Eine engagierte und erhellende Studie über den Zusammenhang von Geld, Kredit und Kapitalismus

Schulden sind in aller Munde. Viele Privathaushalte stehen nicht erst seit der globalen Wirtschaftskrise tief in der Kreide. Über die Verbindlichkeiten von Staaten, Bundesländern oder Städten entbrennt regelmäßig Streit. Manche wollen in den Kreditaufnahmen der öffentlichen Haushalte gar die Ursache des anhaltenden europäischen Dramas ausgemacht haben. Und noch vor zehn Jahren regte sich ein globaler Protest gegen die Bedingungen unter denen afrikanische oder lateinamerikanische Regierungen Geld bei Weltbank oder Internationalem Währungsfonds leihen mussten.

Aber was sind Schulden eigentlich? Warum belegt nicht nur die deutsche Sprache finanzielle Verbindlichkeiten und moralische Verfehlungen mit demselben Wort? Diese und andere Fragen beantwortet David Graeber in einer jetzt veröffentlichten Studie. In Schulden untersucht der US-Anthropologe die 5.000 Jahre alte Geschichte von Kredit und Geld. Dabei zieht er Material aus allen Epochen und Kontinenten zurate und weitet so den Blick zu einem eindrucksvollen Panorama, in das neben sozioökonomischen auch kultur- und religionsgeschichtliche Argumente einfließen.

Schulden sind ein Herrschaftsinstrument und wirken destruktiv auf Individuen und Gesellschaften. Das zeigt Graeber etwa am Beispiel von Hernán Cortés. Der spanische Eroberer setzte 1518 mit seiner kreditfinanzierten Expedition gegen die Azteken alles auf eine Karte. Am Ende des blutigen und ertragreichen Feldzugs mussten seine Konquistadoren feststellen, nun ihrerseits von Cortés in die Schulden getrieben worden zu sein. Die Grausamkeit und die Gier, mit der sie im Folgenden die unterworfenen Provinzen regierten, resultierten auch aus Wut und Scham über ihre Schuldenlast, die sie mit aller Macht abzutragen versuchten. Dieses Phänomen lässt sich zu allen Zeiten beobachten: Der Schuldner betrachtet alles unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen; Geld wird zum moralischen Imperativ, neben dem ethische Grundsätze verblassen.

„Das besondere Merkmal des modernen Kapitalismus“, schreibt Graeber, „besteht darin, dass er soziale Regelungen hervorbringt, die uns so zu denken zwingen.“ In der Beziehung zwischen risikobereitem Spieler und abwägendem Finanzier sieht er eine Grundkonstellation unseres Wirtschaftssystems: Die Entscheider denken, sie hätten ihr Schicksal nicht in der Hand, und die wirklich Einflussreichen wollen es gar nicht zu genau wissen. Skrupellose Geschäftspraktiken rechtfertigt das Führungspersonal einer AG mit dem Gewinninteresse der Aktionäre, dem sie als Angestellte verpflichtet seien; die Anteilseigner wiederum bestreiten ihren Einfluss aufs operative Geschäft.

Die rücksichtslose Berechnung eines Cortés ist charakteristisch für Vereinbarungen unter Fremden. Unter Angehörigen derselben Gruppe, seien es Adlige, seien es Dorfbewohner, herrscht eher ein Verhältnis, das der Anthropologe als „alltäglichen Kommunismus“ beschreibt. Graeber meint damit weder Staatsform, noch Utopie, sondern ein altes, überall anzutreffendes Prinzip, das menschliche Zusammenleben zu organisieren, bei dem gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ In diesem Fall wirken Schulden als sozialer Kitt. Graeber illustriert das am Beispiel volkstümlicher Kreditsysteme im mittelalterlichen England. Da die Landbevölkerung zur Zeit der Tudors nicht über Bargeld verfügte und alle etwas zu verkaufen hatten, war jeder zugleich Schuldner und Gläubiger. Kredit basierte auf Ansehen und Wohlwollen. So konnten in dieser – wie Graeber betont keineswegs idealen, sondern patriarchalen – Gesellschaft neben dem Markt zeitweilig ältere Formen einer Solidarwirtschaft fortbestehen.

Dies änderte sich im Übergang zum Kapitalismus. Händler und Beamte, die schon länger mit Bargeld operierten, assoziierten Kredite zunehmend mit Verbrechen. Geld zu leihen galt bald als moralisch anrüchig, für säumige Schuldner wurden schwere Strafen eingeführt. Die Kriminalisierung der Verschuldung, argumentiert Graeber, attackierte auch die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Zugleich zeigt er nicht nur an diesem Beispiel, dass wichtige Grundannahmen der Wirtschaftswissenschaften historisch falsch sind. Seit Adam Smith behauptet der ökonomische Mainstream eine lineare Entwicklung, in deren Verlauf der Tauschhandel zunächst vom metallischen und später vom virtuellen Geld abgelöst worden sei. Tatsächlich weisen aber schon früheste Quellen aus Mesopotamien auf die Existenz von Geld hin – sogar auf eine Kreditwährung. Die Silberschekel dienten im Zweitstromland vor 5.000 Jahren vor allem als Verrechnungseinheit. Bezahlt wurde mit der entsprechenden Menge an Getreide. Bis zur nächsten Ernte ließen die Bauern anschreiben. Nur fahrende Händler erhielten Silberstücke.

Seitdem dominierte in der Geschichte Eurasiens zyklisch mal das virtuelle, mal das metallische Geld. So benutzten die Menschen im Mittelalter überwiegend Kreditgeld in Form von Kerbhölzern oder Schuldscheinen, ab etwa 1450 herrschten Gold- und Silbermünzen vor, und seit 1971 gewinnt virtuelles Geld erneut massiv an Bedeutung.

Staatsschulden wiederum entsprangen historisch einem Bündnis von Kriegsherren und Geldgebern. So half die Gründung der Bank of England 1694, der ersten Zentralbank der Welt, dem König, seine Kriegsschulden zu begleichen. Bei dem seinerzeit ausgegebenen Papiergeld handelte es sich de facto um Schuldscheine auf die Verbindlichkeiten, die der Regent bei den Eignern der Bank hatte: „Papiergeld war Schuldengeld, und Schuldengeld war Kriegsgeld, und dabei blieb es.“

Mit der Gründung von Zentralbanken verschmolzen die Interessen von Kriegsherren und Finanziers institutionell. Die Grundlage für den Finanzkapitalismus war geschaffen. Anleihenmärkte, Brokerfirmen oder Leerverkäufe existierten schon vor dem Aufkommen von Fabriken und Lohnarbeit, schreibt Graeber. Damit widerspricht er einer Kritik, die den Vorrang der Realwirtschaft gegenüber dem Finanzwesen betont. Die heutige Krise ist für ihn eine des Kapitalismus, der offenbar nicht funktioniert, sobald er für alternativlos gehalten wird. Denn wenn die Banken ewig Bestand haben, warum sollte man dann nicht unbegrenzt zukünftiges Geld, also Kredit erzeugen? So entstehen besonders heftige Spekulationswellen.

Zudem erfolgte in der neoliberalen Phase die ökonomische Integration der Bevölkerung über Kredit. Der Grundsatz, die Beschäftigten am Produktivitätszuwachs teilhaben zu lassen, wich der Ermunterung, auf den Aktienmärkten zu investieren – und sich zu verschulden, etwa für Hypothekenkredite. Doch die „Demokratisierung des Kredites“ scheiterte, und 2008 „musste die amerikanische Regierung entscheiden, wem es wirklich erlaubt sein sollte, aus nichts Geld zu machen: den Bankiers oder den Normalbürgern.“ Im Ergebnis sind es die Bürger, die „der verderblichen Moral der Schulden“ gehorchen müssen: „Die finanziellen Imperative sollen uns alle zu Plünderern herabwürdigen, zu Menschen, die ihre Umwelt nur als Ansammlung von Dingen betrachten, die potenziell zu Geld gemacht werden können.“

Was folgt daraus? Graeber beschließt sein Buch mit einem vorsichtigen Plädoyer für ein Ablassjahr, in dem die Verbindlichkeiten von Staaten und Bürgern annulliert werden. Die heutigen Schulden von Privathaushalten sind nicht moralisch anrüchig – sie sind schlichtweg nötig, um ein würdiges Leben zu führen.

David Graeber bemüht nicht die Fiktion des neutralen Forschers. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie, ist Anarchist und langjähriger Aktivist, zunächst in der globalisierungskritischen und später in der Occupy-Bewegung. So ist Schulden ebenso ein aufklärendes und engagiertes Buch wie die gründlich dokumentierte Arbeit eines Wissenschaftlers, der die historische Vogelperspektive einnimmt, um ein drängendes Gegenwartsproblem zu erhellen. Das gelingt Graeber außerordentlich gut, auch da er äußerst lesbar und zuweilen pointiert formuliert.

Steffen Vogel

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre.
Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer.
Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 536 S., 26,95 Euro

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