Zum Greifen nah

Ein Wunder der an Wundern nicht eben armen Kino- bzw. Filmgeschichte ereignet sich derzeit. Nach Einführung des Tons und der Farbe ist jetzt die dritte Dimension „erobert“.  „Avatar“, der als der kommerziell erfolgreichste Film aller Zeiten gefeiert wird, brachte den Durchbruch: 3 D ist mittlerweile in aller Munde, ist das Gebot der Stunde und die Hoffnung für das Kino. Doch ist diese berechtigt? Was ist wirklich neu an der dritten Dimension? Und was bedeutet diese für das Filmerleben?

Genau genommen handelt es sich bei dem was als 3 D Kino bezeichnet wird um eine stereoskopische Projektion im Kinoraum. Denn wir sehen ja keine dreidimensionalen Objekte – dann wäre Kino letztendlich deckungsgleich mit Disneyland… Letztendlich geht es um eine, verglichen mit 2 D, veränderte Form der Erzeugung von Illusionen. Von immersivem Erleben ist in diesem Zusammenhang gern die Rede. Gemeint ist damit, dass wir uns ganzheitlicher als bisher in die Filmbilder versenken. Die Tiefe eines an sich flachen Bildraumes soll „unmittelbarer“, „echter“ erfühlt werden. Es soll so sein, als ob die exotischen, sanft dahinschwebenden Blüten nicht nur auf dem schönen blauen Körper des Avatars landen, sondern quasi auch auf unseren Armen. Solche sensualistisch sanften, friedvollen Szenen sind meiner Meinung nach das eigentlich Neue in Bezug auf 3 D. Denn bisher wollte man vor allem mit der Angst – und mit dem Sex –  Kasse machen. Dabei mussten es nicht unbedingt gleich Pfeile, Messer und Monsterhände – oder gewaltige Brüste und riesige Zungen – sein, die den Zuschauer attackieren, es reichten auch die dürren Äste eines Baumes, die sich uns vermeintlich in die Augen bohren.

Dergleichen mentale Informationsverarbeitung wünschte sich bereits Oliver Wendell Holmes und man schreibt das Jahr 1859. Schon damals wollte man erreichen, dass mit Hilfe einer verbesserten Maschine des Sichtbarmachens, der Stereoskopie, ein Bildererlebnis zum Realerlebnis wird. Was also aktuell als „die Zukunft des Kinos“ und „das sensationell Neue“ verkauft wird, war so oder so ähnlich in der Vergangenheit bereits da. Der US-Amerikaner Holmes, seines Zeichens Mediziner, verfolgte mit der Technik der Stereoskopie jedoch ein kühnes, psychologisches Ziel. Sie sollte Menschen in eine Art Trance versetzen; sie glauben lassen, dass es möglich sei den eigenen Körper zu verlassen oder mindestens soweit zu vergessen, um ungeahnte Erfahrungen zu machen –  ganz ohne chemische Substanzen.

Als eigentlicher Erfinder des Stereoskops gilt jedoch der englische Physiker Charles Wheatstone. Ihm gelangen 1833 Messungen der Binokularität des Auges. Damit konnte nachgewiesen werden, dass jedes Auge ein jeweils eigenes Bild aufnimmt, welches im Sehzentrum des Gehirns zusammengesetzt und zu einer räumlichen Erfahrung „verrechnet“ wird. Wheatstone war von der Idee beseelt allein die Stereoskopie könne alle Mängel der Malerei überwinden. Einzig ihr allein gelänge die Illusion einer vollständigen Entsprechung zwischen dem Gegenstand und seinem Bild.

Der erwünschte Effekt der Stereoskopie richtete sich also von Anfang an einerseits auf Körpervergessenheit bzw. Körpersimulation, andererseits auf Naturähnlichkeit und scheinbare Unmittelbarkeit.

Auch als die Bilder „laufen lernten“ hörten die Versuche nicht auf, diese räumlich aufzuladen. Abel Gance, einer der Urväter der Kinematografie, experimentierte 1927 mit 3 D, und kein Geringerer als Sergei Eisenstein träumte in seinem letzten Text (1949) von einem plastischen Kino jenseits der „blassen Schatten“. (Auch die Nazis, ihrerseits von Haus aus hochgradig interessiert an der Raumfrage, beglückten die Deutschen mit einigen 3 D Filmen. Einer hieß „Zum Greifen nah“. Dahinter verbarg sich nicht etwa ein Propagandafilm mit Blick auf den Endsieg, sondern ein Dokumentarfilm der Volksfürsorge.)

Letztendlich waren es dann jedoch vor allem Porno- und Horrorfilme, die die Tiefen des Raumes cineastisch besetzt hielten. Daran änderte auch die große Kinokrise in den 50er Jahren nichts, als die Hollywood Studios verstärkt auf der Suche nach neuen zu vermarktenden Sensationen waren. Wenig bekannt ist, dass auch auch Alfred Hitchcock sich mit „Natural Vision“, wie die Technik damals genannt wurde, beschäftigte. „Bei Anruf Mord“ (1954) enthielt ursprünglich zahlreiche 3 D Raumeffekte. Doch der Meister des Grauens kam am Ende zu der Einsicht, dass es sich hier lediglich um eine kurzlebige Mode handle. Was jedoch nicht vergessen werden darf: Hitchcock arbeitete mit einer gigantisch großen und komplizierten Kamera.

Die alles entscheidende Wende in der Bildnahme wie auch in der Bildbearbeitung kam mit der Digitalisierung. Echte dreidimensionale Objekte können von nun an mit Computeranimationsprogrammen erstellt werden, ganz ohne oder mit nur teilweisem Einsatz von Kameras. Doch auch hier ergeben sich zahlreiche Probleme und Schwierigkeiten. So haben sich beispielsweise die Arbeitsbedingungen für Schauspieler, sofern sie überhaupt noch an der Produktion beteidigt sind, extrem verändert. Nicht nur, dass sie in sterilen grünen oder blauen Aufnahmestudios agieren, sondern ihre Körper werden mit Technik vollgepackt. Mit Sensoren, die ihre Bewegungen und Mimik auf  Computer übertragen und mit den 3 D Kameras, die auf Helmen befestigt sind. Zoe Saldana, die die weibliche Hauptfigur in Avatar spielt, schildert in Interviews wie schwierig bsp. die Kussszenen waren, da sich die auf den Köpfen der Schauspieler befestigten 3 D Kameraaufbauten permanent verhakten. Diese und sicher unzählige andere Tücken der Technik merkt man „Avatar“ jedoch an keiner Stelle an, und es soll Zuschauer geben, die nach dem Film sagen „ich bin blau“, womit weniger die eingebildete Körperfarbe als der Sinneszustand gemeint sein dürfte. Bei diesen Zuschauern scheint sich der Traum von Wedell Holmes erfüllt zu haben.

Doch mit der dritten Dimension kompliziert sich nicht nur die Art der Bildnahme, sondern auch die Bildsprache. Es gelten neue Regeln für die Raumtiefe, für die Platzierung der Figuren, für die Beziehung der Objekte untereinander. Schnittlängen und Blicklenkungen verändern sich und damit auch die Art des Erzählens in toto. Die Dramaturgien müssen sich der Technik anpassen um auf Dauer zu überzeugen. Deshalb kritisieren 3 D Profis wie James Cameron oder Regisseure der Pixar-Studios, Filme, die auf 2 D aufgenommen und nachträglich auf 3 D konvertiert werden. Und genau darauf scheint Hollywood im Moment zu setzen. Jüngstes Beispiel hierfür ist „Alice in Wonderland“ (Tim Burton). Die Szenen wurden klassisch aufgenommen und in der Postproduktion Bild für Bild aufgedoppelt und stereoskopisch verschoben. Zwar ist auch hier die Flora durch die die Heldin schreitet zauberhaft, aber keine Sekunde lang fühlen wir den Impuls eine dieser Blüten und Pflanzen zu berühren – wie in den bizarren Naturparadiesen aus „Avatar“. Doch Cameron hat nicht nur überzeugende 3 D Bilder geschaffen, sondern vor allem ein höchst geschicktes Konstruktionsprinzip seiner Geschichte: Denn er läßt den Zuschauer erleben wie der Held zunehmend seinen menschlichen und Körper verlässt und Gefallen am Avatar, am Ersatz- oder Zweitkörper findet. Dieser ist unversehrt, groß, schön und: er erlebt alles zum ersten Mal. Was ein Traumangebot!

Doch bei aller Faszination des Vereinnahmt-Werdens, zwei Dinge sollte man im Auge behalten. Letztendlich will 3 D Kino sagen: „Ihr seid die ganze Zeit betrogen worden! Flache Bilder sind nur Fenster zur Welt. Und jetzt kommt die Welt endlich herein!“ Aber auch das ist ja eine Täuschung, nur auf höherem technischen Niveau. Bilder zu dechiffrieren, zu werten und mit Leben zu füllen ist genau betrachtet eine psychologische Leistung, vor allem aber eine kulturelle Konvention. Wie diese sich im Zeichen des Digitalen und der Dreidimensionalität verändern wird ist das eigentlich spannende.

Auch bleibt abzuwarten, wie lange Hollywood mit seiner Schmuggelware 2 D als 3 D zu verkaufen Erfolg hat. Dies wird nicht zuletzt auch davon abhängen mit welcher Finesse die 3 D Macher ihr neues/altes Medium weiterentwickeln.


Autor: Daniela Kloock