(zu ihrer „Dresdner Rede“ am 7.2.2010)

Im Leben eines jeden Menschen gibt es Ereignisse, die so existentiell sind, dass sie die Biografie in ein Vorher und ein Nachher trennen. Manchmal ist der Einschnitt so tief, dass es kaum gelingt, das Vorher und das Nachher wieder miteinander zu verbinden. Bei Kathrin Schmidt gibt es zwei solche Zäsuren, die auch für ihr Schreiben Folgen hatten und die deshalb von außen sichtbar sind. Die erste fällt – wenig überraschend – auf das Jahr 1989. Diese kollektive Erfahrung betrifft den Zusammenbruch eines Staates und den Wandel der ökonomischen, politischen und ästhetischen Verhältnisse. Die zweite Zäsur traf Kathrin Schmidt direkt im eigenen Innersten und war ungleich dramatischer: 2002 erlitt sie eine lebensbedrohliche Hirnblutung. Sie fiel ins Koma und kam nach schwieriger Operation erst 14 Tage später wieder zu sich. Aber was heißt das dann schon: zu SICH kommen. Sie war halbseitig gelähmt, hatte die Sprechfähigkeit verloren und konnte sich nur mühsam daran erinnern, wer sie war und woher sie kam. Die Erkenntnis, einmal Schriftstellerin gewesen zu sein, traf sie Wochen später blitzartig wie ein Schock: Was ist eine Schriftstellerin ohne Sprache?

„Vergessen ist eine andere Version des Erinnerns“, hieß es 1998 in ihrem Debüt-Roman „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“. Das konnte nun nicht mehr gelten. Kathrin Schmidt musste „das Erinnern üben“, so wie sie das Gehen und das Sprechen neu lernen musste. Schrittchen für Schrittchen und Wort für Wort. Der Roman „Du stirbst nicht“, für den sie im vergangenen Herbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, gründet auf diesen Erfahrungen.

Die beiden Zusammenbrüche, der gesellschaftliche von 1989 und der körperliche von 2002, lassen sich kaum miteinander vergleichen. Und doch haben sie etwas gemeinsam: Jedes mal ging es in der Folge um Fragen der Identität, der Herkunft, der Selbstvergewisserung. In solchen Ausnahmesituationen wird deutlich, dass Erinnerung nichts Statisches ist und dass man sich niemals auf sie verlassen kann. Erinnerungen verändern sich mit den äußeren und inneren Gegebenheiten. Niemand wüsste das besser als Schriftsteller, denen die Erinnerung wichtigste Arbeitsgrundlage ist. Schriftsteller erzählen ihre Geschichten und fügen damit ihre Stimme in den großen Chor der Geschichtsschreibung ein. Deshalb ist Literatur, die ihren Gegenstand ernst nimmt, immer eine politische Angelegenheit.

In den Jahren nach 1989 war das offensichtlich. Die DDR verschwand als Staat und Gesellschaft und entstand dafür als Erinnerungslandschaft, im Rückblick vielleicht sogar lebendiger und vielfältiger, als sie sich tatsächlich angefühlt haben mag. Die Schriftsteller aus dem Osten des Landes hatten jedenfalls viel zu tun und wurden von ihren Kollegen aus dem Westen beneidet, weil sie so viel Erzählbares mitbrachten, während westdeutsche Literatur vor allem davon handelte, wie langweilig die Kindheit in Bielefeld oder Fulda gewesen war. Insofern gehört Kathrin Schmidt zu den privilegierten Autoren, denen der postumen DDR. Dabei hat sie das noch nicht einmal nötig, denn sie hat mehr als diese Herkunft zu bieten: sehr viel Phantasie, was ihre Bücher gelegentlich vom Realistischen ins Phantastische katapultiert.

Ihre ersten Gedichte erschienen 1982 in der Reihe „Poesiealbum“. Da war sie 24 Jahre alt und hatte, nach dem Studium der Psychologie in Jena, eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Leipzig. In Leipzig absolvierte sie 1986/87 dann auch das Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Im Hauptberuf arbeitete sie jedoch als Kinderpsychologin in Berlin und war dann am Berliner Institut für Sozialforschung tätig. Ganz nebenbei hatte sie damals schon vier Kinder; ein fünftes kam nach der Wende noch dazu. In ihrer eigenen Kindheit hatte sie sich gewünscht, einmal mindestens elf Kinder zu haben und dazu noch welche zu adoptieren. Ganz so heftig ist es also nicht gekommen.

Nach oder vielmehr neben der Psychologin und der Mutter ist die Schriftstellerin also die dritte Existenzform von Kathrin Schmidt. Andere wären womöglich bereits vom Anforderungsprofil eines einzigen dieser Berufe paralysiert. Sie aber verstand es, ihre Tätigkeitsgebiete so miteinander zu verbinden, dass eines vom anderen profitiert – nicht zuletzt die Literatur. Auch da spielen Kinder immer wieder eine zentrale Rolle, so zum Beispiel in dem Roman „Königs Kinder“, in dessen Eingangssequenz ein weinendes Kind mit nassen Strümpfen neben einer Tankstelle steht. Wie sich herausstellt, hat jemand ihm die Kehle durchgeschnitten und sorgfältig wieder zusammengenäht. Solche unerklärlichen Dinge geschehen in den Büchern vom Kathrin Schmidt. Die Erzählerin will herausfinden, was in ihren Figuren vorgeht. Sie zeigt, welche Folgen seelische und körperliche Verwundungen haben können. Das führt bei ihr aber nie zu klischeehaftem Psychologisieren, sondern bleibt ein offener, eben erzählerischer Prozess.

In der Wendezeit hat sie am Runden Tisch in Berlin mitgearbeitet, allerdings nicht lange. Sie stellte fest, dass die Männer die Tagesordnung diktierten. Wichtige Sitzungen fanden deshalb in den Nachmittagsstunden statt, wenn sie ihre Kinder aus der Krippe abholen musste. So wurde sie 1990/91 Redakteurin der Frauenzeitschrift „Ypsilon“. Auch das eine wichtige Erfahrung mit Konsequenzen für die Literatur.

Bemerkenswert sind in ihrer Prosa all die saft- und kraftstrotzenden, gebärfreudigen Frauenfiguren. Männer wirken daneben klein und dünn, und sie gehen häufig unterwegs verloren. Die Sprache ist von auffallender Bildkraft und Opulenz. An der Art, wie Kathrin Schmidt die Worte anpackt und auf Begriffe assoziativ reagiert, kann man erkennen, dass da eine Lyrikerin am Werk ist. Kathrin Schmidt behandelt Sprache als Material, nicht bloß als Medium für Mitteilungen aller Art. Worte stellt sie körperlich in den Raum, so dass sie wirken, als wären sie nicht aus Papier, sondern aus Fleisch und Blut. Das Erotische und die Sprachlust gehören bei ihr untrennbar zusammen. Das ist, trotz aller komabedingten Verknappung und Konzentration auch in „Du stirbst nicht“ so geblieben. Ihre Lust am Deftigen, Derben, schlägt hier um in schonungslose Genauigkeit, mit der sie den lädierten, unkontrollierbaren Körper zeigt und dabei bis an die Grenzen des Erträglichen geht.

Ihr – nach dem „Poesiealbum“ – erstes richtiges Buch, der Lyrikband „Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik“, erschien 1987 in der DDR. Und doch darf bezweifelt werden, ob aus Kathrin Schmidt eine Berufs-Schriftstellerin geworden wäre, wenn die DDR weiter existiert hätte. Den Schritt zur freien Autorenschaft wagte sie erst 1994, nachdem sie die wohl renommierteste Lyrik-Auszeichnung in der Bundesrepublik, den Leonce-und-Lena-Preis erhalten hatte. Als sie 1998 dann den Roman „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ veröffentlichte, war das durchaus eine Überraschung. Diese matriarchale Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts, die von Ostpreußen in die DDR und schließlich in einem Luftschiff darüber hinaus führte –, ist ein Feuerwerk an Ideen und sprachlicher Elementargewalt. Man muss nur das Personenverzeichnis mit Namen wie Josepha Schlupfburg, Annegret Hinterzart oder Adam Rippe lesen, um zu ahnen, was da auf einen zukommt. Hauchdünn verpasste Kathrin Schmidt 1998 in Klagenfurt den Sieg beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Dabei hatte sie diesen Roman schon 1986 begonnen und damals ein Exposé beim „Verlag Neues Leben“ vorgelegt. Der Cheflektor teilte ihr mit, dass so etwas in der DDR unmöglich sei. Die Flucht im Luftschiff über die Landesgrenzen war nicht Poesie, sondern Politik. Kathrin Schmidt akzeptierte die Entscheidung, als handle es sich um einen Schicksalsspruch. Opferrolle und Widerstandspathos liegen ihr nicht. Später verhinderten Mutterpflichten das Weiterschreiben. So blieb der Text zehn Jahre liegen. Sie hatte ja einen Beruf und war aufs Veröffentlichen nicht angewiesen.

Die Bereitschaft, das eigene Geschick zu akzeptieren, gehört zu ihren besonderen Fähigkeiten. Die selbe Unerschrockenheit besitzen auch ihre Romanfiguren. Die Dinge geschehen nun mal, unabhängig von den Absichten der Menschen. „Wie die Geschichte anfing, ist schwer zu sagen. Die Alte, die Fettvettel Zeit, hockte über dem Beginnen wie eine Bruthenne. Ließ sie nicht los. Der Auftakt verschob sich von Jahr zu Jahr, bis sie endlich ins Rollen kam.“ So beginnt der 2005 erschienene Roman „Seebachs schwarze Katzen“. In „Königs Kinder“, drei Jahre zuvor, thront „die Liebe, die Hur“ nornenhaft über dem Geschehen. Ob Vettel oder Hure, Zeit oder Liebe – die jeweils anwesenden Schicksalsgöttinnen betrachten die handelnden Menschen bloß neugierig, anstatt ihre schützende Hand über sie zu halten. Sie sind Mächte mit begrenztem Einfluss, die aber deutlich machen, dass die Menschen nicht so frei sind, wie sie glauben und nicht immer so können, wie sie wollen.

Romanfiguren von Kathrin Schmidt stecken in metaphysischen Schicksalshorizonten. Sie hängen an Fäden wie Marionetten, versuchen aber trotzdem, ihren Willen zu behaupten. Als Leser sieht man ihnen dabei zu, wie sie sich abzappeln in der Geschichte, wie sie sich verheddern in ihren Fäden und man ahnt: Besser geht es eben nicht. Vielleicht beschreibt diese Auseinandersetzung auch das Verhältnis der Erzählerin zu ihren Figuren. Ein Schriftsteller ist ihnen gegenüber ja selbst eine Schicksalsmacht. Was sich als Lebensweg auf dem Papier ergibt, resultiert aus widersprüchlichen Kräften. Die Figuren wehren sich gegen die Einfälle der Autorin, und sie bekommen von ihr die Freiräume dafür zugestanden. So nehmen die Geschichten manch überraschende Wendung, aber Kathrin Schmidt behält am Ende doch jedes mal die Fäden in der Hand.

In „Du stirbst nicht“ ist sie nun aber selbst zur Romanfigur geworden, deren Leben und deren Erinnerung am seidenen Faden hängt. Die sprachbegabte Autorin kehrt in den Zustand zurück, als sie aus dem Koma erwachend nicht mehr sprechen konnte. Für diesen Zustand der Sprachlosigkeit eine literarische Sprache gefunden zu haben, ist die gar nicht hoch genug zu schätzende Leistung dieses Romans. Kathrin Schmidt gelingt es, in das zersplitterte Bewusstsein der Gelähmten zurückzukehren, als Träume und Erinnerungen, Innenwelt und Außenwahrnehmung kaum zu unterscheiden waren. „Sprache im Inneren funktioniert irgendwie besser“, heißt es da. „Es scheint, dass noch vor der Übersetzung ins gesprochene Wort der Bauplan der Rede einstürzte und sie unmöglich macht.“

Mit ganz einfachen Sätzen fängt sie an. Subjekt, Prädikat, Objekt. Und mit den Sätzen ordnet sie auch die Welt um sich herum neu. Dass Geschichte überhaupt erst im Erzählen entsteht, dass da ein Ich spricht, das sich neu erfinden muss, weil es sich abhanden kam, ist ein Ansatz auf der Höhe moderner Erzählkunst. Doch das ist hier keine dürre Theorie, denn es ist in der Krankheitsgeschichte begründet. So kommt es, dass dieser Roman nie in Gefahr steht, zum bloßen Erlebnisbericht abzusinken. Kathrin Schmidt kann sich in jedem Augenblick ihrer literarischen Mittel sicher sein.

Ihr Schreiben hat sich dadurch verändert. „Früher“, sagt sie, „hingen die Wörter an einer langen Leine mit Klammern. Ich brauchte nur dran entlangzugehen und das passende abzupflücken. Das ist nicht mehr so. Jetzt muss ich richtig suchen nach Wörtern.“ Schrittweise, von Buch zu Buch, hat sie den barocken Überschwang der Sprache und der Phantasie zurückgenommen und gelernt, sich zu disziplinieren. Diese Entwicklung hätte sie vielleicht auch ohne die Krankheit vollzogen. Doch so ist es schneller gegangen. Jedenfalls hält sie es für einen Vorteil, nun „zwei verschiedene Arten des Schreibens“ zu kennen, eine rauschhaft-automatische und eine kontrollierte, erarbeitete.

Kathrin Schmidt (Bild: Don Manfredo, GNU)

Seit ein paar Jahren schreibt Kathrin Schmidt auch wieder Gedichte. Spätestens damit ist sie endgültig ins Leben und in die Literatur zurückgekehrt. Gedichte setzen das Vertrauen in den Sprachfluss voraus und erfordern die Sicherheit, dass die Worte sich im richtigen Moment einstellen. Deshalb ist es eine besonders gute Nachricht, dass in diesem Frühjahr ein neuer Gedichtband von ihr vorliegen wird mit dem schönen, tragischen Titel „Blinde Bienen“ – „… die tinte vergessens löscht aus, was da war, war da was?“ fragt sie darin. Kathrin Schmidt hat erfolgreich das Erinnern geübt. Sie hat sich die Sprache und das Leben zurückerobert und nicht vergessen, dass sie eine Schriftstellerin ist. Davon wird sie auch heute Zeugnis ablegen in ihrer besonderen Sprache.

Text: Jörg Magenau