Der Landstreicher

Als Schauspieler ist Sean Penn der Einzige, der Robert De Niro beerben könnte. Als Regisseur ist er noch unterwegs – quer durch Amerika, in unvermessenes Gebiet. Jetzt hat er den Bestseller In die Wildnis verfilmt. Porträt eines Unangepassten.

Er hat dieses Gesicht. Kurz davor und schon zu spät. Im nächsten Augenblick kann alles passieren. Er kann zuschlagen, so viel unterdrückter Zorn ist darin. Er kann zusammenbrechen, da hat sich bestimmt genug angesammelt an Kränkung oder Enttäuschung.
Vielleicht passiert aber auch gar nichts, und alles geht so weiter wie zuvor, weil klar ist, dass es keinen Sinn mehr hat, was man auch tut. Das ist das Schlimmste.

Was auch immer, es ist das, was wir sehen: die Dauer. Das Dazwischen. Technisch gesehen: ein Slowburn. Wir sehen jemandem dabei zu, wie er Informationen aus seiner Umwelt im Inneren, hinter seiner Stirn, die davon schon sehr faltig geworden ist, verarbeitet oder zu verarbeiten versucht. Eben das, was in aller Regel bei der Inszenierung von Handlung in Form von Aktion und Reaktion herausgekürzt wird. Nur nicht im Komischen. Da lachen wir über diese Verzögerung, die oft genug der Auftakt zu einem Missverständnis ist. Dabei ist es doch genau das, wo ICH geschieht. In der kurzen, aber intensiven Dauer zwischen Aktion und Reaktion. Stan Laurel war ein Meister in der Darstellung dieser Dauer, in der ein Gesicht auch ungeheuer leer aussehen kann. So als wäre sein Besitzer gerade eben einmal kurz fortgegangen, nach innen, zu sich selbst.

Den Schauspieler Sean Penn kann man einerseits beschreiben als einen der wenigen Nachfolger von Robert De Niro – zum Beispiel in seinem Beharren darauf, sich die Präzision auf keinen Fall von »Psychologie« kaputtmachen zu lassen, sondern zu geschehen mitten drin in einem unerklärlichen Innen und einem unerklärlichen Außen. Man kann ihn aber auch als eine tragische Wiederkehr von Stan Laurel beschreiben, des Kindmannes mit dem guten Draht zu Schicksal und Wunder, der sich in eben diesem Mittendrin einrichten möchte. Doch was bei Stan Laurel eine komische Poesie der langen Leitung ist, das wird bei Penn zum Drama des Menschen, der in seiner Welt nicht ganz angekommen ist. Dieser Mensch produziert keine Missverständnisse, er ist ein Missverständnis.

Jeder gute Filmschauspieler hat eine spezielle Geste, einen unnachahmlichen Augenblick, der sein Wesen zusammenfasst; nicht ein Tic oder eine Pose, auch nicht die Kunst, eine Zigarette anzuzünden oder sich die Handschuhe auszuziehen, ist damit gemeint. Sondern, noch tiefer, zum Beispiel der Augenblick, bevor Humphrey Bogart zu lachen beginnt, und seine Zähne beinahe drohen, ihn selber aufzufressen, oder dieser Zusammenbruch in Robert De Niros Gesicht, wenn die Augen lachen wollen und der Mund weinen will und dabei alles in ein rhythmisches Nicken gerät zu einer unhörbaren Musik der Verweigerung. Bei Sean Penn ist es das Erzeugen von Stirnfalten bei dem Versuch, die Augen noch größer zu machen und dabei noch mehr Distanz zur Umwelt zu gewinnen. Ich meine ein absurdes Stirnrunzeln, denn der Kerl ist ohnehin das personifizierte Stirnrunzeln. Das ist ein Mann, dem die Welt ein Stirnrunzeln bedeutet, nicht mehr und nicht weniger. Wie Stan Laurel zieht er die Stirn nach oben, als wollte er seinem Gehirn Platz verschaffen, um die Ungeheuerlichkeiten dieser Welt zu begreifen. Es folgt aber meistens weder eine Belehrung noch eine Zurechtweisung; Sean Penn in seiner schönsten Ausformung ist ein Stan Laurel, dem der Oliver Hardy abhanden gekommen ist. So einsam, aber auch so frei. Darum kann das Kind nicht einfach Kind bleiben, nicht weiter träumen und spielen, es muss kämpfen lernen. Wenn Ollie nicht wäre, hätte Stan ebenso gut ein Mörder werden können. Vielleicht war in früheren Zeiten Sean Penns Bruder Chris so etwas wie sein Ollie. Dieser massige und gutmütige Kerl, der selbst einen anderen Weg als Sean gehen musste. Nicht gar so konsequent und destruktiv das grelle Scheinwerferlicht suchend wie sein Bruder, hatte Christopher Penn schließlich seine eigene Rolle gefunden, meistens noch näher an der Verzweiflung. Er ist einzigartig in Abel Ferraras The Funeral, aber auch Tarantinos Reservoir Dogs kann man sich einmal von seiner Figur aus, dem Nice Guy Eddie, ansehen. Wenn Sean Penn das Seelenkind ist, das in die Welt gefallen ist, dann war Christopher Penn das Körperkind, dem es ähnlich, und vielleicht noch schlimmer ergangen ist. Man mag – nach dem »Familienunternehmen« At Close Range – auf ein erneutes Wiedertreffen der beiden gehofft haben; seit Chris‘ Tod im Januar 2006 muss man diese Träume wohl aufgeben.

Die beiden sind, wie man so sagt, familiär vorbelastet. Der Vater, Leo Penn, hat Filme inszeniert wie Hellinger’s Law (in dem auch Sean Penn mitwirkte), vor allem aber Folgen für TV-Serien wie »Matlock« und »Columbo«. Leo Penn – er starb 1998 – war aktiver Gewerkschafter und stand auf den schwarzen Listen der McCarthy-Ära. Und vielleicht hat auch das etwas damit zu tun, dass Sean Penn mit dem Glamour- und Cheese-Aspekt seines Berufes nie so ganz zurechtkam. Die Mutter, Eileen Ryan, ist Schauspielerin, auch sie fand Arbeit vor allem beim Fernsehen, in Serien von »Twilight Zone« über »Bonanza« bis »NYPD Blue«. Gemeinsam mit seinem Bruder Chris drehte Sean Penn schon in der Jugend Super-8-Filme; mit dabei waren Charlie Sheen und Emilio Estevez, die Söhne von Martin Sheen, und Rob Lowe. Der dritte der Penn-Jungs, Michael, widmete sich der Musik. Wenn ich eine Dokumentation über die Penns drehen würde, dann würde ich sie »An American Family« nennen und, wie es im Genre der Brauch ist, erst im zweiten Drittel mit dieser Erfahrung der Hexenjagd herausrücken, die den Zusammenhalt der Familie noch einmal in ein anderes Licht setzte.

Sean Penn, das kann man nicht übersehen, widmete sich in vielen seiner Rollen und in seinen Arbeiten als Regisseur am intensivsten den gefährdeten Familien, den Eltern- und Brudergeschichten, die sich um Verluste und Schmerzen entwickeln, diesem Widerspruch von Sehnsucht und Katastrophe. Die echte Familie Penn setzte ihren Zusammenhalt jedenfalls auch in der Kunst fort, ziemlich entspannt. So wie die Söhne in den Filmen des Vaters auftraten, setzten diese ihre Eltern in kleinen, aber nicht unbedeutenden Rollen ein; in Crossing Guard haben beide ihren Auftritt, in I Am Sam und At Close Range spielt Eileen Ryan.

Nach der High School begann der 1960 in Santa Monica geborene Sean Penn mit dem Schauspielunterricht und arbeitete nebenbei beim Repertory Group Theatre in Los Angeles als Assistent und »Mädchen für alles«. Danach ging es zum Broadway, wo er sein Debüt in dem Stück »Heartland« hatte. Ersten Gastrollen in TV-Serien wie »Unsere kleine Farm« (1974) folgte 1981 der Fernsehfilm »The Killing of Randy Webster« von Sam Wanamaker; der erste Kinofilm kam im selben Jahr mit Harold Beckers Taps (Die Kadetten von Bunker Hill). Sean Penn, so schien es, war für die Verlässlichkeit eines stetigen Aufstiegs ins schauspielerische Mittelfeld bestimmt, er hätte sich in jede Rolle eingearbeitet und immer ein bisschen mehr gegeben, als sie erforderte. Eine Vorliebe für »engagierte Stoffe« und schwierige Charaktere wäre auch absehbar gewesen. Aber als kommenden Star haben ihn weder die Regisseure gesehen noch er sich selbst.

Doch mehr und mehr wurde klar, dass dieser Typ mit der großen Nase, den panischen Augen, den vielen Stirnfalten, dem offenen Mund und dem schlaksigen Gang auf der Leinwand etwas über Amerika sagte, das niemand sonst sagte. Das Geheimnis seines Erfolges liegt möglicherweise darin, dass er eine verborgene Seite von Amerika zeigt, ohne zu verurteilen oder zu karikieren. Wie De Niro kommt auch Penn aus einer geborgenen, liberalen und intellektuellen Mittelschicht, und wie sein Vorgänger ist er am besten, wenn er Typen charakterisiert, die ziemlich viel weiter unten im Sozial- und Kulturgefüge leben. Und wie Robert De Niro für die siebziger Jahre in seinen Leinwandcharakteren den soziopathischen und selbstzerstörerischen Aspekt der Menschen in den »Mean Streets« zeigte, so zeigte Penn in den achtziger Jahren den weiteren Zerfall von Werten und Hoffnungen in der unteren Mittelschicht in einer Restaurationsphase: Noch weniger als sein Vorgänger kann er auf eine Rebellion setzen, noch weniger hat er Zeichen und Gesten zur Verfügung; seine Defekte sind unauffälliger, und die Möglichkeit, dass seine Gefährlichkeit im Alltag aufgelöst wird, ist größer. Einer wie De Niro ist seinen bieder-korrupten Mitmenschen vielleicht lästig, einer wie Penn ist ihnen mehr oder weniger egal.

Sean Penn verleiht den Verlierern Ausdruck, Bild und Würde. Wenn man bei seinen Figuren einen sozialen Hintergrund vermuten darf, dann ist es meistens der White Trash, heruntergekommene, weiße Bürger, die nicht die Ordnungen und die Ästhetik des Ghettos für sich haben. Deren einziger Halt in dieser Welt daher die Familie ist, oder der Ersatz dafür, die Freunde, eine Institution wie Militär und Polizei, »Führung«, die man zugleich ersehnt und bekämpft. Wenn einer wie der Gangster wird, dann bleibt er trotzdem immer ziemlich allein, und in De Palmas Carlito’s Way zwingt er als fieser Rechtsanwalt Al Pacino zurück auf die schiefe Bahn; er ist gleichsam die Personifizierung der Ausweglosigkeit. Wenn er Polizist wird – wie in Dennis Hoppers Colors -, dann mit einem Zorn, der ihn übers Ziel hinausschießen lässt. Die andere Seite der Ausweglosigkeit, ihr radikales Opfer. Und wenn Sean Penn komisch ist, dann nicht, weil er etwas Falsches macht oder sagt, sondern weil er ein falscher Mensch am falschen Ort ist. Dabei muss man sich immer wundern, wie er es überhaupt so lange ausgehalten hat. Das macht: Er ist hinter all seinen Verkennungen verteufelt klug. Er ist klug in seiner Dummheit und dumm in seiner Klugheit. Er ist gut darin, auf seine Chance zu lauern. Man kommt ihm wahrlich so leicht nicht dahinter. Alles was ihm passieren kann, tut er sich selber an, so wie er in Clint Eastwoods Mystic River seinen einstigen Freund umbringt, weil er ihn fälschlich für den Mörder seiner Tochter hält. Die Frage ist nicht, ob man ihn dafür belangen kann, die Frage ist, wie er damit fertig wird.

Sean Penn hat ein Interesse an Verlierern, Schurken und Außenseitern und entwickelt seine schauspielerischen Techniken darin, zu zeigen, wie sie die Welt sehen – oder Teile von ihr nicht sehen. Aber er tut das, ohne sie zu sentimentalisieren (na schön, bei seiner Behinderten-Studie in I Am Sam kann man bei manchen Szenen darüber streiten.) Er ist wirklich ein furchtbarer Gewalttäter in Casualties of War, ein ganz hundsgemeiner Intrigant in Carlito’s Way, ein sadistischer Killer in Dead Man Walking. Das sind Figuren, die man gemeinhin so hasst, dass man ihren Tod wünscht, und das Kino befriedigt ja denn auch diesen Wunsch meistens. Aber bei Penn ist man ihnen zu nahe gekommen, um mit so einem einfachen emotionalen Spiel davonzukommen. Er hat sie nicht erklärt, nicht gerechtfertigt, nicht einmal relativiert. Er hat ihnen nur Präsenz gegeben. Diese furchtbare Erkenntnis: So jemanden gibt es wirklich! Sean Penn verweigert jeden Trick, um seine Figuren menschlicher, sympathischer, verständlicher zu machen, er verlangt kein Mitleid und keine klammheimliche Identifikation. Und genau das macht diese Würde aus, mit der er seit Bad Boys Menschen zeichnet, denen auf Erden nicht zu helfen ist.

Sie sehen oft komisch aus, die gefährlichen wie die hilflosen, sie sind auch in dem Versuch gescheitert, sich »ordentlich« selbst darzustellen, Sean Penn ist ein Weltmeister grässlicher Frisuren, blöder Bärtchen und falscher Klamotten. Aber immer stimmt gerade dort jedes Detail, vor allem darin, wie er sich das zu eigen macht: Man stellt sich immer einen Menschen vor, der sich zu etwas machen wollte, aber dabei nicht erfolgreich sein konnte. Ein Kerl, der nicht genau weiß, wer er ist, und so wie sich Robert de Niro in vielen Filmen so treffsicher richtig falsch anzieht, um seine Umwelt zu schockieren, so gelingt Sean Penns Charakter nicht einmal mehr das. Seine falschen Frisuren und Kleider sagen nur noch etwas über seinen eigenen Irrweg aus. Ein Held, oder auch nur ein Antiheld, wird so einer nicht.

Genauso wenig, wie einer zum Star wird, nur weil er Madonna heiratet und Fotografen verprügelt. Sean Penn mag seinen Beruf nicht besonders, und seine Kollegen mag er auch nicht, vor allem die nicht, die sich seiner Meinung nach »ans System verkaufen«. So blieb er konsequent den Hollywoodfeiern und Preisverleihungen fern, auch wenn er selbst nominiert war. Erst bei Mystic River überredete ihn Clint Eastwood, zur Award-Zeremonie zu erscheinen, komplett mit Krawatte. Prompt erhielt er den Oscar und bedankte sich so manierlich und durchaus bewegt, dass man glaubte, er habe seinen Frieden mit der Traumfabrik gemacht. Ein paar Interviews später war diese Hoffnung wieder dahin. Penn hatte es nur nicht mehr nötig, sich besonders effektiv danebenzubenehmen.

Dabei ist auch Sean Penns Karriere als Schauspieler längst eine Gratwanderung zwischen Mainstream und ambitionierten Außenseiterproduktionen. So folgen etwa auf zwei Filme aus dem Jahr 2000, die man bestimmt nicht wegen des kommerziellen Erfolges macht, Before Night Falls von Julian Schnabel und The Weight of Water von Kathryn Bigelow, gediegene Formelfilme wie The Assassination of Richard Nixon (2001) und I Am Sam (2002). Da ist Sean Penn aber längst ein Schauspieler, der möglichst ehrbar die Mittel für seine Regiearbeiten und die eigene Produktionsfirma Clyde is Hungry Films verschafft. Sein Debüt ist einer von den Glücksfällen der Filmgeschichte – da sieht man, wie einer sich das Kino erobert .

The Indian Runner (1991) erzählt die Geschichte zweier Brüder: David Morse und Viggo Mortensen in der Rolle, die Penn ursprünglich selber übernehmen wollte, bevor er sich, weise Entscheidung, ganz auf die Regie zu konzentrieren entschloss. Der eine ist ein Provinzsheriff, der andere, der seine Zeit in Vietnam mit sich herumschleppt, fällt immer wieder in Drogen und Kriminalität zurück. Der eine versucht, den anderen zu retten, und das geht nicht. Der Film geht auf einen Song von Bruce Springsteen zurück, »Highway Patrolman«, und er hat die Struktur eines erdigen Rock Songs, einschließlich der Strophen, der Refrains und der Bridges sowie der verhaltenen Soli, in denen die Erzählung für eine Zeit zurücktritt und die Empfindung vorne steht. Die Grundzüge der Handlung von den ungleichen Brüdern, vom Sheriff und vom Outlaw und von der Heimkehr aus dem Krieg sind beibehalten. Es ist ein zugleich ungemein rauer und ungeheuer zärtlicher Film, der die amerikanische Familiengeschichte und ihren mythischen Unterbau so realistisch und irreal erzählt, wie man es aus gewissen Romanen jüngerer Autoren gewohnt ist, die in aller Regel als unverfilmbar gelten. Penn setzt sich hier konsequent nicht nur über die großen, sondern auch über die kleineren Regeln der konventionellen Syntax hinweg. Seine Kamera wartet geduldig, und sie bleibt auch, wenn nichts zu geschehen scheint. Man sieht etwas in diesem Film, und das ist mehr, als man von den meisten Hollywoodproduktionen dieser Jahre sagen kann.

Erneut wird ein Springsteen-Song, »Missing«, zum roten Faden in The Crossing Guard von 1995. Auch hier beginnt alles mit einer Familiengeschichte. Ein Mädchen ist gestorben, und die Eltern haben sich danach getrennt. Der Vater (Jack Nicholson) lebt nur noch auf den Tag hin, an dem der Mann, der sie überfahren hat, aus dem Gefängnis entlassen wird. Um ihn zu töten. Bis dahin trinkt er, treibt sich herum, hat Mühe, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Doch der »Täter« (David Morse) ist ebenso von Schuld und Scham zerstört, vielleicht wäre der Tod sogar eine Erlösung. Vier Tage Zeit bleiben, in denen es im Film eines anderen Regisseurs »um Leben oder Tod« gehen würde. Bei Sean Penn ist das kein Entweder-Oder. Wieder sieht Penn, fasziniert, zärtlich, genau, Männern beim Handwerk der Selbstzerstörung zu: Wie Jack Nicholson immer weiter herunterkommt, durch Alkohol, durch falsche Freunde, durch eine Besessenheit, die schon an sich selbst nicht mehr glaubt, wie Morse, der sich in der Zelle den Kopf blutig schlug, mit einer hilflosen Geste Blumen auf das Grab des Mädchens legt, das durch seine Schuld ums Leben kam.

Sean Penn und Jack Nicholson, das ist auch so ein Brüderpaar. Beide sind Schauspieler, die nicht »psychologisch« erklären, sie sind auf eine ungeheure, widersprüchliche Weise einfach da, und es gibt keine Story, die je ihren Zorn oder ihre Verzweiflung erklären könnte. The Pledge (2001), nach Friedrich Dürrenmatt, wieder um ein totes Kind herum, die Geschichte des alternden Polizisten (Jack Nicholson). Er verspricht der Mutter, den Mörder mit all seinen Möglichkeiten, bei seiner Seele, zu finden, und er wird Opfer dieses Versprechens, moralisch wie körperlich.

In Crossing Guard spiegelt sich Indian Runner, während er zeigt, wie ein Mann, der all seine Kraft aufgeboten hat, ein normales Leben zu führen, einem gegenüber steht, der alles aus sich herausholt, um gerade das nicht zu tun. Und in The Pledge ist es das Schicksal jenes Hüters der Normalität, alle Bindungen zum wirklichen normalen Leben zu verlieren. Outside und Inside. Die zwei Seelen in der Brust des Sean Penn? Mag schon sein, aber auch das geht tiefer, es ist die Frage nach dem amerikanischen Mann, vielleicht in seinen letzten Tagen, der diesen Widerspruch nicht lösen kann. Vielleicht ist es deswegen auch kein Zufall, wenn sich das Motiv des »Indianischen« durch Penns Arbeit zieht – der Unschuldige, der so schnell geopfert wird, bei Dürrenmatt ein Landstreicher von der Grenze, ist hier ein Indianer. Und auch das Laufen ist eine Metapher, die immer wiederkehrt, die Verfolgung bis zur Erschöpfung, die nicht mit einem Sieg endet, sondern damit, dass man nicht mehr weiß, woher und wohin. Und deswegen kann es auch keinen Schluss geben in Penns Filmen. Showdown oder Entkommen in Indian Runner, Versöhnung oder vollkommene Leere zwischen den Männern in Crossing Guard, Einlösen des Versprechens oder Sterben daran in The Pledge.

Das Thema von Sean Penns Filmen ist eine Sehnsucht nach Erlösung in einem Kreislauf von Schuld, oder, technisch gesehen: Es sind keine Melodramen, es sind Tragödien. Dass Penns Filme Schauspielerfilme sind, also das Gegenteil von Starfilmen, versteht sich fast von selbst. Doch es geht um etwas anderes, nämlich um den Respekt, den er noch den kleinsten – entsprechend genau besetzten – Figuren entgegenbringt; alle seine Filme könnte man jederzeit von einer der Figuren am Rande her erzählen, und es ist bedeutend, dass man dieses Gefühl auch beim Zusehen hat. Es ist das Wesen der Tragödie, dass sie nicht die Katastrophe eines Einzelnen, sondern die eines Systems zum Kern hat.

Überdies gibt es einige Bilder, die man nicht vergisst, wie etwa die Szene in einer Truthahnfarm in The Pledge, einer Halle voller Federvieh, in der Nicholson den Eltern des Mädchens die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbringen muss. Man kann sich die technischen Schwierigkeiten dieser Szene durchaus vorstellen, und wahrscheinlich stehen sie nach der gewohnten Produzentenlogik in keinem Verhältnis zum »Effekt«, aber das, vielleicht, macht einen guten Regisseur aus, dass er sich so etwas nicht ausreden lässt.

Jack Nicholson jedenfalls hat für das Regietalent seines jüngeren Kollegen ganz große Worte gefunden: »Er ist ein Poet. Er hat einen unglaublichen Blick für das Wesentliche.« Sean Penn selbst sagt es bescheidener: »Es gibt Filme, die uns bloß mit Träumen versorgen wollen, und solche, die einen Traum mit uns teilen.« Aber es kommt auf dasselbe heraus.

Georg Seeßlen, epd Film 1/2008