Propheten einer neuen Bilderwelt

Die Entwicklung der 3-D-Technik im Kino scheint unaufhaltsam – einher geht eine radikale Veränderung des Sehens und des Abbildens

Seit etlichen Jahren nun schon wird das Kino von einer neuen Technologie herausgefordert, dem dreidimensionalen oder stereoskopischen Film. Das kennen wir schon, sagen die Filmhistoriker und verweisen auf frühere „Wellen“, in denen die Kinos verlorengegangenen Publikumszuspruch mit einem „Raumkino“ zurückerobern wollten, und die dann wieder abebbten, als das Publikum es leid war, sich durch unkleidsame Brillen mit Indianerspeeren bewerfen oder in geöffnete Haifisch-Schlünde ziehen zu lassen.

Doch etwas ist diesmal anders: Der stereoskopische Film scheint sich zu etablieren, wenn auch vielleicht nicht mit der schnellen Marktmacht, wie es sich die Produktionsfirmen vorstellen, so doch mit einer gewissen Beharrlichkeit, die auf mehr schließen lässt als auf einen bloßen Medien-Hype. Vielleicht sind wir ja wirklich reif für eine radikale Veränderung unseres Bild- und Wahrnehmungsraumes.

Die Fotografie und der Film waren von ihren Erfindern von Anfang an als dreidimensionale Einrichtung gedacht. Schon bevor der Film auf die Leinwand projiziert wurde, sah der Besucher eines Nickelodeons in den Guckkästen dreidimensionale fotografische Bewegungsbilder, boxende Kängurus oder Tanz im Savoy. Thomas Alva Edison stellte 1891 seinen Kinetographen vor, und für ihn und seine Mitstreiter war von vorneherein klar, dass den mit dem Kinetographen aufgenommenen Filmen auch ein stereoskopischer Effekt gegeben werden sollte. Und 1915 wurde im Astor in New York der erste dreidimensionale Film auf die Leinwand projiziert. Regisseur war Edwin S. Porter, der zwölf Jahre zuvor mit „The Great Train Robbery“ den Western erfunden hatte, und der Film zeigte, höchst beeindruckend wie das zeitgenössische Publikum fand, die Niagara Fälle und Szenen aus dem ländlichen Amerika.

Man kann also sagen: Dem landläufigen Modell, nach dem der 3-D-Effekt immer mal wieder – und am ehesten in einer ökonomischen oder kulturellen Krise – dem Kino aufgepfropft wurde, um dann so schnell wieder zu verschwinden wie die „Sensation“ auftauchte, kann man ein anderes entgegensetzen, nach dem das Kino immer dreidimensional sein wollte, die entsprechende Technologie aber aus eher ökonomischen und kulturellen Gründen immer wieder zurückstellte.

Die kinematografische Räumlichkeit hat indes nur sehr wenig mit dem räumlichen Sehen in der Wirklichkeit zu tun; sie entwickelt eine andere, künstliche Räumlichkeit. So wie das Bild „wirklicher als die Wirklichkeit“ ist, ist dieses Bild „räumlicher als die Räumlichkeit“. Eine Räumlichkeit, deren Effekt sich rasch verbraucht, für deren Füllung aber bislang noch wenig narrative und ikonografische Modelle existieren. Man muss lernen, anders zu erzählen, und die bisherige Geschichte des stereoskopischen Films ist unter anderem die Geschichte des Lehrgeldes, was man dafür zu bezahlen hatte: Als das Fernsehen zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten des Kinos wurde, waren es nicht so sehr die anerkannten Filmkünstler, sondern fleißige Handwerker, die Abenteuerfilme, Science Fiction und Western mit 3-D-Effekten versahen und mit sensationellen Ankündigungen auf den Markt brachten. Der Horrorfilm „House of Wax“ von 1953, ironischerweise von dem einäugigen Regisseur André de Toth inszeniert, der die Effekte seines Filmes nie selber nachvollziehen konnte, spielte die für damalige Verhältnisse sensationelle Summe von 4,5 Millionen Dollar ein und heizte den Boom noch einmal tüchtig an. Auch Regisseure, die nicht viel mit dem technologischen Schnickschnack anzufangen wussten, wie Alfred Hitchcock, mussten nun stereoskope Versionen ihrer Filme fertigen. Fatal erwies sich in dieser Zeit aber vor allem etwas, was auch in der Gegenwart dem 3-D-Film eher schadet als nützt, nämlich dass man Filme mit dem Verfahren „aufzuwerten“ versuchte, die dafür gar nicht geeignet waren, und daher das Publikum enttäuschen musste.

Für das „gewöhnliche“ Kino wurde 3-D erneut attraktiv, als es technologisch vereinfacht und ökonomisch erschwinglich wurde. Im Jahr 2005 zeigte Walt Disney den ersten Film in der neuen Real-D-Technologie, den computeranimierten „Himmel und Huhn“, der nur einen einzelnen digitalen Projektor benötigt, der in rascher Folge abwechselnd die Bilder für das rechte und das linke Auge projiziert. Da das Publikum nun durch zirkulär polarisierte Brillen sah, musste man nicht mehr, wie zuvor, den Kopf in starrer gerader Haltung lassen, um den 3-D-Effekt zu genießen. Ein enormer Zuwachs an Bequemlichkeit und „Natürlichkeit“ bei der Wahrnehmung.

Es war die Digitalisierung des Mediums, die der neuerlichen Ausweitung in das Raumbildliche half. Die meisten digitalen Abspielstellen rüsteten sich in diesen Jahren auch auf 3-D auf. Dass sogar einigermaßen trashige Horrorfilme neben den Animationsfilmen in den 3-D Versionen das vielfache ihrer Produktionskosten einspielten, beflügelte die Produktion, und im Jahr 2009 kamen die beiden Filme in die Kinos, die durch ihren Erfolg die endgültige Dreidimensionalisierung des Films zu bestätigen schienen, der Kinderfilm „Monsters vs. Aliens“ und der nicht ganz so kindliche, philosophische Fantasy-Science-Fiction „Avatar“ von James Cameron. Beide Filme bewiesen einem großen Publikum, dass es Geschichten gibt, die man in der Tat in einem dreidimensionalen Raum besser erzählen kann, Geschichten, in denen der Raum selber eine wichtige Rolle spielt.

Stereoskopie und digitale Animation gehen eine Verbindung ein, auf den ersten Blick eher der Ästhetik des Computerspiels als des klassischen Spielfilms gehorchend, die man genauso gut wie als Fortsetzung des Kinos als eigenständiges Medium betrachten könnte. Wie beim Computerspiel geht es erst in zweiter Linie um Charaktere und Plot; im Vordergrund steht dagegen die Errichtung einer „Welt“, einer dreidimensionalen „künstlichen Wirklichkeit“ mit eigenen Gesetzen der Logik, eigenen „Naturgesetzen“, eigenen Vorstellungen von Zeit, Raum und Subjekt. Für die Zuschauer scheint es nun wichtig, sich in dieser virtuellen Welt vergleichsweise frei zu bewegen, es ist daher wichtig, dass die Charaktere nicht allzu komplex und „schwer“ sind und dass einem der Plot nicht den Atem für das Staunen nimmt. Filme wie „Avatar“ oder „Oben“ zeigen denn auch, dass es weniger die großen Effekte sind, die üblichen Gegenstände, die auf den Zuschauer geworfen werden, als vielmehr filigranere und ornamentalere Anordnungen im Raum. Denn dieser Raum ist im Wortsinne ein „Kunst-Raum“, der sich keineswegs mit einfachen Folgen von Aktion und Reaktion erschöpft. Aus mehreren Gründen erfordert die Dreidimensionalität eine Verlangsamung der Erzählung, zum einen, weil es für den Zuschauer schwieriger ist, sich in diesem skulpturalen Geschehen zurecht zu finden und man also mehr „Lesezeit“ für die Einstellungen benötigt, zum anderen aber, weil dieser Kunstraum den Dingen eine andere Dauer verleiht. Wenn das dreidimensionale Kino nicht allein durch pures ökonomisches Interesse, sondern durch wirkliche neue Möglichkeiten durchgesetzt werden soll, dann muss noch erhebliche kreative Energie aufgewandt werden und das eine oder andere Wagnis unternommen.

Aber vielleicht ist es auch gar nicht so sehr das Kino, in dem sich das dreidimensionale Bewegungsbild zu einem kulturellen und ökonomischen Standard entwickelt. Die audiovisuelle Heimtechnologie wartet darauf, stereoskop erneuert zu werden. Blue-ray, Fernsehen, und vor allem das Computergame sind auf Dauer wirtschaftlich interessanter als das Kino. Wir werden nicht mehr lange auf stereoskopische Bilder auf unseren Computerbildschirmen und Handy-Displays warten. Das Vergnügen ein Bundesliga-Fußballspiel auf einem 3-D-Bildschirm zu verfolgen, ist in der Tat nicht mehr ein Ersatz für ein Live-Ereignis, sondern übertrifft jede Art von „wirklichem“ Zuschauen. Es ist daher abzusehen, wie rasch auch diesmal das Kino gegenüber den „Konkurrenten“ die Vorreiter- und Avantgarde-Position verliert. Vermutlich wird dies zu einer noch größeren Medienvernetzung führen.


Bildraum und Lebensraum verschmelzen

Schon gibt es die ersten Stereo-Consumer-Kameras, mit denen man passable 3-D-Fotografien und Video-Sequenzen aufnehmen kann, und der Markt für die „semi-professionellen“ oder „mittelständischen“ Anwendungen ist für die Hersteller viel zu attraktiv, um ihn nicht sehr rasch zu bedienen. Das stereoskopische Bild entwickelt sich auf dem Markt der Alltagskommunikation möglicherweise schneller als es das auf dem doch immer noch sehr schwerfälligen Gebiet der Kinoherstellung tut. Und so könnte es passieren, dass 3-D-Bilder schneller „selbstverständlich“ sind als dass sie künstlerisch auserprobt wurden.

Früher oder später wird eine Öffnung zwischen dem neuen Bildraum und dem Lebensraum der Wirklichkeit, vielleicht eine Art der Verschmelzung stattfinden. In naher Zukunft, so verkünden es die Propheten der verbesserten Bildwelt, muss niemand mehr in seiner langweiligen Wirklichkeit bleiben, vorm Großstadtfenster rauscht der Ozean, der Familienhund wird zum außerirdischen Wesen und die Nachbarin sieht aus wie Marilyn Monroe.

Und gegenüber dem, was die Theoretiker und Bildentwickler schon den „Big Bang“ der neuen Bilder bezeichnen, eine radikalere Umgestaltung des Sehens und des Abbildens, des Erlebens und Erkennens als wir sie uns noch vorstellen können, ist das Kino immer noch ein wohlig altmodischer, geborgener und ordentlicher Ort, auch wenn gerade Monster und Müll von der Leinwand auf uns zufliegen oder seltsame Wesen so nahe vor unseren Augen auftauchen, dass wir unwillkürlich nach ihnen greifen.


Text: Georg Seeßlen

Text: erschienen in Berliner Zeitung, 25.08.2010