Schriftstellerin Christa Wolf (Zentralbild Ecklecken 9.3.1963)

Der ungeteilte Himmel

Mir fällt ein, notiert Christa Wolf unter dem Datum des 27. September 1979, dass dieser ganze beobachtete Tag unter das Heisenbergsche Gesetz von der Unschärferelation fällt: Er wird deformiert durch meinen unausgesetzen Blick auf ihn. In gewisser, wenn auch schwer zu fassender Weise, mag das auch für die öffentliche Wahrnehmung der Person Christa Wolf gelten.

Hat auch sie sich und wenn: wie?, durch den unausgesetzten Blick einer teils kultisch verehrenden, teils hämisch desavouierenden Öffentlichkeit verändert? Vermutlich ist das so. Und vermutlich ist kein deutscher Schriftsteller nach Heinrich Böll so sehr als öffentliche Instanz wahr genommen worden wie Christa Wolf. In dieser Hinsicht nahm sie im Osten eine Stellung ein, wie sie im Westen einst eben Heinrich Böll bekleidet hat und für das ganze, ungeteilte Deutschland niemand. Ein Umstand, der vermutlich damit zu tun hat, dass es keinen Schriftsteller gibt, der als Person und Autor über eine  moralische Strahlkraft verfügt, die aus der Sicht östlicher wie westlicher Lebensentwürfe eine beide integrierende Maßstäblichkeit gewinnt. Im Übrigen neigt der Zeitgeist dazu, nach dem Zusammenbruch der ideologischen Gewissheiten, auch jede Erscheinung von sich in Menschen institutionalisierender Moral für etwas Komisches zu halten. Aus genau diesem Grunde begann der gesamtdeutsche, also westliche, Literaturbetrieb, seinen womöglich unbewussten Trieben zu folgen und Christa Wolf als eine Art trauernde Priesterin der geknechteten ostdeutschen Seele zu ironisieren was sie in gewisser Weise ja auch tatsächlich war. Allerdings, das hatte nichts mit ihrem literarischen Rang zu tun und falls doch dann auf eine ehrenhafte Weise. Sie ist einfach eine Schriftstellerin, die sich weigert, Moral für einen obsoleten, leicht albernen Begriff zu halten. Es störte wohl den Betrieb, dass da eine übrig geblieben schien, die Literatur nicht als fröhliche Zeitgeisterei verstand, sondern als eine ernsthafte Lebensäußerung  und der ein großer Teil ihrer  Leser hierin folgte. Der Umstand, dass diese Leser in ihrer großen Mehrheit zur kleineren Hälfte des Landes rechnen, ließ die Staatsdichterin-Debatte beinahe zu einer ideologischen Frontstellung verhärten.

Heute, spätestens seit Ein Tag im September ist diese Frontenbildung aufgehoben und die Stasi-Geschichte zur frühen biografischen Petitesse geschrumpft. Es spricht am Ende doch für diesen literarischen Betrieb, dass er sich und seine temporären Blähungen zu disziplinieren weiß und einer Schriftstellerin wie Christa Wolf ihren Rang schließlich mit Respekt vergönnt.

Christa Wolf ist mit diesem ihr durch Haltung zugefallenen Status, gleichsam die verkündende Repräsentantin ostdeutscher Moral zu sein, niemals leichtfertig oder zynisch oder gar kokett umgegangen, alles ihr fremde, unvertraute Haltungen. Sie muss diesen Status zu Teilen gemocht haben, weil er neben dem Stück Eitelkeit, das in jedem Herzen nistet , sie in ihrer Grundhaltung bestätigt, die so etwas wie ein virtuelles Netzwerk der Moral zwischen der Autorin und ihren Lesern spannt.

Zum Teil hat wohl aber, auf den Heisenberg zu kommen, das Bewusstsein ihrer, mitunter mehr Last als Lust bewirkenden Rolle als öffentliche Projektionsfläche von Moral, von Lebensart und Lebenshaltung, auch ihr Leben beeinflusst, insoweit sie diese singuläre Stellung als Verkörperin einer Gegenöffentlichkeit mit seufzender Verantwortung auf sich nahm. Und dass sie blieb in diesem Land, an dessen Verfasstheit sie litt, an dem sie verzweifeln mochte, dass sie für dieses Bleiben manch Schweigen auf sich nahm, das hatte auch zu tun mit ihren Lesern, mit der anhaltenden und intensiven Beobachtung durch diese.

In der Erzählung Kein Ort. Nirgends lässt sie Heinrich von Kleist, einen der großen Unglücklichen unter den großen Dichtern, sagen Ich kann die Welt in Gut und Böse nicht teilen, nicht in zwei Zweige der Vernunft. Wenn ich die Welt teilen wollte, müsste ich die Axt an mich selbst legen, mein Inneres spalten. Der anhaltende, auch außerliterarische Respekt, den Christa Wolf genießt, der ist wohl auch die Folge einer unzerteilten Persönlichkeit, die die Axt nie wirklich an sich selber legte. Und die dafür steht, dass der Himmel über den Menschen am Ende ein ungeteilter ist.

 

Autor: Henryk Goldberg

 

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine, März 2004 (anlässlich Christa Wolfs 75. Geburtstag am 18.03.2004)