Wir können mit Scarlett Johansson picknicken oder in Blockbuster-Filmen und Computergames auftreten – wie Digitalisierung und Dilettantismus die Kinematografie verändern

 

Seit es Kinematografie gibt, gibt es auch einen Dilettantismus des Weitverbreiteten, Familiären und Selbstgemachten. Das Prinzip klassischer Kleintechnologie in der Bildherstellung, vom Super-8-Film bis zum Videoformat, ging vom Prinzip der Imitation aus. Der kleine Steven Spielberg dreht mit seiner kleinen Kamera Filme, von denen er wünscht, sie sähen so aus, wie die großen Kinos sie auf der großen Leinwand zeigen.

Mit dem digitalen Film im Netz verhält es sich ein wenig anders. Nicht Imitation oder Parodie ist das Ziel, sondern der Remix. Das Originalmaterial selbst wird verwendet; schon auf der Ebene der Bildelemente vermischen sich die Sphären von Industrie und Dilettantismus. Nicht die Idee des Bildes, das Bild selbst wird gestohlen und angeeignet. Die Mehrzahl der Angebote in der »demokratischen« Filmbank YouTube, sieht man von puren Übernahmen kommerzieller Stoffe, dem üblichen Klamauk oder klassischen kinematografischen Kleinformaten ab, sind Remix-Filme.

Stufe eins des Remixens ist die Isolierung eines Bildgeschehens. Das heißt, die klassische Gleichung eines Bewegungsbildes, nach der Bild plus Erzählung die Aussage ergibt, wird erst einmal aufgehoben. Stufe zwei ist die Bearbeitung nach einfachen Prinzipien: Beschleunigung, Färbung, Verknüpfung mehrerer Elemente (zum Beispiel, für den Anfang sehr beliebt, eine neue pointierte Beziehung von Bild und Ton), Unterbrechung, Collage. Und schließlich Stufe drei: Die Fertigstellung des Remix ist gebunden an den Umstand, dass das Ganze wiederum »Sinn« ergibt (reine Zerstörung, reine Affirmation = »Verbesserung« haben sehr schnell ihren Reiz verloren). Das unterscheidet den Remix vom Remake, vom Reimaging und vom Recycling, den industriellen Formen der Bilderverwertung: Remixen ist eine Autorensache.

Die ideale Form für den Remix ist der Clip: ein audiovisuelles Geschehen, das sowohl in der Länge als auch im inneren Aufbau (Refrain, Strophe, Bridge) einem Popsong ähnelt. Tatsächlich benutzt man gern einen solchen als Grundlage für die Montage. Selbst längere Formen des visuellen Remix ähneln eher einem »Album« als einem Spielfilm.

Für einen indischen Bilderzusammenmischer ist eine »Marienhof«-Folge gutes Material

 

Der generelle Effekt des Remixens ist eine freiere Verfügbarkeit der Codes. Dieser freilich wird auch durch den zweiten Aspekt des Netzes, nämlich durch die Globalisierung gestützt. Während in der industriell-analogen Phase des Bilderverkehrs Filme am besten als »Exportgüter« zu betrachten waren, die mit ihrer jeweiligen Herkunft sogar werben (ein guter Hollywood-Film muss aus Amerika sein, ein guter Kung-Fu-Film aus Hongkong und ein Heidi- Film aus der Schweiz), sind digitale, globalisierte Bilder von Anfang an für einen Weltmarkt konzipiert. Die digitalen Bildwelten sind ohne den asiatischen Einfluss kaum zu denken, hier nämlich sind die Elemente der Bilderzählung ohnehin weniger kompakt verbunden: Im Gegensatz zu einem europäischen Comic verwendet ein japanischer Manga mehrere Repräsentationscodes (von abstrakt-satirisch bis realistisch) nebeneinander, die strikte Trennung von Drama und Komödie, Ernst und Alberei gibt es nicht, und ein Bollywood-Film liefert sein Remix-Material schon selbst in der Form der Song-and-Dance-Szenen. Umgekehrt freilich ist auch für einen indischen Remixer eine Marienhof- Folge mit ihrer wiederkehrenden Rhetorik gutes Material.

Was das digitale Bild im Netz nicht mehr benötigt, ist ein Erzählort. Mittelerde wird von Neuseeland und die erotische Traumwelt Indiens durch die Schweiz dargestellt. Im kinematografischen Welt-Remix leben wir in einer visuell durchgewürfelten zweiten Realität. Ein alter Film lässt mich empfinden, als wäre ich dort; ein neuer Film lässt mich empfinden, als wäre dort in mir.

Dieser Bildwelt des globalisierten Unortes steht die Gegenbewegung des elektronischen Mappings der Welt gegenüber. In den stets abrufbaren Straßen- und Wetterkarten, den Satelliten- und anderen Zugriffsbildern, die uns zu Mittätern der universalen Überwachung machen, gibt es keinen anderen als den technologischen Abbildungscode: »Bei der nächsten Abfahrt links« oder »Die Lidl-Kassiererin bohrt in der Nase«. Das eine, die visuelle Kreation der willkürlich emotionalen Parallelwelt, ist so universal lesbar und unsinnig wie das andere, der chirurgische Zugriff auf die »What You See Is What You Get«-Welt. Schließlich muss ein Drittes diesen Widerspruch lösen. In einem beständigen Remix der Bilder wird die entzweite Welt noch einmal zusammengefügt. So purzelt aus dem Widerspruch zwischen Traumwelt und Überwachungswelt jenes Remix-Bild, das vor allem vom Prozess der Aneignung und Verwandlung erzählt: Im Remix-Bild träume ich, das Bild gehöre mir.

Es gibt Handyfilm-Festivals – also muss der Handyfilm Schönheit bergen

 

Der aktuelle Kino-Blockbuster und vielleicht mehr noch die moderne Fernsehserie sind in gewisser Weise Versuche, die drei zerbrochenen Bildwelten auf eine möglichst effektvolle Weise wieder zusammenzubringen: Dreamscape, Mapping und Subjekt-Remix. Während eine klassische Serie eine »Welt im Kleinen« abbildet, zeigen die neueren dreierlei: ein »chirurgisches« Interesse am sozialen Experiment (teilnehmende bis kalte Beobachtung: Lindenstraße, Dschungelcamp und Folterfilm), die Montage der Traumbilder (das Bild vom »Traumschiff«, das zugleich engste Heimat und weite Welt suggeriert) und beständige Zerstörung und Rekonstruktionen von »Werten« in den Bildern (audiovisuelles Rabaukentum). Statt durch eine Verknüpfung in Raum und Zeit mittels Montage (Schnitt, Blende et cetera) sind nun die Handlungspartikel durch einen Remix-Effekt miteinander verbunden. Nicht nur vom Ort, sondern auch von traditionellen Vorstellungen von Raum und Zeit gilt es sich zu verabschieden. »Nichtlineares Erzählen« ist im Bewegungsbild der digitalen Remixe kein avantgardistisches, selbstreflexives Unternehmen – es ist pure Notwendigkeit.

Das zerbrochene Bild kommt freilich auch wieder in den Simulationswelten wie Second Life zusammen. Die beiden bescheidenen Pointen dieser elektronischen Bildinstallationen liegen in ihrer Totalität und in der Durchlässigkeit zwischen materieller und elektronischer Welt. Wir träumen bereits von einer »Bewohnbarkeit« der Parallelwelt, zugleich aber auch von der »interaktiven« Beziehung. Das heißt am Ende: Das Bild »besitzt« weder einen Wert, noch »befördert« es Werte; es erzeugt den Wert durch den Gebrauch; es bildet die sozialen Beziehungen nicht mehr ab, ist nicht Medium, sondern selbst Teil der sozialen Beziehungen. Bild und Spiel bewegen sich aufeinander zu, und ob dabei eine neue Sprache, eine neue Welt oder nur audiovisuelle Umweltverschmutzung herauskommt, ist eine Sache der Einstellung.

Wenn Handyfilme schön sind – und da es mittlerweile Handyfilm-Festivals gibt, müssen sie die Möglichkeit der Schönheit bergen -, dann sind sie es nicht in sich, sondern durch die sozialen Prozesse, denen sie angehören und die sie dokumentieren. Umgekehrt kann ich mit Bildern, die ich von einem anderen ins Netz stelle, den anderen vernichten, nicht nur so, wie ein nun bildhaft belegtes »Gerücht« tötet, sondern auch, indem dieser andere Mensch nicht mehr vorstellbar ist ohne das Netzbild, das einem Remix unterzogen wurde. Diese beiden Impulse beherrschen auch die Traumwelt des Kinos: auf der einen Seite die Sucht nach dem Authentischen, Körperlichen, früher hätte man gesagt: Pornografischen, der nackten und leidenden Identität – und auf der anderen Seite die Sucht nach der kontrollierten artifiziellen Parallelwelt. Der kinematografische Effekt ist nichts anderes als die rüde und zärtliche Begegnung der beiden Impulse. Das Bild wird so lange remixt, bis es Körper wird, und der Körper wird so lange gequält, bis er Bild wird.

Ich erfinde mich und kommuniziere mit Erfindungen. Es gibt Programme im Netz, mit denen ich meinen eigenen Lebensfilm drehen kann (ich und Scarlett Johansson beim Picknick am Fudschijama), Programme, mit denen ich Szenen aus Computergames zu eigenen Filmen ummontieren kann, und solche, mit denen ich Teil von Blockbuster-Filmen werden kann. Solche Träume sind nicht neu, neu ist nur, dass sie in einem Bild-Wirklichkeit-Remix zusammenkommen, in dem kein Unterschied zwischen großer Verschwörung und kleiner Paranoia mehr existiert. Unsere Kinohelden (wenn auch nicht alle so dramatisch wie ein gewisser Bourne) machen uns das derzeit vor: Auf rasender Flucht entwickeln sie Identität als Remix. Dabei werden die im Netz kursierenden Bewegungsbilder maskiert, in einer einigermaßen anarchischen Sphäre abgebildet.

Das geschriebene Gesetz ist dem Netzbild nicht gewachsen; das Auge des Gesetzes kann zwar sehen, was da geschieht, es aber nicht begreifen und schon gar nicht kontrollieren. Dass sich das geschriebene Gesetz mit der Bildwelt schwertut, ist seit mehr als hundert Jahren bekannt, aber nun ist der Clash zwischen Gesetz und Bild katastrophisch – und einiges davon steckt vermutlich sogar in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen dem Fundamentalismus und der audiovisuellen Liberalität. Man könnte wohl sagen, dass sich vernetzte Bilder und monotheistische Religionen einfach nicht miteinander vertragen.

Die Kränkung durch das Bild führt schließlich dazu, dass Bilder der Kränkung und des Terrors erzeugt werden, mit deren Aufmerksamkeitswert es nicht einmal mehr das pornografische Bild aufnehmen kann. An die Stelle des Austauschs von Werten (auch keine immer friedliche Angelegenheit) tritt das Spiel von Kränkung und Terror, im Großen wie im Kleinen. Die Pointe ist, dass es dagegen ein praktisches Mittel gibt: den Remix.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 15.05.2008 Nr. 21