Donnerstag, 7. August 2008
Harare und Lilongwe
Bevor ich am Flughafen von Harare (Simbabwe) in die Propellermaschine nach Lilongwe (Malawi) einsteigen darf, muss ich meinen gestern in Maputo (Mosambik) aufgegebenen Koffer identifizieren. Theoretisch. Doch in der Praxis ist mein Koffer kein Bestandteil der auf dem Rollfeld ausgebreiteten Gepäckstücke. Schön blöd! Das Bodenpersonal schwirrt aus, sucht im Terminal, auf anderen Gepäckwagen und vor anderen Flugzeugen. Es hilft nichts. Von allen Seiten ernte ich abwinkende Gesten. Mein Koffer ist entweder noch in Johannesburg, wo ich in der Nacht umsteigen musste, oder er ist geklaut worden und somit ganz verschwunden. Wohl oder übel muss ich kofferlos in das Flugzeug steigen. Auf dem einstündigen Flug nutze ich eine Kotztüte, um den Inhalt meines Koffers aus der Erinnerung niederzuschreiben – für den Fall, dass meine Klamotten und Souvenirs sehr bald zum Versicherungsfall werden.
Gegen 12.30 Uhr landen wir am Kamuzu International Airport. Der liegt 30 Kilometer von Lilongwe entfernt und verdankt seine Existenz dem Bürgerkrieg im Nachbarland Mosambik. In den 1980er Jahren wurde ein sicherer Ausweichflughafen für das von Kämpfen betroffene mosambikanische Cuamba benötigt. Nach der Passkontrolle in Malawi leite ich die Wiederbeschaffung meines Koffers ein. Vor dem Beschwerdeschalter steht eine große Menschentraube. Ich bin also nicht der Einzige, der ohne Gepäck in Lilongwe angekommen ist.
Der Fall wird aufgenommen, ich bekomme einen Wisch in die Hand gedrückt und das Versprechen, dass mein Gepäck morgen im Hotel ist. Wir werden sehen. Um mir Zahnpasta, Zahnbürste und gern auch frische Unterwäsche leisten zu können, tausche ich meine letzten 400 Südafrikanischen Rand in 7490 Malawische Kwacha um. Der Kurs am Flughafen ist schlecht. Offizieller Wechselkurs ist zurzeit: 1 Euro = 230 Kwacha.
Im Terminal gibt es eine Touristeninformation sowie die Schalter mehrerer Hotels und Safarianbieter. Leider gibt es keinen Bus ins 30 Kilometer entfernte Zentrum. Das freut die Taxifahrer, die für die Tour üppige Preise verlangen. Auf 4000 Kwacha, also 17,40 Euro, lässt sich mein Fahrer runterhandeln, darunter macht er es nicht. Angeblich ist der Sprit teuer.
In einem weißen Toyota, den mein Fahrer einem Inder im südafrikanischen Durban abgekauft hat, geht es durch eine karge und ländlich geprägte Landschaft Richtung Lilongwe. Alle paar hundert Meter passieren wir große Plakate, auf denen Präsident Bingu Mutharika zum Kampf gegen Korruption, Kindesmissbrauch und Aids aufruft.
Mein Fahrer fragt mich, warum ich nach Malawi komme. Ich gestehe, dass das reiner Zufall ist. In der Tat wusste ich bis vor Kurzem überhaupt nichts über dieses Land. Außer vielleicht, dass Pop-Diva Madonna hier Ende 2006 ihren Adoptivsohn David abgeholt hat; begleitet von viel Medienrummel, weil das Genehmigungsverfahren entgegen allen Vorschriften nur wenige Tage dauerte und Davids leiblicher Vater hinterher von einer Art Entführung sprach.
Wir erreichen das Hotel Sunbird Lilongwe, das ich vor wenigen Tagen via Internet reserviert habe. Zum stattlichen Preis von 89 US Dollar pro Nacht, wofür ich aber auch einen kleinen Bungalow in einer halbwegs ordentlichen Resort-Anlage bekomme. Leih-Adapter inklusive, denn mein eigener ist ja im verschollenen Koffer.
Das Hotel liegt mitten in der Altstadt von Lilongwe. Die nähere Umgebung kann ich problemlos zu Fuß erkunden. Es gibt moderne Supermärkte und moderne Banken, deren Geldautomaten mir aber leider nichts Bares geben wollen. Sie weigern sich, meine EC- oder Kreditkarte zu akzeptieren. Das bereitet mir Sorge, denn mein Bargeld ist bald aufgebraucht.
Lilongwe ist eine ruhige bis verschlafene Stadt mit übertrieben großen Grundstücken und breiten Boulevards. Die komplett am Reißbrett entstandene Stadt wurde 1947 als Handelszentrum gegründet und erst im Jahr 1975 zur Hauptstadt bestimmt. Einziger Grund dafür: Malawis erster Präsident Hastings Kamuzu Banda, der das Land seit der Unabhängigkeit von Großbritannien ab 1964 diktatorisch regierte, wurde nördlich von Lilongwe geboren. Deshalb entriss er Zomba den Status der Hauptstadt.
Seither blühte Lilongwe ein wenig auf und hat heute rund 650.000 Einwohner. Auf jeden Einwohner kommt mindestens ein Plakat, das an den vielen Baumstämmen der Stadt für Musikkonzerte und religiöse Festivals oder neu erschienene CDs wirbt. Selten habe ich so viel Werbung für eine offenbar sehr lebendige Musikszene in einem Land gesehen.
Vom rosa gestrichenen Hauptpostamt, an dem Heerscharen von Holzschnitzern ihre Souvenirs anbieten, führt die Straße über den Lilongwe Fluss zum riesigen Markt der Stadt. Der lässt sich sehr treffend mit einem einzigen Wort beschreiben: Chaos! Die Bretterbuden sind einfachst zusammengezimmert und stehen dicht an dicht. Alles wirkt schmutzig und überladen. Jeder Quadratmeter ist ausgenutzt. Händler, die sich keinen eigenen Stand leisten können, stellen sich einfach irgendwohin und halten eine Hose oder ein Hemd hoch, das sie zu verkaufen gedenken. Mein Marktbesuch wird zum Spießrutenlauf, weil jeder Händler um meine Aufmerksamkeit und Kwacha buhlt. Ich fliehe in den nächsten Shoprite-Supermarkt, der meinem westlichen Zivilisationsgeschmack sehr viel näher kommt. Das Preisgefüge ist niedrig, doch auch hier – wie in Mosambik – sind Süßigkeiten dermaßen teuer, dass sogar ich vom Kauf absehe. Vor allem Schokolade ist ein Luxusgut.
Gut so, denn je weniger Zucker in meinem Blut ist, desto eher lassen vielleicht die Mücken von mir ab. Die scheinen sich am Abend alle in meinem Hotelzimmer verabredet zu haben. Weil Malawi nicht nur ähnlich wie Malaria klingt, sondern die Krankheit in diesem Land in der Tat sehr leicht zu bekommen ist, lobe ich mir mein Moskitonetz. Das wird vom Hotel gestellt und lässt sich über das Bett stülpen. Dadurch ist aber mein Blick auf den Fernseher ein wenig getrübt, auf dem Malawi TV läuft. Es ist der einzige und erst im Jahr 1998 eingeführte Fernsehsender des Landes. Er strahlt sein Programm in beiden offiziellen Amtssprachen aus: Englisch und Chichewa. Präsident Bingu Mutharika, der fast eine Stunde lang eine Ansprache hält, spricht an diesem Abend leider nur Chichewa. Ich schlafe früh ein.
Freitag, 8. August 2008
Lilongwe
Esther von der Rezeption des Sunbird Lilongwe Hotels ist so freundlich, beim Flughafen anzurufen und sich nach meinem verschollenen Gepäck zu erkundigen. Die gute Nachricht: Der Koffer ist ermittelt worden. Die schlechte Nachricht: Er ist jetzt in Simbabwe, am Flughafen Harare. Eventuell wird er am späten Nachmittag nach Lilongwe geflogen. Wir sollen gegen 17 Uhr noch mal anrufen.
Das Hotel hat ein kleines Reisebüro. Das wird von einem freundlichen bärtigen Herrn namens Griffin betrieben. Gruppenreisen kann er mir nicht vermitteln, weil das Hotel nur teure Individualtouren für seine Gäste maßschneidert. Griffin legt kurz die Arbeit nieder und macht mit mir einen Spaziergang durch die Altstadt von Lilongwe. Unser Ziel ist das Büro von „Land & Lake Safaris“, einem der größten Touranbieter des Landes. Dessen Gruppenreisen sind offenbar so gefragt, dass für mich kein Platz mehr ist. Alle Touren sind ausgebucht. Über Wochen hinaus. Auch beim Konkurrenten „Kiboko Safaris“ ist nichts zu machen. Die mehrtägigen Safaris ab Lilongwe sind allesamt ausgebucht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das Land in den nächsten Wochen auf eigene Faust zu erkunden. Weil mir jede Orientierung fehlt, kaufe ich für 300 Kwacha eine Landkarte.
Zumindest der Bankautomat ist heute nett zu mir. Er gibt auf meine EC-Karte Geld heraus. Allerdings liegt das Limit bei 8000 Kwacha, nicht mal 35 Euro. Ich werde dem offenbar einzig zuverlässigen Bankautomaten also täglich einen Besuch abstatten müssen.
Ich will Lilongwe erkunden. Zu Fuß. Das ist ein großes Vorhaben, denn die in „Areas“ aufgeteilte Stadt dehnt sich in alle Himmelsrichtungen so extrem aus, dass Besucher eigentlich auf ein Auto angewiesen sind. Egal. Ich habe ja Zeit. Zwischen der dichten wuseligen Altstadt und der modernen Neustadt mit ihren Regierungsvierteln gibt es drei Kilometer lang überhaupt nichts Sehenswertes. Nur hier und da kommt mir ein Radfahrer entgegen, bunt gekleidete Frauen tragen Lasten von Obst und Gemüse auf dem Kopf. Und jeder hier beißt unentwegt in Zuckerrohr. Eine süße Sucht aller Malawis.
Endlich erscheint die erste Sehenswürdigkeit: die Nationalbank mit ihrer eigenwilligen Architektur, die einem geflochtenen Korb gleicht. Deshalb heißt das Gebäude, das auf der Rückseite der 200-Kwacha-Banknote zu sehen ist, im Volksmund auch „Korb“.
Ein Großteil der Bevölkerung Malawis hat in dieser Bank garantiert kein Geld. Denn fast jeder zweite Einwohner muss mit weniger als einem US Dollar pro Tag auskommen. Das Land zählt zu den ärmsten Volkswirtschaften der Welt, 90 Prozent aller Malawis arbeiten in der Landwirtschaft und produzieren für den Eigenbedarf. Was übrig bleibt, wird exportiert. Das ist hauptsächlich Tabak, gefolgt von Tee und Zuckerrohr. Doch ohne ausländisches Kapital und sehr viel Entwicklungshilfe aus dem Westen wäre Malawi längst kollabiert.
Wie fast jedes afrikanische Land wurde auch Malawi lange Zeit von einer europäischen Kolonialmacht regiert. In diesem Fall war das Großbritannien. Der schottische Missionar David Livingstone erreichte 1859 als erster Europäer den Malawisee, 1891 wurde das Land britisches Protektorat und 1907 in die Kolonie Njassaland umgewandelt.
Die Unabhängigkeit erlange Malawi erst 1964 unter Premierminister Hastings Kamuzu Banda, der am 6. Juli 1966 die Republik ausrief und ihr erster Präsident wurde. Banda und seine Malawi Congress Party (MCP) regierten das Land diktatorisch. Andere Parteien waren verboten, Andersdenkende wurden weggesperrt. Die Diktatur endete 1993 durch ein friedliches Referendum. Die ersten freien Wahlen gewann 1994 Bakili Muluzi von der United Democratic Front (UDF). 2004 wurde er von seinem Wunschkandidaten Bingu Mutharika abgelöst.
Die meisten Regierungsgebäude stehen auf dem Capital Hill. Dessen Eingang ist durch Tore und bewaffnete Wachmänner verriegelt. Mein Spaziergang endet hier, bevor ich überhaupt etwas von der Machtzentrale sehen konnte. Nur das kleine Monument für die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallenen malawischen Soldaten steht mir offen. Es erinnert zugleich an die erste Widerstandsbewegung gegen die britische Fremdherrschaft. Die regte sich 1915, als London die Wehrpflicht für malawische Koloniebewohner anordnete. Man brauchte Kanonenfutter für den Ersten Weltkrieg.
Zwischen Neustadt und Altstadt liegt ein Naturschutzgebiet mit angegliedertem Lilongwe Wildlife Centre. Es ist vor einem Jahr mit Spendengeldern von „Land & Lake Safaris“ eröffnet worden und bietet einer Reihe von Wildtieren ein neues Zuhause. Darunter sind viele ehemalige Zootiere, aber auch aus Privathaushalten gerettete Affen und Reptilien, denen das Wildlife Center einen angenehmen Lebensabend bereitet. Touristen können die Tiere symbolisch adoptieren, indem sie Geld für die großen Futtermengen spenden.
In meinem Eintrittsgeld von 840 Kwacha ist eine Führung durch die Anlage enthalten. Chandra, eine Schülerin, die in den Ferien ehrenamtlich im Wildlife Center arbeitet, bringt mich von Gehege zu Gehege und informiert mich über die Geschichte der einzelnen Tiere. Die Tüpfelhyäne Shadow verbrachte mehr als zehn Jahre im Zoo und ist nun so etwas wie die Grande Dame der Anlage. Sie hat 2500 Quadratmeter für sich allein zur Verfügung und bekommt jeden Tag vier Kilogramm Fleisch. Ich bin bei der Nachmittagsfütterung dabei, als Shadow fünf tote Hühner zerknabbert. Und ich lerne wieder was dazu: Weibliche und männliche Hyänen sind nur an ihren unterschiedlichen Gesichtern zu erkennen und nicht etwa an den Geschlechtsteilen. Denn auch eine Dame wie Shadow hat im Unterleib männliche „Private Parts“, wie Chandra es vornehm ausdrückt.
Der Leopard Kambuku dreht uns nur den schön gemusterten Rücken zu. Er schläft den ganzen Tag. Anders als viele andere Tiere im Wildlife Center wird er nie wieder in die Wildnis entlassen werden können. Er hat sich in seiner früheren Heimat, dem Nyika Nationalpark die Kniescheibe zertrümmert, die trotz einer Behandlung im Zoo von Lilongwe nicht wieder heilen wollte. Jetzt humpelt er durch sein 2500 Quadratmeter großes Gehege. Wenn er nicht gerade schläft.
Im Affengehege steckt mehr Leben. Vor allem, als die Fütterung beginnt. Damit die Paviane nicht faul und fett werden, bekommen sie das Essen nicht einfach vorgesetzt. Ein Angestellter des Wildlife Centers wirft angefeuchtete Brotklumpen in hohem Bogen durch das Gehege, sodass ein eifriges Wettrennen beginnt. Die Kleinsten, festgeklammert unterm Bauch der Mutter, müssten bei diesem Gerenne eigentlich seekrank werden.
Star unter den Pavianen ist Lucky. Er wurde im Juli 2007 von einem Markt in Salima gerettet, wo ihn ein Tourist bei einem Händler entdeckt hatte. Als Lucky klein war, wurde seine Mutter getötet. Der Nachwuchs wurde an eine Kette gebunden, die sich im Laufe der Jahre in den Körper des wachsenden Affen fraß. Die Wunde ist inzwischen verheilt.
Die längste Anreise haben der „Blue Monkey“ Boenoendi und seine Artgenossen hinter sich. Sie wurden vor Jahren illegal nach Holland verkauft, im Juli 2007 aber durch ein „Relocation Programme“ wieder nach Malawi zurückgeholt. Das wirft bei mir die Frage auf, ob es sich ein bettelarmes Land wie Malawi leisten soll und darf, Affen um die halbe Welt zu fliegen, wenn anderswo das Geld für die Schulbildung und Ernährung der Kinder fehlt.
Um 17 Uhr bin ich wieder im Hotel und rufe beim Flughafen an. Unter der angegebenen Nummer geht niemand ans Telefon. Es liegt auch keine Nachricht für mich vor. Mit andern Worten: Eine weitere Nacht ohne Koffer liegt vor mir, ein weiterer Tag in meinen allmählich müffelnden Klamotten auch. Die Wut auf South African Airways wächst.
Samstag, 9. August 2008
Lilongwe
Endlich: Mein Koffer ist in Lilongwe eingetroffen. Ich muss ihn aber dummerweise selbst am Flughafen abholen. Keine Airline fühlt sich dafür zuständig, ihn zu meinem Hotel zu bringen. Esther von der Rezeption vermittelt mir den Taxifahrer Mustafa, der mich zum Sonderpreis von 7000 Kwacha in seiner klapprigen Kiste zum Flughafen und später samt Koffer wieder zum Hotel fahren soll.
Der Koffer ist schnell ausgehändigt, doch mein Kampf um die Erstattung der 7000 Kwacha dauert über eine Stunde. Am Ende bekomme ich meinen Willen und Mustafa das Geld bar in die Hand gedrückt. Während der unverschämt langen Wartezeit fällt mir eine Gedenktafel ins Auge, die an die Eröffnung des Flughafens am 31. August 1983 erinnert. Damals noch unter Präsident Hastings Kamuzu Banda. Wohl wissend, dass er Malawi diktatorisch regiert hat, frage ich Mustafa in vorsichtigen Worten, welches Ansehen Banda heute in der Bevölkerung hat. „He was a good guy“, antwortet Mustafa. Banda habe viel für Malawi getan und alle wichtigen Bauvorhaben in Gang gebracht. Meinen Einwurf, dass ihn alle Reisebücher als Diktator schimpfen, will Mustafa nicht gelten lassen. Das sei üble Propaganda.
Lebt Banda eigentlich noch? Mustafa verneint. Er sei 1997 gestorben und in einem Mausoleum begraben, das wir auf dem Rückweg zum Hotel gern noch besuchen können. Gesagt, getan. Das Hauptgrab des Mausoleums ist im Keller und darf nur bei vorheriger Anmeldung besichtigt werden. Doch der von der Regierung abgestellte Aufpasser führt mich in die obere Etage, wo großformatige Porträts und viele Blumenkränze die Erinnerung an den Gründervater der Republik wach halten.
Mustafa setzt mich am Hotel ab. Ich gebe ihm 1000 Kwacha Trinkgeld. Außerdem schenke ich ihm meine alte Jeans-Hose, damit er sie in der Verwandtschaft weiterverschenken kann. Mit meinem Koffer habe ich ja endlich auch meine in Mosambik gekauften neuen Hosen wieder.
Die Warteschlangen vor den Bankautomaten sind am Samstag zehnmal so lang wie an Wochentagen. Zumal die meisten Automaten schon gegen Mittag leer sind. Nach mehr als einer Stunde Wartezeit bin ich endlich an der Reihe. Zum Glück verträgt sich die Technik sogar mit meiner EC-Karte. Statt bei 8000 Kwacha liegt das Limit heute bei 20 000 Kwacha, rund 87 Euro. Ich ziehe alles, was ich kriegen kann.
Das bekommen auch die Bettler und Händler in der Umgebung mit, für die ich nun ein noch viel dankbareres Opfer als sonst schon bin. Die wenigen hundert Meter bis zum Hotel sind ein Spießrutenlauf, auf dem ich unentwegt „Hey Boss, give me money!“ zu hören bekomme. Alternativ auch „Give me twenty!“ oder „Give me hundred!“ Tief in mir steigt die Sehnsucht nach einer Flucht aus allen Entwicklungsländern dieser Welt.
Ein handgemaltes Schild macht mich neugierig: Mufasa Lodge. Das Bed-and-Breakfast-Angebot ist nur wenige Meter von meinem Luxushotel entfernt. Da ich ab morgen eine neue und gern auch günstige Unterkunft brauche, gehe ich in den zweiten Stock des modernen Gebäudes. Eine weiße Frau öffnet die Tür und zeigt mir das „Indische Zimmer“, das ich morgen für 30 US Dollar beziehen könnte. Es ist sauber, groß und gut. Ich sage zu und zahle sofort 4500 Kwacha, um es sicher zu haben.
Wir unterhalten uns auf Englisch, bis mich ihr europäischer Akzent dann doch neugierig macht. Kathrin stammt aus dem Raum Düsseldorf, ist mit einem Südafrikaner verheiratet und hat vor sechs Wochen, gemeinsam mit anderen Teilhabern, die Mufasa Lodge in Lilongwe eröffnet. Seit Ende April haben sie die Räume einer ehemaligen Berufsschule aufwendig renoviert und liebevoll eingerichtet. Ich freue mich auf meinen morgigen Umzug hierher, zumal mir Kathrin und ihr Mann Frank viele wertvolle Tipps für meine Reise durch Malawi geben können.
Heute Abend steht Kultur auf dem Programm: Im Portuguese Club, rund einen Kilometer von meinem Hotel entfernt, findet das „Music Crossroads Festival“ statt. Laut Eigenwerbung „The Greatest Musical Showdown in Southern Africa“. Bands aus Malawi, Mosambik, Tansania, Sambia und Simbabwe treten an, um Instrumente oder Workshops und Tourneen in Schweden zu gewinnen. Schweden? Ja, denn das „Music Crossroads Festival“ ist komplett gesponsert von europäischen Organisationen und Botschaften. Selbst die UNESCO und UNICEF sind daran beteiligt. Durchgeführt wird die Konzertreihe von der 1995 gegründeten Organisation „Jeunesses Musicales International“ (JMI), die Musikevents in 45 Staaten durchführt. Durch Musik soll die Jugend aller Länder zusammengeführt und zugleich der Kampf gegen Aids und Drogen gewonnen werden.
Der Eintritt kostet nur 50 Kwacha, also 22 Cent. Eine geschlagene Stunde lang halten die vorwiegend weißen Sponsoren und Juroren eine Rede nach der anderen und übergeben Spendenschecks an den Kulturminister. Dann endlich, um 17.30 Uhr gehört die Bühne den Künstlern. Was die Bands zu bieten haben, kann sich wirklich hören und sehen lassen.
Die jeweils zwei Titel pro Band haben ein unglaubliches Tempo, das die Zuschauer schnell von den Plastikstühlen reißt und ausgelassen mittanzen lässt. Vor der Bühne wird jede Menge Staub aufgewirbelt. Die Kostüme und viele Instrumente sind typisch afrikanisch, die Musik ist ein gelungener Mix aus traditioneller Stammesmusik und internationalen Pop- bis Reggae-Klängen. Meine absoluten Favoriten sind die Liverpool Young Stars, vier Brüder aus Chikuni im südlichen Sambia. Mit ihren selbstgebastelten Instrumenten und ihren eigenwilligen Kostümen aus Blättern, Lumpen und Körperbemalung würde das Quartett auch auf jedem europäischen Musikfestival abräumen.
Das Schöne ist: Weil ich als Weißer automatisch wie einer der Organisatoren und Geldgeber wirke, kann ich mit meiner Kamera vor, hinter und sogar auf der Bühne herumlaufen und hautnah Fotos schießen, ohne dass irgendjemand merkt, dass ich hier nur Zaungast bin. Wenn überhaupt mal jemand auf mich zukommt, dann nur, um zu fragen, ob ich ihm das Foto später mailen kann. So komme ich am Abend mit Musikern und Fans aus vielen afrikanischen Ländern in Kontakt.
Die ausgelassene Stimmung im Publikum erfährt einen leichten Dämpfer, nachdem die zwölfte und letzte einheimische Band die Bühne verlassen hat. Die Jury zieht sich zurück und die Wartezeit wird durch die extra aus Europa angereisten Bands Oh Hollie Neverdays aus Schweden und Maslow aus Irland gefüllt. Die Jungs, die ich aus dem Frühstückssaal meines Hotels kenne, bemühen sich redlich, doch der Funke will nicht überspringen. Kein Wunder, denn gegen die flotten Rhythmen Afrikas ist der bemühte Poprock aus Europa chancenlos. Die Künstler blicken in fragende Gesichter eines Publikums, das regungslos auf den Sitzen klebt. Erst als das Iren-Trio Maslow von der malawischen Band Body Mind & Soul unterstützt wird, kommt wieder Leben auf den Platz.
Die Jury hat ihre Arbeit getan und verkündet die Sieger: Platz eins und eine damit verbundene Europa-Tournee geht an Koomboka aus Simbabwe. Die von mir bevorzugten Liverpool Young Stars gewinnen immerhin die Teilnahme an Workshops in Schweden und Kroatien. Bei der Preisverleihung zeigt sich einmal mehr, dass „gut gemeint“ nicht immer gleichzusetzen ist mit „gut gemacht“. Weil jeder weiße Entwicklungshelfer in Sachen Musik unbedingt auch mal im Scheinwerferlicht stehen will, kommt es zu recht peinlichen Situationen. Der Hauptorganisator ist völlig betrunken und lacht als einziger über seine müden Witze. Der schwedische Abgesandte von JMI schlägt dem Fass den Boden aus. Er informiert die Liverpool Young Stars, dass ihre Musik-Workshops in Schweden und Kroatien in einem Camp stattfinden: „But this is not a Concentration Camp, it is a Camp with Fun!“ Schlimmer geht’s nimmer.
Sonntag, 10. August 2008
Lilongwe
Im Frühstückssaal meines Hotels feiern die weißen Organisatoren und Juroren noch am Morgen sich und ihr gestriges Music Crossroads Festival. Die Karawane zieht heute weiter nach Salimba, um dort ein weiteres Konzert auszurichten.
Am Mittag ziehe ich in die Mufasa Lodge um. Aus dem Fenster meiner neuen Bleibe erblicke ich in der Ferne die Minarette zweier Moscheen. Die will ich besichtigen. Der Weg dorthin führt über den Zentralmarkt von Lilongwe, der auch am Sonntag geöffnet hat. Das Wirrwar aus Bretterbuden wirkt heute noch chaotischer als vorgestern und bietet allerlei Fotomotive.
Die Moscheen im islamischen Viertel sind von vielen Geschäften und Werkstätten umgeben, doch am Sonntag wirkt der Stadtteil wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die überhaupt in den Straßen zu sehen sind, betteln derart penetrant und schauen dermaßen grimmig drein, dass ich es vorziehe, in die Altstadt zurückzugehen. Es kommt auf meiner Weltreise nur selten vor, dass ich mich unsicher fühle. Doch in diesem Teil Lilongwes ist das der Fall.
Ich kehre in die Mufasa Lodge zurück und will meine weitere Tour durch Malawi planen. Die Deutsche Kathrin und ihr südafrikanischer Mann Frank geben mir allerlei Adressen und Tipps. Außerdem raten sie mir, den Süden nicht außer Acht zu lassen. Das widerspricht meinem Plan, eine Woche lang Richtung Norden zu reisen und dort die Grenze nach Tansania zu überqueren. Wenn ich aber im Süden wirklich noch Monkey Bay und Cape McClear besuche, gerät mein Zeitplan durcheinander. Ich müsste Zeit gewinnen, indem ich von der ehemaligen Hauptstadt Zomba mit Air Malawi in den Norden fliege.
Beim Abendessen erzähle ich Frank von den peinlichen Auftritten der europäischen Organisatoren beim gestrigen Musikfestival. Er stimmt mir zu, dass die Entwicklungshilfe in Afrika zum Teil Übermaß und seltsame Formen angenommen hat. „Früher bestand eine Familie in Malawi aus einer Mutter, einem Vater, zwei bis fünf Kindern und einer Großmutter“, erzählt Frank. „Heute besteht sie aus einer Mutter, einem Vater, zwei Kindern, einer Großmutter, einem UN-Helfer und einem UNICEF-Botschafter.“ Frank ist als Reiseleiter viel mit Touristen in Afrika unterwegs. An vielen Orten bekommt er keine Zimmer in den guten Hotels: „Die sind immer ausgebucht, weil dort gerade eine UN-Konferenz stattfindet.“ Frank ist fest davon überzeugt, dass das Hungerproblem in Malawi längst gelöst wäre, wenn die Unmengen an Spendengeldern und Entwicklungshilfe wirklich für die Nahrung ausgegeben würden und nicht für die Konferenzen, Luxushotels und teuren Autos der UN-Vertreter.
In der kleinen Bar der Mufasa Lodge treffe ich unverhofft auf Landsleute: Drei deutsche Medizinstudenten, die vier Wochen lang unter Aufsicht einer ebenfalls deutschen Ärztin im Krankenhaus von Malawi arbeiten, haben sich langfristig in der Mufasa Lodge eingemietet. Sie erzählen mir von den vielen „echten“ Krankheiten, mit denen sie hier in Afrika täglich konfrontiert werden. In Deutschland muss ihr Berufsstand fast nur noch Diabetes und andere Wohlstandskrankheiten behandeln.
Fortsetzung folgt
Michael Scholten
Der in Kambodscha lebende Reise- und Filmjournalist Michael Scholten (TV Spielfilm, TV Today, ADAC Reisemagazin, Spiegel Online) hat bisher 123 Länder bereist. Über seine längste Reise, die ihn innerhalb von 413 Tagen in 40 Länder führte, ist das 560 Seiten starke Buch “Weltreise – Ein Tagebuch” erschienen. Es umfasst 68 Farbfotos, viele Berichte über Filmlocations in Kambodscha, Sri Lanka, Neuseeland, Panama etc. und ist für 15 Euro unter www.michaelscholten.com zu haben.
- Holger Doetsch: Das Lächeln der Khmer. Ein Kambodscha-Roman. - 31. März 2019
- Peter Orloff zum 75. - 12. März 2019
- Interview mit Clemens Schick über die HISTORY-Reihe „Guardians of Heritage – Hüter der Geschichte“ - 26. November 2017
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