der staatlichen Gegengewalt, begleitet vom Anstieg der Neuen Rechten, was zu CADAVERI ECCELLENTI führte; die Restauration und die gleichzeitige Krise der linken Opposition, die sich zersplitterte, während in Italien eine Medienrevolution und die Monopolisierung der Information die politische Wahrnehmung veränderte (TRE FRATELLI, CRISTO SI E FERMATO A EBOLI) bis schließlich zum Rückzug der Opposition auf „alternatives“ Denken und Handeln, in dem die Verbindung von Ökologie, Feminismus, Emanzipation etc. neue Mythen forderte (CARMEN, CRONACA DI UNA MORTE ANNUNCIATA).

Damit ist nicht etwa Rosi des Opportunismus geziehen (wenngleich wir uns möglicherweise ein wenig mehr Hartnäckigkeit oder gar so etwas wie eine dialektische Auflösung von Materialismus und Oper gewünscht hätten). Vielmehr ist das Problem auf uns selbst zurückverwiesen. Daß Rosis Methode scheiterte, ist der Triumph einer Verschwörung, die gewaltiger ist, als sie sich in irgendeinem seiner Filme zeigen konnte, und einer Apathie, die so universal ist, daß in der Tat die Flucht in einen mehr imaginären als realen Süden zu denken ist, in dem das Leben wenigstens mit großer Geste und aus dem eigenen Gesetz vergeht.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 6/87