Die „Sopranos“ und andere legale Drogen

Warum sitzen wir seit Mitte der 90er-Jahre gebannt vor dem Fernseher und schauen TV-Serien wie Süchtige? Eine schlaue neue Buchreihe liefert Antworten.

Werden der Mafiaboss Tony Soprano und seine Psychoanalytikerin Dr. Melfi zusammen im Bett landen? Arbeiten die Drogendealer und Polizisten von „The Wire“ nur zufällig auf der einen oder anderen Seite des Gesetzes? Darf ein amerikanischer Präsident verschweigen, dass er an multipler Sklerose leidet? Das sind Fragen, die weltweit Millionen von Menschen beschäftigen, als ob es dabei um ihr eigenes Leben oder Probleme ihrer engsten Freunde ginge und nicht um erfundene Figuren aus amerikanischen TV-Serien.

Für und über diese Seriensüchtigen haben der Filmwissenschafter Simon Rothöhler und der Zürcher Diaphanes-Verlag nun eine neue Buchreihe eröffnet, die einen ganzen Fächer kluger Antworten darauf liefert, warum diese Serien uns Zeit und Schlaf rauben, intellektuell herausfordern und zu Tränen rühren. Warum sie die relevanten großen Geschichten der Gegenwart erzählen und Kinofilmen und Romanen langsam den Rang ablaufen.

Rothöhler hat selber für die Reihe das Bändchen zu „The West Wing“ geschrieben. Er erklärt diese Büro- und Polit-Serie rund um einen genialischen demokratischen Präsidenten als wunschgetriebene Gegenwelt zur Bush-Präsidentschaft. Die virtuos geschriebene Serie aus der Feder von Drehbuchautor Aaron Sorkin schweißte aber nicht nur frustrierte Bush-Gegner zu einer Fiktionsgemeinschaft vor den Fernsehern zusammen, sondern war auch eine fast prophetische Vorbereitung auf Obama. Dessen Wahlerfolg nimmt „The West Wing“ ebenso vorweg wie die darauffolgenden Enttäuschungen in den Niederungen der Realpolitik. Doch Rothöhler ordnet die Serie nicht einfach in die herrschende Politik ihrer Zeit ein, sondern zeigt, wie hier mit Sprache machtvolle alternative Realitäten geschaffen werden. Gerade so, wie Sprache auch Politik macht: mit einer unachtsam hingeworfenen Bemerkung oder einer wochenlang zur Perfektion geschliffenen Kampfrede an die Nation.

Slang wie von Shakespeare

Die funkelnden Dialoge sind auch der Angelpunkt der anderen Analysen der Diaphanes-Reihe. Ob der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen mit „The Sopranos“ zur Mutter aller modernen TV-Serien zurückgeht oder ob der Film- und Literaturwissenschafter Daniel Eschkötter sich in die Straßenkämpfe der Abhör-Serie „The Wire“ stürzt, zuallererst geht es dabei um Sprache: um den Slang in Baltimores Problemquartieren, der manchmal wie Shakespeare klingt, und um die mit „Godfather“-Zitaten angereicherten Sätze der Mafiosi von New Jersey. Mit ihrem Anführer Tony Soprano (James Gandolfini), der wegen Panikattacken in der Psychoanalyse landet, findet Diederichsen ein griffiges Bild für das Suchtpotenzial der Serien: So wie die Analytikerin Dr. Melfi einmal pro Woche den Sorgen und Lügen ihres Patienten zuhört, sitzen auch wir Woche für Woche gebannt vor dem Fernseher und wollen wissen, wie es weitergeht. Es herrscht eine innige Nähe, ja Abhängigkeit zwischen Zuschauern und Serie.

Dies auch deshalb, weil die Macher von „Sopranos“ für fast jeden Zuschauer eine Identifikationsfigur parat haben: Wen Liebesbeziehungen und Familienstrukturen interessieren, der folgt Tonys Frau Carmela, wer Gewalt, Männerkrisen und künstlerische Ambitionen sucht, identifiziert sich mit Nachwuchs-Mafioso Christopher, wohingegen alle kühlen Möchtegernanalytiker im Sessel von Dr. Melfi Platz nehmen. Diederichsen scheut sich auch nicht, den Serienboom kritisch als Symptom unserer Zeit zu hinterfragen, als konsumgesteuerten und kleinbürgerlichen Rückzug aufs Sofa und in die eigenen vier Wände.

Herzschlag einer urbanen Welt

Immerhin in Gedanken auf die Straße geht, wer „The Wire“ schaut. In den Worten von Daniel Eschkötter erfährt man hier eine „Verdichtung gesellschaftlicher Totalität“. Eschkötter beschreibt „The Wire“ als einen mit scharfen Realitätssplittern aufgeladenen, audiovisuellen Großstadtroman rund um ein weitläufiges Figurengewirr. Dieses ist lose verbunden durch die titelgebende Abhöreinrichtung (den „wire“), mit der die Polizei die Drogenhändlerringe und ihre politischen Profiteure überführen will. Als Zuschauer hört man so den Herzschlag einer vielstimmigen urbanen Welt ab und erkennt, wie konsequent alles in allem enthalten ist: Der Kapitalismus im Drogenhandel, das Verbrechen im Gesetz, das Glück im Verderben. Was bleibe, schreibt Eschkötter, sei die Mannigfaltigkeit, das Gewimmel und damit „eine Gerechtigkeit der Stimmenverteilung, so selten das Leben in ‚The Wire’ auch ‚gerecht’ sein mag.“

Nach solchen Schlussfolgerungen und spätestens bei den Anspieltipps, die alle Analysen abrunden, geht man mit den klugen Büchlein in der Hand zu den Serien zurück und lässt sich – mit neuen Ideen aufgefrischt – ein weiteres Mal hineinziehen. Bleibt zu hoffen, dass weitere Serien-Booklets folgen werden. Die Wunschliste wäre lang.

Daniela Janser (Tages-Anzeiger; 18.06.2012)

Daniel Eschkötter: The Wire
Diedrich Diederichsen: The Sopranos
Simon Rothöhler: The West Wing
Diaphanes, Zürich 2012.
Je 100 S., ca. 13 Fr.