Wenn der Wind sich dreht

Schwer tun wir uns, unter anderem, damit, die Kulturgeschichten von Nachkrieg und Unfrieden in den beiden deutschen Staaten nach der Vereinigung ineinander einzuschreiben. Kaum etwas Gemeinsames, so scheint’s, ist da entstanden, und mit dem Dialog ist es auch nicht weit her. Höchstens exotische Nischen gibt es für „Ostkunst“, „Ostliteratur“, „Ostkino“ inmitten einer etwas bewusstlosen, gierigen Westkultur. Was für eine Filmgeschichte, zum Beispiel, haben wir jetzt? Eine der „stärkeren Seite“, eine gemeinsame, eine doppelte? Und wie wird diese andere deutsche Filmgeschichte geschrieben? Als Geste von Trotz oder Trauer, Errettung oder Unterwerfung? Ignorant oder paranoid? Vielleicht hilft es uns ja, wenn wir vor dem Entwurf zu einer deutsch-deutschen Filmgeschichte einen scheinbar leichteren Zugang durch die Lebensgeschichte eines der Menschen bekommen, die der DDR – „trotz allem“, wie man so sagt, eine Kunst- und Mediengeschichte abgerungen haben, die sich sehen lassen kann. Frank Beyer, den „einen der bedeutendsten Regisseure der DDR“ zu nennen eine Lexikon-Binsenweisheit ist, hat mit „Wenn der Wind sich dreht“ so etwas wie eine Autobiographie verfasst. „So etwas“ – weil wir in diesem Buch dabei sein können, wie jemand sich selber in seiner Geschichte sucht und nicht wirklich findet, und der, das macht die schöne, melancholische Genauigkeit seines betont kunstlosen Versuches aus, darauf verzichtet, sich stattdessen eine Rechtfertigungsmaske anzulegen oder vitalistische Märchen aus grauer Zeit zu erzählen.

Beyers Buch funktioniert ein bisschen wie seine Filme. Das sind zumeist genaue Menschen-Bilder; die Fabel ist immer als erstes ein Medium, sehr konkreten Leuten nahe zu kommen. Manchmal ist dieser Aspekt der Nähe zu den Menschen für ein Empfinden, das am westlichen Mainstream geschult ist, schwer auszuhalten, und manchmal wird in diesen Filmen auch ein bisschen zu viel und ein bisschen zu papieren geredet. Aber gerade in seinen großen Filmen, „Nackt unter Wölfen“, „Karbid und Sauerampfer“, „Jakob der Lügner“ und „Spur der Steine“ weiß Beyer so präzis die Grenze zwischen Distanz und Nähe zu bestimmen, dass man eine Ahnung bekommt, davon, worum es beim Filmemachen im Innersten geht. Nicht um Geld und nicht um Ideologie, nicht um Entertainment und nicht um Belehrung. Sondern um die Errettung der menschlichen Würde. Das wäre schon mal, nun ja, systemübergreifend.

Eben hier könnte auch der Ansatz für eine neue deutsche Filmgeschichte zu finden sein, gespalten, widersprüchlich, aufeinander bezogen, einander durchdringend, in der Frank Beyer ein Platz (kein Denkmal!) gebührt. Er hat in der BRD durchaus arbeiten können, und mindestens „Wenn alle Deutschen schlafen“ und „Nikolaikirche“ aus dem Jahr 1995 sind auch als „wichtige“ Filme anerkannt worden. Aber Frank Beyer gehört auch zu denjenigen, die nicht wirklich zuhause werden konnten in dieser Filmkultur. Vielleicht ist er dazu ein wenig zu spät gekommen. Er gehört nicht zu denjenigen, die weggegangen, die „abgehauen“ sind, wie seine Freunde Manfred Krug oder Jurek Becker. Frank Beyer blieb bis zuletzt in seinem Land, in dem er unentwegt kämpfen musste, und dessen Führung nicht bereit war, auch nur eine seiner Hoffnungen auf Reform und Menschlichkeit zu erfüllen. „Wann wurde aus der Hoffnung Illusion, wann wurde aus der Illusion ein Selbstbetrug?“ Genau diese Frage kann Beyer in seinem Buch nicht beantworten, und deshalb funktioniert es doch nicht so wie einer seiner Filme. In denen nämlich sehen wir genau, wo die Brüche zwischen Loyalität und Moral verlaufen, wo ein Mensch Widerstand leisten muss, um ein Mensch zu bleiben, und wo die Verantwortung für einen Einzelnen zuviel wird. Im wirklichen Leben sind solche Übergänge nicht so leicht zu erkennen.

Beyers Biographie ist entstanden in einer professionellen, beruflichen und gesundheitlichen Krise. Seine Adaption der „Jahrestage“ von Uwe Johnson, geplant als vierteiliger Fernsehfilm und in der Vorbereitung weit gediehen, wird unterbrochen: „Ich werde aus dem Projekt herausgedrängt“. Wenn man Beyers Arbeit für den Film kennt, ahnt man, was das hätte werden können. Bewegungsbilder für eine andere deutsche Suche nach Heimat. Vielleicht auch für ihn selbst ein wenn nicht versöhnender so doch erklärender Schnitt durch die deutsche Geschichte. Doch der Regisseur musste erkennen, dass man mit Geld das Unerwünschte und Widerspenstige genauso gut unterdrücken kann, wie mit der merkwürdigen, vernetzten Zensur in der DDR, die er so genau beschrieben hat, dass man bei der Lektüre nie so recht weiß, ob man an einem ebenso dummen wie raffinierten Machtapparat verzweifeln oder seine absurde Komik genießen soll. Vielleicht ist das ja das Wesen jeder Art von Macht, und der mehr oder weniger an sich selbst verrückt gewordenen Macht insbesondere, dass sie einen Aspekt des furchtbar Komischen hat. Doch für die Menschen, die dort gelebt und gearbeitet haben, war die DDR kein Witz.

Frank Beyer, das macht ihn so sympathisch wie symptomatisch, ist weder ein geborener Rebell noch ein Mitläufer. Wir sehen ihn als einen Menschen, der um seine persönliche und künstlerische Würde kämpft, und der dabei auch eine Reihe von Niederlagen einstecken muss. Wir verdanken ihm vielleicht auch deshalb so viele Filme, in denen Fragen nach Schuld und Verantwortung im historischen Konflikt gestellt werden. Geschichten von Menschen, die unter falsche Anklage gestellt und ihre Verantwortung entdecken wie der junge Soldat in „Der Aufenthalt“, der zwar des Verbrechens, dessen er angeklagt ist, nicht schuldig ist, in der Haft aber seine Mitverantwortung für den Faschismus zu akzeptieren beginnt. Oder von Menschen, die eine übermenschliche Verantwortung aufgeladen bekommen wie der Held von „Jakob der Lügner“, der den Menschen im Getto Hoffnung gemacht hat mit den Nachrichten eines nicht existierenden Radios, auf dessen Besitz die Todesstrafe steht.

Man erfährt in diesem Buch viel darüber, wie in der DDR Filme verhindert, verändert und unterdrückt wurden. Auch hier besteht Beyer auf der Verantwortung jedes einzelnen konkreten Menschen. Allerdings erfährt man nicht ganz so viel über die eigentliche Film-Arbeit und über die Art, in der in Babelsberg Filme gemacht wurden, und von der noch immer das eine oder andere zu lernen wäre. Zum Beispiel vom respektvollen Umgang von Autoren, Regisseuren, Handwerkern und Schauspielern miteinander. Von der Präzision, mit der eine Kamera-Einstellung um die Rolle und den Menschen, und nicht um den Effekt aufgebaut wurde. Von der Zeit, die man den Leinwand-Personen gegeben hat, sich zu entwickeln. In Babelsberg probte man mehr und verdrehte, aus verständlichen wirtschaftlichen Gründen, weniger Filmmaterial als im Westen. Der Einfallsreichtum, mit dem Filmtechniker mit begrenzten Mitteln zu arbeiten verstanden, ist mehr als ein paar Anekdoten wert. Sicher gibt es in dieser Arbeitsweise, jenseits der politischen Bedrängnis, auch ein paar Probleme: Eine oft lähmende Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort, die den Schauspielern ausschließlich Partitur abverlangte. Eine gewisse Behäbigkeit, die der disziplinierten Ruhe am Set geschuldet war. Die Vorherrschaft der Parabel über die optische Erfahrung. Der DEFA-Film, in dem Frank Beyer immer wieder an thematische Grenzen stieß, und den er stilistisch vortrefflich erfüllte, war ein Vorschlag für eine Art, mit der Kamera die Welt zu sehen. Nicht die beste, aber bestimmt auch nicht die schlechteste.

Aber natürlich geht es in einer Biographie um so etwas nur am Rande. Frank Beyer sucht sich selbst im Widerspruch zwischen den „Republikflüchtlingen“ und den Dagebliebenen, sucht seine eigenen Fehleinschätzungen zu korrigieren ohne sich zu verraten und landet prompt, wie wir in den letzten Abschnitten erfahren, in neuen Missverständnissen und Feindseligkeiten. Man ahnt wie das ist, wenn Menschen sich und anderen beständig alte Wunden aufreißen müssen und zugleich erfahren, dass die neue Gesellschaft sich für das Blut, das dabei fließt, kaum interessiert.

Die Krise, aus der das Buch entstanden ist, bestimmt auch seine Form. Es ist, das macht die Lektüre ein wenig traurig, auch ein Dokument des Verstummens. Versucht sich Frank Beyer am Anfang noch als ein Erzähler seines Lebens, der das Anekdotische der Erinnerung zu einem Zeitbild montiert (die Nachkriegsjahre, der Beginn der filmischen Arbeit, die sich wandelnden Bedingungen der kulturellen Arbeit in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre), so stockt die Selbstbefragung schon im zweiten Drittel (der heftige Rückfall nach den „Tauwetter“-Jahren und der Beginn des inneren Zerfalls), bis im letzten Drittel (die Jahre zwischen der DDR und der BRD, die negativen Erfahrungen mit den Verhältnissen von Film- und Fernsehproduktion im Westen, die unvermeidliche und stets sich wiederholende Konfrontation mit der Vergangenheit) der Erzähler ganz zurück tritt und uns mit der Montage von Briefen und Dokumenten allein lässt, Spuren ratloser Gänge im Kreis herum, vergeblicher Versuche, zu einer wirklichen Geschichte zurückzukehren, die sich nicht vor unseren Augen in persönlichem Schmerz, im ziellosen Misstrauen zwischen den Weggegangenen und den Dagebliebenen auflösen würde. Der letzte Satz des Buches,  Postscriptum eines dokumentierten Briefes, lautet: „Man muss aus der Biographie entstandene schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten aushalten, und trotzdem versuchen, miteinander freundschaftlich umzugehen“. Frank Beyer hat das mit seinem Buch versucht. Aber die Verhältnisse, die sind nicht so.

Autor: Georg Sesslen

Text geschrieben: 2001