Das tapfere Schneiderlein

Sie sind alle da. Der Erbgroßherzog, Kanzler Müller, Friedrich Wilhelm Riemer, Johann Peter Eckermann. Das Personal der Goethezeit versammelt sich in der Dekoration der Goethezeit. Sie haben nur ein Problem: Es ist nicht mehr Goethezeit.

Maria Pawlowna, die Mutter Carl Alexanders, hat den Memorialkult in Weimar begründet. Nun wollen sie aber nicht nur eine bedeutende Vergangenheit in dem Flecken, sie wünschen dem eine nicht minder bedeutende Gegenwart hinzuzufügen. Franz Liszt soll gleichsam Goethes Nachfolger werden, die Musik an die Stelle der Literatur treten. Doch braucht es, so haben sie es gelernt, so weiß es Carl Alexander von seinem Großvater Carl August, neben dem zentrierenden Hauptgestirn einiges minder strahlende, doch hinreichend bedeutende Erscheinungen. Er ist, schreibt Carl Alexander, kein Stern erster Größe…aber sein Feuer ist rein. So beginnt, begünstigt von der lokalen Konstellation, getragen von der Zuneigung der Herzen, die Freundschaft zwischen dem Weimarer Großherzog Carl Alexander, dessen Großvater Goethe nach Weimar holte, und dem dänischen Dichter Hans Christian Andersen. Die Beziehung der beiden ist herzlicher wie symbiotischer Natur. Carl Alexander, ab 1853 regierender Herzog, benötigt ein Umfeld für Franz Liszt, der Herzog streckt sich, wie er gegenüber Andersen bekennt, unter dem Schatten seines Großvaters und sammelt Prominente für seine Stadt. Und seine Beziehung zu dem dänischen Dichter, etwa zweihundert Briefe sind überliefert, erscheint mitunter wie eine nachgespielte Weimarer Szene: Der Herzog und sein Dichter. Nur, dass der Dichter nicht Goethe ist, was der Dichter weiß, und das Herzogtum nicht mehr das Weltenzentrum, was der Herzog nicht weiß. Und Hans Christian Andersen benötigt den Herzog,  wie dieser ihn benötigt. Denn der Schriftsteller, am 2. April 1805 geboren und lebend bis zum 4. August 1875, war ungeachtet seines einsetzenden Ruhmes ein unsteter, ein getriebener Mann. Ein gehetztes Tier nannte ihn Georg Brandes, und das scheint nicht falsch. Andersen war nicht nur hypochondrisch veranlagt und witterte überall Tod und Verderben, weshalb auf Reisen neben seinem Bett ein Seil gelegen haben soll, um sich im Falle eines Brandes abseilen zu können sowie ein Zettel mit dem Text Ich bin nur scheintot. Andersen war auch einer der Dänen, die am meisten auf Reisen waren, auf 29 Länder soll er es gebracht haben. Er sammelte, darin dem Weimarer Freund nicht unähnlich, Prominente. Er, dessen Geschichten bevölkert sind von pantoffellatschigen dummblöden Königen, die nicht einmal merken, wenn sie nackt durch die Gassen laufen, er suchte die Gesellschaft der Gekrönten und Gesalbten. Er kam mir, gab Heinrich Heine zu Protokoll, vor wie ein Schneider; er sieht auch wirklich ganz so aus. Er ist ein hagerer Mann… und verrät ein ängstliches, devotes Benehmen, so wie die Fürsten es gern lieben… Er repräsentiert vollkommen die Dichter, wie die Fürsten sie gern haben wollen.Und wie ein etwas trauriges tapferes Schneiderlein, mit Witz, Verstand und Großsprecherei, musste sich der Schöpfer unsterblicher Geschichten durch sein Leben schlagen. Diese rastlosen Reisen sind stetige Fluchten, denn wenn er nicht schrieb oder reiste, war er auf sich selbst geworfen. Und so liegt Konsequenz darin, dass er Carl Alexanders Angebot, ein Bürger des kleinen Musenhofes zu werden, letztlich nicht annahm. So wie Liszt eine Lebensmitte suchte, einen Ruhepunkt, so musste Andersen eben dies vermeiden.

Der Sohn eines Flickschusters  womöglich, sagen neuere Hypothesen, auch eines Kronprinzen, hatte es schwer. Mit 14 Jahren ging er nach Kopenhagen,da gab es ein Stipendium. Es gibt zwei Menschen, die er liebt, eine Frau und einen Mann, dieses Begehren wird ihn von beiden nicht erfüllt. Seine, so viel man weiß, ungelebte Homosexualität, muss ihn ein Leben lang bedrückt und gequält haben. Er schreibt, ein ruhmsüchtiger Anerkennungsneurotiker, Romane, Dramen, Gedichte, aber seine Weltgeltung, seine tatsächlich erreichte Unsterblichkeit beruht auf den Märchen, die ab 1835 erscheinen. Und sie erscheinen bis heute: Die kleine Seejungfrau, die zum Wahrzeichen Kopenhagens wurde, Die Schneekönigin, Des Kaisers neue Kleider, Der standhafte Zinnsoldat, Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Und viele dieser
Märchen, es sind beinahe zweihundert, haben neben ihrer schönen Oberfläche für die Kinder noch eine tiefer liegende Schicht, deren Melancholie unverkennbar ist. Es liegt ein Merkwürdiges darin, und es ist ein Geheimnis künstlerischer Kraft, dass dieser Prinz auf der Erbse, dieser Erbsen-und Komplimentezähler, zugleich einer der wunderbarsten Diamantenschleifer ist.

Hans Christian Andersen war 1857 zum letzten mal in Weimar, woran heute an der Mauer des ehemaligen Hotels Zum Erbprinzen eine Gedenktafel erinnert. Als das Rietschel-Denkmal enthüllt wurde, war Andersen selbst zugegen. Der Briefwechsel mit dem Herzog hörte nicht auf, er schlief nur beinahe ein, er wurde zunehmend zu einer Erinnerung an etwas, das einmal war. Eine Geschichte also, die unverkennbar in diese Stadt gehört.

Autor: Henryk Goldberg

Text: „Vor 200 Jahren wurde Hans Christian Andersen geboren, um den Weimar warb“, veröffentlicht in Thüringer Allgemeine, April 2005

Hans Christian Andersen starb am 02.08.1875