Kultur-Karawane in Neu-Arabien

Berlins Lower East Side haben die Spötter Nordneukölln getauft.

Wer heute durch Neukölln läuft, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Kneipen, kleine Galerien und Werkstätten reihen sich aneinander, allesamt charmante Provisorien aus dem Geist des Wohnzimmers auf offener Straße.

Ist er Deutscher? Die jungen Engländer im Café Goldberg sind irritiert. Freitagabend. Berlin-Neukölln. An der Grenze zu Kreuzberg. Vor den drei Jungs, alle Anfang zwanzig, steht ein mittelalter Mann mit verklebten Haaren und bittet um Feuer. Während er sich die krumme Zigarette ansteckt, beginnt seine ausgebeulte Trainingshose zu rutschen und gibt den Blick auf den feisten Hintern frei. Hemmschwellen kennt der Mann keine. Mit glasigem Blick gibt er das Feuer zurück und schwankt brabbelnd weiter. Die Engländer sind amused.

 Die speckige Gestalt war bislang gleichsam der Neuköllner Prototypus: Ein abgehalfterter Proletarier, der sich tagsüber beim Spätkauf sein Pils holt. Wer bis vor Kurzem am Kreuzberger Kanalufer nach Südosten abbog, bei dem ging ein innerer Warnhinweis hoch: Achtung, Sie verlassen den zivilisierten Sektor! Neukölln, mit 305.000 Einwohnern Berlins bevölkerungsreichster Bezirk, ist im kollektiven Bewusstsein nur in Negativimages abgespeichert: Abgetakelte Häuser, deprimierte Gesichter, düstere Eckkneipen. Neukölln, das war bislang gleichbedeutend mit Arbeitslosen in Trainingshose, verschleierten Frauen, Jugendgangs und arabischen Wasserpfeifenlokalen an der Sonnenallee. Wer Neukölln sagte, meinte bislang Orte des Grauens wie den U-Bahnhof Hermannplatz, die Rütli-Schule, Filme wie „Knallhart“ oder „Neukölln Unlimited“. Mit einem Wort: Buschkowsky-Land.

Dass in der kleinen Neighbourhood-Bar heute hippe Engländer oder Spanier ein Bier trinken, darf also durchaus als Zeichen betrachtet werden. Und dass der Wirt des Goldbergs für die Neuköllner Randlage das Manzini, Stammsitz der Westschickeria am Charlottenburger Ludwigkirchplatz, verlassen hat, auch. „Neukölln rockt“ jubelte schon vor zwei Jahren das Szenemagazin „Zitty“. Und der Rest der Stadt lächelte, weil sie fand, dass die Schwalben von drei bis fünf Joint Ventures aus Galerien, Modeläden und Studentenbars in einer heruntergekommenen Seitenstraße des Kottbusser Damms noch keinen Sommer der Modernisierung machten.

Doch wer heute abends durch den Kiez zwischen Landwehrkanal, Sonnenallee und Kottbusser Damm läuft, bislang ein Brennpunkt, den Sozialarbeiter vorsichtig „Gebiet mit besonderem Entwicklungsbedarf“ nennen, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kneipen, kleine Galerien und Werkstätten reihen sich aneinander, allesamt charmante Provisorien aus dem Geist des Wohnzimmers auf offener Straße. Nun ist mitnichten nur Fun und Nightlife, was hier Quartier genommen hat. Die Besitzer der meisten neuen Läden kommen selbst aus der Kultur, sind Regisseure oder Schauspieler. Im Silverfuture trifft sich die queere Szene. Das „Freie Neukölln“ betreibt einen kreativen Untergrundsender, viele Kneipen Lesebühnen. Es gibt ein Künstlernetzwerk, eine Independent-Musikszene und jede Menge Räume für ungewöhnliche Experimente, für Krachkünstler und Bilderstürmer. Schon vor zwei Jahren ließ die Nachricht aufhorchen, dass das dänische Künstlerduo Michael Elmgreen und Ingar Dragset ihr Atelier vom Prenzlauer Berg in ein altes Pumpwerk hierher verlegt hatten. Und noch ein Jahr davor hatte Peter Stein seinen Wallenstein-Marathon in der stillgelegten Kindl-Brauerei in Neukölln inszeniert.

Der kreative Untergrund, den es wegen der billigen Mieten seit ein paar Jahren hierher verschlagen hat, hat sich über Nacht zu einer kritischen Masse kumuliert. Und mit Jutta Teschner und ihrem Label „fishbelly“ eine international beachtete Modedesignerin hervorgebracht. Kein Wunder: Wenn man abends in die weit geöffneten Erdgeschosswohnungen schaut, gehen dort Wohnen, Musizieren, Handwerken, Clubbing und Spontanperformances nahtlos ineinander über. Berlins Lower East Side haben die Spötter deshalb schon Nordneukölln getauft. 

Für den Soziologen Norbert Elias war der Prozess der Zivilisation einer von zunehmender Affektkontrolle und Verrechtlichung. Dass er sich in Neukölln aus einem gastronomischen und kreativen Exzess speist, muss uns nicht besorgt stimmen. Auch wenn Kreuzberger Linkstraditionalisten über den „Hostel-Mob“ der milchbärtigen Rucksacktouristen lästern, der sich von ihm angezogen fühlt. Hauptsache dieser Malstrom der Menschwerdung ist hier überhaupt angekommen.

Nach dem Mauerfall, der Love-Parade und dem Bau des Potsdamer Platzes bahnt sich mit der Zivilisierung Neuköllns ein weiterer Epochenbruch an. Wieder findet er in Berlin statt. Und wir können sagen, wir sind dabei gewesen.

Text: Ingo Arend