„Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia“

Es gab eine Zeit, da ergab es einen Sinn, wenn du in Ciudad Juárez ermordet wurdest. Du starbst, weil du eine Drogenlieferung verloren hattest – oder w

eil eine in deinem Besitz war. Du starbst, weil du einen Drogendeal machen wolltest – oder weil du ein Polizeispitzel warst. Du starbst, weil du eine Frau warst – und es dunkel war. Es gab sogar eine »freundliche« Prozedur fürs Sterben, ein Ritual, bei dem die Bundes- oder Staatspolizei oder die Armee dich abholen, deine Hände und Füße mit Klebeband fesseln, dich foltern und schließlich töten und deinen Leichnam in ein Loch werfen würde, zusammen mit einer Dose Milch, der freundlichen Version von Kalk. Dein Tod würde „carne asada“ genannt werden, ein Barbeque. Das Leben machte damals Sinn, sogar noch im Tod. Das waren die guten alten Zeiten, meint Charles Bowden in seinem steinerweichenden, grausam hellsichtigen Buch „Murder City“.

Den Wahnsinn, der da kommen sollte, ahnten nur wenige Fiktionen voraus. Der Filmregisseur Sam Peckinpah etwa in seinem Road-Movie »Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia« von 1974 (!), in dem Warren Oates dem Rausch des Geldes und der Gewalt erliegt und, dem Wahnsinn immer näher, Gespräche mit jenem blutgetränkten Jutesack führt, den er in seinem Auto transportiert. Seither hat die Welt sich gedreht. Ciudad Juárez, mit dem texanischen El Paso über vier Brücken verbunden, ein Vorzeigeort des Freihandels mit über 50 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr, ist ein Schlachtfeld geworden. Die blutigste Stadt der Welt mit der weltweit höchsten Mordrate.

80.000 mexikanische Soldaten führen im Norden Mexikos einen Krieg gegen die Drogenkriminalität. Sagt man. Die USA unterstützen ihren Nachbarstaat dabei mit Milliarden von Dollar. Der »Krieg gegen die Drogen« an der Südgrenze der USA dauert nun 40 Jahre, verbessert hat sich nichts – nur dass das Rauschgift besser geworden und die Zahl der Toten ins Monströse gestiegen ist. Seitdem Präsident Calderón nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 eine groß angelegte Militäroffensive gegen die rivalisierenden Drogenbanden begann, wurden nach offiziellen Angaben landesweit mehr als 42.000 Menschen getötet. Jedes Jahr steigt die Zahl der Ermordeten, Gemetzelten und Gefolterten. Im Jahr 2010 waren es 15.273 Menschen, davon alleine in Ciudad Juárez 3.111 Ermordete. Alleine in dieser Stadt gab es in den letzten 50 Monaten mehr Tote als die Kriege in Irak und Afghanistan an „westlichen“ Gefallenen forderten.

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Mexiko gibt es nicht

Die USA und die Welt, auch die deutschen Medien, sehen ein Mexiko, das es gar nicht gibt. Sie sehen ein Traumland, die pure Fiktion, sagt der US-Autor Charles Bowden in seinem Buch »Murder City« (das noch kein deutscher Verlag anzufassen gewagt hat). »Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Fields« heißt der Untertitel. Bowden, ein Reporter und Poet, ein zutiefst am menschlichen Sein und seinen tiefsten Abgründen interessierter Augenzeuge, schreibt seit 30 Jahren über Land und Menschen im Südwesten der USA, dies ist sein 26. Buch – alle sind sie lesenswert (siehe die kleine Literaturliste am Ende). Bereits 1998 veröffentlichte er ein Buch über Juárez: »The Laboratory of Our Future«. Es schockierte mit zahlreichen, heimlich aufgenommen Fotos. Sein nun zweites über die Mörderstadt, in der viele Global-Konzerne billig produzieren lassen, begann er, weil er von den 48 Morden des Januar 2008 erschüttert war, denn das würde eine Jahresrate von 576 Morden für die Stadt bedeuten – gegenüber 301 im Jahr 2007. Als er sein Buch abschloss, wurden im Juli 2009 insgesamt 244 Ermordete gezählt, eine Rückkehr zu 100 Toten pro Monat hätte da fast schon friedlich gewirkt. Im August 2009 waren es 306 Tote, und dies in einer Stadt, die von 10.000 Soldaten und Polizisten kontrolliert wird. Seit deren Ankunft stieg die Todesrate um über 80 Prozent. Aufgeklärt wurde übrigens kein einziger Mord, nur fünf Prozent der Fälle wurden ansatzweise »untersucht«. Es gibt und gab kein einziges Verfahren, keine einzige Verurteilung. In El Paso, der amerikanischen Schwesterstadt, ging die Mordrate in den letzten Jahren von 20 auf fünf zurück.

Die Grenzen des Sagbaren

Bowden gerät in seiner in jeder Hinsicht mutigen literarischen Reportage an die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeit und des Sagbaren, treibt er doch über Monate »in einer Traumzeit des Todes«, wo die »Gewalt nicht ein Teil des Lebens ist, sondern das Leben selbst«. Ein ausdruckstarker und von Genregrenzen unbeeindruckter Autor, meint man stellenweise einem biblischen Propheten und Racheengel zu begegnen. Bowden schreibt kompromisslos, bietet weder Tröstungen noch schnelle Urteile. Hinschauen, (sich selbst und dem Leser gegenüber) erbarmungslos hinschauen, ist seine Arbeitsmaxime. Es ist ein Höllengemälde, das er skizziert, surreal und apokalyptisch, die einzige Zuflucht oft die zu den Worten, zur Kraft des poetischen Ausdrucks, zum kleinen Trost der gelegentlichen literarischen Überhöhung. „Dreamland“ heißt folgerichtig sein „Way Out of Juárez“, das Folgebuch zu „Murder City“, in dem er nicht mehr analysiert, nicht mehr logisch bleibt oder diszipliniert. Wut und Trauer, Vignetten und Schönheit der Sprache, dazu Grafiken der Künstlerin Alice Leora Briggs, sind die Mittel seines Selbstheilungsversuch, der noch einmal auf andere Weise die Hieronymus-Bosch-Stadt Ciudad Juárez an die Höhlenwand unserer Zivilisation zeichnet.

Dunkel und sauber. Gewalt und Geld

Wie brüchig die ist, wie nahe unter der dünnen Moral das Massenmörderische schlummert (Musil), damit konfrontiert Bowden uns auf fast jeder Seite von „Murder City“: Massengräber, enthauptete Leichen, niedergemähte Kinder, Todesbotschaften an Grabkränzen als »Gruß an das nächste Dutzend«, Hinrichtungen auf offener Straße, Überfälle auf Krankenhäuser, ein Mord am anderen. Ein Auftragskiller, der zu Gott gefunden hat und ausgestiegen ist, sucht den Reporter Bowden auf und erzählt ihm seine Lebensgeschichte, erzählt von seinen hundertfachen Morden, von tagelangen Folterungen, von Ärzten, die dabei halfen, von unsagbaren Grausamkeiten. Daraus wird ein weiteres Buch („El Sicario. The Autobiography of a Mexican Assassin“) und ein Dokumentarfilm, der die Zuschauer verstört. Kein einziger Kritiker wurde dem Film und seiner Sache auch nur annähernd gerecht, als „Room 163“ bei den Festivals von Venedig und München und auf arte lief.

In einem privaten Irrenasyl mitten in „Murder City“, das ein Arzt aufgebaut hat, trifft Bowden auf eine ehemalige Schönheitskönigin, die eine Massenvergewaltigung überlebt, dabei aber den Verstand verloren hat. Bowden schildert die unvorstellbar dunkle Seite einer Drogenwelt, die längst zum »sauberen« multi-nationalen Business geworden ist. Die Art, wie unsere Medien darüber berichten, sagt Bowden, erlaubt es uns, das Versagen des Freihandels zu ignorieren, der in Ciudad Juárez tote Menschen schneller produziert als jedes andere Produkt. Und nicht nur Tote, sondern auch mehr als eine Million zerstörter, traumatisierter Leben.

Charles Bowden: »Das Mexiko unserer Medien gibt es nicht. Aber es gibt ein zweites Mexiko, wo der Krieg nicht gegen, sondern um Drogen geführt wird, um den enormen Profit, den man mit Drogen machen kann, wo die Polizei und die Armee um ihre Anteile kämpfen, wo die Presse durch die Ermordung von Journalisten zum Kuschen gebracht ist, wo es niemals eine Grenze gab zwischen der Regierung und der Drogenwelt. Wir trauen uns nicht, dem ins Auge zu schauen, was da direkt vor uns ist, schauen dem nicht ins Auge, was sich hinter unseren feigen Begriffen von Kartellen und Drogenbossen verbirgt. Wir wollen nicht wissen, was unsere ›zivilisierte‹ Gier nach Drogen an Sturzbächen von Geld und Gewalt und Tod verursacht.“

Der Eisen-Fluss und das Geschäft mit den Knarren

Wollen wir davon auch nichts in unseren Kriminalromanen lesen? Die doch angeblich so trefflich die reale Welt abbilden, so mutig und gründlich recherchiert? Nun, die Zahl jener Kriminalromane, die sich in den letzten Jahren dieser Realität genähert haben, ist überschaubar. Ich bleibe bei US-amerikanischen Beispielen: Die 2010 zu Recht mit dem „Deutschen Krimi-Preis“ bedachten „Tage der Toten“ („Power of the Dog“) von Don Winslow mussten fünf Jahre auf eine deutsche Übersetzung warten. Mal sehen, wie lange es für das eben erschienene „Triple Crossing“ von Sebastian Rotella braucht, sozusagen ein Update zu Winslow, bei dem ich nur zu bemängeln habe, dass 25jährige Undercover-Protagonisten einfach einige Jahre zu jung sind, um wirklich die Hölle zu erfassen. Mit seinem Erstlingsroman unternimmt der Journalist Rotella, der seit 20 Jahren aus Südamerika und Mexiko berichtet, der Wirklichkeit Mexikos literarisch Herr zu werden. Seine Bestandsaufnahme „Twilight on the Line: Underworlds and Politics at the U.S.-Mexican Border“ stammt von 1998. In seinem Roman zeigt er schon auf den ersten Seiten in Richtung USA, die in der Öffentlichkeit nur als anonymer Geschäftspartner vorkommt, während die mexikanischen Drogenbosse stets mit Namen genannt werden – und unfassbaren Details, etwa dass „El Diego“ alleine 2010 über 1.500 Morde befohlen haben soll.

Der kalifornische Edgar-Preisträger T. Jefferson Parker (von dem seit 2004 nichts mehr in Deutschland verlegt worden ist) wagt sich in seinem im Januar 2010 erschienenen 17. Roman »Iron River« wirkungs- und eindrucksvoll an die Realität des Waffenhandels entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Die Killer Mexikos sind mit amerikanischen Waffen aus- und aufgerüstet, der »Eisen-Fluss« begann seit 2004 zu schwellen. 6.700 Waffenhändler alleine zwischen San Diego und Corpus Christi, eine Strecke von 2.000 Meilen, haben eine Lizenz zum freien Waffenhandel. T. Jefferson Parker schreibt: »Das sind mehr als drei Waffengeschäfte für jede Meile Kaktus und Klapperschlangen. Das ergibt ein klares Muster: Verdammter Tod und Zerstörung sind das, Dollar für Dollar, Waffe für Waffe. Und das ist nur die legale Seite, vom Schwarzmarkt zu schweigen.« Parkers Protagonist, der Polizist Charlie Hood (der sich in den drei vorangehenden Romanen seine Sporen in und um Los Angeles verdiente ) trifft auf einen mexikanischen Kollegen, der ihm sagt: »Mein Land wird in Stücke gerissen von eurem Land. Amerika liefert die Waffen und das Bedürfnis nach ihnen. Ich verstehe euch nicht. Ihr seid unersättlich nach Macht und Luxus. Ihr seid unersättlich nach Fortschritt, was immer er ist. Ihr seid unersättlich nach Drogen. Ihr nehmt Drogen, um aufzuwachen, und Drogen, um einzuschlafen. Ihr nehmt Drogen, um morgens aufmerksam zu werden, und Drogen für den Schlaf. Ihr nehmt Drogen, um Sex zu haben. Ihr nehmt Drogen, um eure Beine vorm Zittern zu bewahren. Auch für eure Kinder ist es einfach, an die Drogen zu kommen. Wir Mexikaner können euch diese Art von Denken nicht nehmen. Wir können eure Verwahrlosung nicht aufheben. Aber die Waffen, die könnt ihr wenigstens stoppen. Das müsst ihr.«

Alf Mayer

Text zuerst erschienen bei culturmag.de

Bücher von Charles Bowden:

Killing the Hidden Waters (1977, zur Verschwendung der Ressourcen)

Blue Desert (1986, eine Wüsten-Meditation)

Desierto: Memories of the Future (1991)

Blood Orchid: An Unnatural History of America (1995)

Juárez: The Laboratory of our Future (1998, Vorwort Noam Chomsky)

Down by the River: Drugs, Money, Murder, and Family (2002, Recherche über einen Tod im Drogenmilieu)

Blues for Cannibals (2002, über die conditio humana)

A Shadow in the City: Confessions of an Undercover Drug Warrior (2005, das Scheitern des Kriegs gegen die Drogen)

Inferno (2006, furioser Bildband)

Some of the Dead are Still Breathing: Living in the Future (2009)

Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

Dreamland: The Way Out of Juarez (2010, mit Illustrationen von A.L. Briggs)

El Sicario. The Autobiography of a Mexican Assassin (2011, mit Molly Molloy)

dazu: El Sicario, Room 164 (Dokumentarfilm, Italien 2010, 80 min., Regie: Gianfranco Rosi)no fax payday loans online