Kapitel 1: Traumpalast und Heimkino

Eine kurze Geschichte des Films

Seit es das Kino, ach was, seit es überhaupt technisch reproduzierte Bilder gibt, gibt es auch zwei entgegengesetzte Formen damit umzugehen: Auf der einen Seite werden die immer eindrucksvolleren, lebensnäheren und illusionistischeren Bilder in einem öffentlichen Raum mit möglichst ausgefeilter Technik und deutlich sichtbarer Pracht vorgeführt. Das ist die Geschichte des Kinos, von der Jahrmarktattraktion über die Filmpaläste hin zu Cineplex, Programmkino und Imax- Theater. Und auf der anderen Seite haben sich die Filmbilder immer auch in der Privatsphäre, daheim in familiärer Behaglichkeit und in der Begeisterung des Hobbykellers breitgemacht. Das ist die Geschichte des Privatfilms, vom Urlaubssouvenir zur Heimpornographie, vom Fernsehabend zur DVDParty.

Die Privatgeschichte des Kinos wird ja gerne vergessen. Geschichten von Kinopalästen, Festivals und 3D-Technologie sind offenbar immer noch um den entscheidenden Kick interessanter als die Geschichte von Kleinbildkameras, Super-8-Projektoren, Familienfesten, Fernsehnachmittagen und Videosammlungen. Dabei wusste man schon von Anfang an, dass sich das Medium Film in beide Richtungen entwickeln würde: In Deutschland hatte der Filmpionier Oskar Messter im Jahr 1897 seine erste 35mm-Kamera auf den Markt gebracht, und zwar in zwei Ausführungen: Die eine war für den professionellen Gebrauch bestimmt, die andere bereits für begeisterte Amateure. Und dieses private Filmgerät ließ sich gleichzeitig zur Aufnahme und zur Projektion des Films verwenden. Die Privatisierung der neuen Medientechnologie war bereits perfekt, als ihre Geschichte gerade erst begann.

Kurz darauf brachte Messters Firma sogar einen „Taschenkinematographen“ heraus, den sogenannten Kosmoskop. Das versprach Filmunterhaltung für jeden und an jedem Ort. Das Kosmoskop war ein Abblätterkinematograph für fotografische Papierbilder, mit dem man überall ohne große Lichtquellen kleine Filme zeigen konnte. Er wurde ein beliebtes Spielzeug unter den technikbegeisterten Bürgern der Jahrhundertwende. Seither lag unter den Weihnachtsbäumen wohlhabenderer Familien stets irgend ein Gerät, das mit dem Filmemachen oder dem Filmesehen zu tun hat. Jede Generation erhielt ihr eigenes technisches Kinderzimmer-Kino, und jede Generation ihr eigenes Schmalfilmprogramm für Technik, Unterhaltung und Kommerz. Übrigens bestand ein erheblicher Anteil der Streifenbilder für das Kosmoskop aus nichts anderem als mehr oder weniger verkappter Werbung; der Taschenkinematograph war das erste filmische Werbemedium,und zugleich war es das erste Medium, das heftig verdammt wurde. Man konnte für dieses Medium nämlich schnell und einfach auch Streifen mit Bildern zusammenkleben, die absolut nicht unter den Familienweihnachtsbaum passten. Nicht einmal die Klage über die Werbeverseuchung und Schmutz und Schund in den Bildermaschinen ist also wirklich eine Errungenschaft unserer Zeit.

Die nächste Stufe der technischen Entwicklungfür das private Kino war einmittenperforiertes 17,5-mm-Format, die bei der Firma Wrench & Son in London hergestellt wurde. Und auch das war ein wahres Wunderwerk der Funktionen; man konnte es als Aufnahmesowie Abspielgerät für Filme, als Kopiergerät und als Fotoapparat für Einzelbilder verwenden, sehr ähnlich heutigen Multimedia-Maschinen. Zur Vorführung konnte jede Projektionsleuchte mit einem Adapter verwendet werden. Ganz direkt war dieses Gerät für einen Markt von Hobbyfilmern konzipiert und wurde unter dem Motto „Animated Photography for Amateurs“ populär. Andere Techniken, wie etwa der sogenannte Kammatograph, bei dem das Bewegungsbild auf eine Glasscheibe fixiert wurde, mit der man naturgemäß nur kleine Szenen aufnehmen konnte, etablierten sich als technisch einfachere Konkurrenz.

Also auch der Wettbewerb der Formate und Systeme: Eine alte Geschichte. Bekannt geworden ist der Kammatograph übrigens dadurch, dass Professor Sommer in Gießen damit mehr oder weniger wissenschaftliche Aufnahmen von den Anfällen Geisteskranker machte.

Und dann begann die Geschichte des Schmalfilms als Privatvergnügen, als wissenschaftliches Medium, als Möglichkeit, historische Wirklichkeit einzufangen: Gefilmt wurde in den Schrecken der Kriege und in den Wonnen kurzen Glücks dazwischen. Die Schmalfilmkamera gehörte neben dem Auto und der Italienreise zu den Statussymbolen des westdeutschen Wirtschaftswunders. Am heimischen Projektor liefen Urlaubsfilme, Bildungsfilme, Kurzversionen von großen Kinoerfolgen bis hin zu „Ben Hur“, Amateurkunst und Hobbyfilme, und, nun ja, Schmalfilme waren bis in die siebziger Jahre hinein auch das verbreitetste Medium für Pornos, die man aus einem Urlaub in Dänemark unter dem Sitz verstecken konnte. Auch in der DDR wirkte eine quicklebendige Super 8-Szene, und wen wundert’s, die Amateurfilme wurden dort mehrheitlich so sehr Propaganda für die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus wie sie im anderen Teil des Landes unbewusste Fortsetzung von Werbung und Warenwelt waren. Außerdem haben nicht wenige der großen Regisseure ihre Kunst mit der Super-8-Kamera der Eltern, der Schule oder des örtlichen Schmalfilmklubs erproben können.

Die Verhältnisse änderten sich freilich mit dem Siegeszug des Fernsehens. Zwischen der großen Traumfabrik und der kleinen Bildergeschichte von unten entwickelte sich eine ganz eigene Art der filmischen Privatisierung. Jetzt gab es etwas dazwischen, etwas, das zugleich Konkurrenz für das große Kino und für den familiären Dia- oder Schmalfilmabend war: ein öffentliches Medium im privaten Raum, ein Medium, das vielleicht nach den Jahren der ersten Euphorie den Spitznamen „Idiotenkiste“ nicht nur deswegen erhielt, weil das Programm eine merkwürdige Tendenz zeigte, sich in Sachen Intelligenz und Geschmack nach rückwärts zu entwickeln, sondern auch, weil es außer ein- und ausschalten so gut wie kein Eingreifen, keine Entscheidungen möglich machte.

Kreativität und Sammlerfleiß wurden erst wieder mit der Videotechnik angesprochen, die das Fernsehen zu einem Multimedia-Center aufwertete, und das kulturelle Erbe der Schmalfilme antrat. Auch hier reichte die Palette wieder von Videokunst zur Pornographie, von der Cinemathek im Bücherschrank zur Schmuddelecke in den Videotheken. Video war ein analoges Medium, sozusagen eine magnetische Simulation des Films. Für wahre FilmÄstheten eine ungenügende Simulation, für visuelle Vielverbraucher die preiswerte Alternative.
Das neue Medium DVD schien zunächst vor allem eine technische Weiterentwicklung des alten Videobandes: handlicher, vielseitiger, mit mehr Kapazität. Aber mehr und mehr zeigte sich, dass man mit der silbernen Scheibe mehr machen konnte. Man konnte Filme mit verschiedenen Synchronisationen und Untertitelungen anbieten, man konnte eine Reihe von Extras draufpacken, vom „Making Of“- bis zu Interviewpassagen und Audiokommentaren, man konnte den Zuschauer selbst zwischen verschiedenen Versionen auf einer Scheibe wählen lassen, und nach und nach verlor der Film seine „endgültige“ Gestalt. Auf einer DVD sind Filme nicht nur verschieden lang zu wählen, sondern auch verschieden „breit“. Die Bilder werden „flüssig“, Filme verändern sich nicht nur von einer „Version“ zur anderen (zum Ärger der Sammler), mehr und mehr wird der Zuschauer mit seiner Fernbedienung zum Co-Regisseur. Die nächsten Ideen sind schon vorgedacht: Da ist der interaktive Film, da ist der Film, der endlich die Lücke zwischen Kino und Videogame füllt, da sind Aussichten auf Speicherkapazität, die uns ermöglichen werden, ganze Filmarchive mit uns herumzutragen.

Aber selbst die DVD und ihre Nachkommen sind noch nicht das Ende allfälliger Verfügbarkeit der Filmbilder. In der digital und orbital vernetzten Welt müssten die Filme eigentlich gar kein materielles Trägermedium mehr haben. Unsere Multimedia-Maschinen, egal ob im Multiplex auf der grünen Wiese, im urbanen Filmmuseum oder zuhause auf dem Computerbildschirm, werden nach Bedarf aus dem Orbit fischen, aus einem Ozean der Daten. Nur die Sache mit dem Bezahlen ist noch ein Problem. Je flüssiger die Bilder werden, desto leichter entstehen auch undichte Stellen. Vor die Erfüllung der schönen neuen Medienwelt hat der Gott der Profitraten und Wertsteigerungsketten den „Krieg“ gegen die Bilderpiraten und Copyrightkiller gesetzt. Einen Krieg, den niemand gewinnen kann (und vermutlich auch niemand gewinnen will), denn die selben Konzerne, die so angelegentlich ihre Bilderware schützen wollen, verdienen auch an den Maschinen, mit denen man sie legal, illegal oder in irgendwelchen Grauzonen dazwischen, erbeuten kann.

So ist die DVD der augenblicklich ideale Kompromiss zwischen einem materiellen Träger und der Phantasie-Software des Films. Vielleicht werden wir bei aller Virtualität auch nie unsere Wünsche los, an irgendeinen außergewöhnlichen Ort zu kommen, wie es ein Kino immer noch ist, und irgend eine Form für die Filme zu haben, die man anfassen und sammeln kann. Mit dem Multiplex-Kino und der DVD wiederholt sich nur wieder einmal das, was in unserer langen Filmgeschichte immer wieder passiert ist: Der öffentliche und der privatisierte Teil der Unterhaltungsmaschinen sind voneinander abhängig und fühlen sich zugleich als heftige Konkurrenz. Wer war an der Kinokrise der dreißiger Jahre schuld? Das Radio. Also wurde das Kino lauter und größer. Wer war schuld an der Kinokrise der sechziger Jahre? Das Fernsehen. Also wurde das Kino größer und farbiger. Wer war schuld an der Kinokrise der achtziger Jahre? Video und Computer. Also wurde das Kino virtueller und technischer. Und wer ist Schuld an der Kinokrise der letzten Jahre? Die DVD. Also muss aus dem Kino der nächsten Generation ein Tempel für alle Sinne werden. Eine totale Unterhaltungsmaschine, wie man sie mit den Mitteln des Heimkinos gewiss nicht imitieren kann; Kino der Bewegungen, der Gerüche, der entgrenzten Bilder, Kinos als Vergnügungscenter und Erlebnisparks. Wir arbeiten dran! Verrückterweise ist dann das, was wir auf der DVD haben, dem alten „Film“ näher als das, was es im Kino der Zukunft zu sehen gibt. So könnte es geschehen: Die DVD wird zur Konkurrenz des Kinos und zur Rettung des Films!

Kapitel 2: Konkurrenz oder Ergänzung

Wie sich das Kino und die DVD gegenseitig schaden und wie sie sich nutzen

„Ins Kino gehen“ und „einen Film anschauen“, das waren schon immer zwei verschiedene Sachen. Die einen lieben diesen verwunschenen, romantischen oder glanzvoll modernen Raum, die anderen wollten nur beim Sehen ihres Filmes möglichst wenig gestört werden. Die einen wollen ihren Traum mit möglichst vielen anderen teilen, die anderen wollen ihren Film für sich haben. Viele aber wollen mal das eine, mal das andere, so wie man ja auch, bloß weil man eine feine kleine CD-Sammlung besitzt keineswegs Konzerte verachten muss. Näheres freilich regelt für gewöhnlich der Geldbeutel.

Nachdem das Zelluloid-Heimkino durch die Videokassette abgelöst worden war, schien sich diese Trennung von Privatvergnügen und öffentlicher Vorstellung nach und nach für alle Seiten zufriedenstellend gelöst zu haben. Kein Kino kann einen gemütlichen Video-Abend ersetzen, und kein Video kann eine THX-Breitwand-Phantasie im Kino ersetzen. Und wer eine Videosammlung besaß, war deswegen als Kinogänger noch lange nicht verloren. Es war nicht nur die neuerliche Ersetzung des Heimkino-Erlebnisses durch die DVD, es war sehr viel allgemeiner die Digitalisierung des Films, die diese Balance wieder störte. Unter anderem bekam das Problem der Raubkopien eine völlig neue Dimension. Denn eine Videokassette kann man zwar kopieren, legal, illegal oder irgend etwas im Bereich dazwischen, aber man kann sie nicht auf seinen Computer laden und im Internet versenden. Mit dem, was auf eine DVD passt, kann man das. Und wenn ein Film einmal in eine Datenmenge verwandelt ist, dann ist es dieser Datenmenge ziemlich einerlei, ob sie in einem Multiplex-Kino in Wanne-Eickel, auf einem Laptop in Peking oder im Hinterzimmer einer Kneipe in Brooklyn entpackt wird. Als um das Jahr 2000 in den Netzen neben den Tauschbörsen für Musiktitel auch Webseiten wie Scour Exchange auftauchten, über deren Angebot man auch Bilder, Clips und ganze Filme gratis in eine „sharing community“ laden konnte, sprachen die einen von der „Demokratisierung“ der Bilder, die anderen aber von „eindeutigem Diebstahl“. Bei den aktuellen Filmen, die man damals zum Teil schon vor dem Kino-Einsatz auf seine Festplatte laden konnte, handelte es sich in der Regel um Camcorder-Aufnahmen von der Leinwand herunter oder Raubkopien von Video-CDs, die die amerikanischen Kinos und Videotheken als Previews bekamen. Das Vergnügen an der Illegalität des Unternehmens war vermutlich größer als das an der Qualität der Filme. Bald aber machten auch Gerüchte die Runde, aus den Räumen der Produzenten und Verleiher selbst käme ein nicht geringes Potential der heißen Ware. Wie auch immer: Der anarchistische Idealismus und die Gier nach einem schnellen Dollar verbanden sich zu einem unkontrollierbaren Gegenmarkt. Es war nicht nur die neuerliche Ersetzung des Heimkino-Erlebnisses Video durch die DVD, es war sehr viel allgemeiner die Digitalisierung des Films, die diese Balance wieder störte. Das Problem der Raubkopien bekam eine völlig neue Dimension. Denn eine Videokassette kann man zwar kopieren, legal, illegal oder irgend etwas im grauen Bereich dazwischen, aber man kann sie nicht auf seinen Computer laden und im Internet versenden. Mit einer DVD kann man das. Noch im selben Jahr 2000 erschütterte ein weitere Hiobsbotschaft die Filmindustrie: Einer Gruppe von Computerfreaks war es zum ersten Mal gelungen, den Kopierschutz der DVD zu knacken. Damit war einer der größten ökonomischen Vorteile der DVD gegenüber der Videokassette dahin. Und das Dritte war das mp3-ähnliche Programm „DivX“, mit dem man Filme digital komprimieren konnte, ohne dass die Qualität unerträglich litt. Jetzt brauchte man zum Download eines Filmes nicht mehr acht Stunden. Auf lange Sicht würde diese Praxis, das war nicht nur der Vertretern der Motion Picture Association of America klar, den herkömmlichen Filmmarkt zerstören. Aber was die Kino-Wirtschaft in ihrem Abwehrkrieg unternahm, schien dann vielen Kritikern eher gerade das Falsche. Zum einen überzog man die Tauschbörsen mit Prozesslawinen und verfolgte mit allen Mitteln die Raubkopierer. Der Erfolg? Nun ja. Man trug dabei auf seine Weise zu einem „David-gegen-Goliath“-Mythos und zur Sympathie mit den Outlaws bei. Man verschaffte dem Schwarzmarkt eine zusätzliche Publizität und machte Leute auf diese Möglichkeit erst richtig aufmerksam, an Filme heranzukommen, ohne Kinokarten oder Verleihgebühren zu zahlen, die ohne die öffentliche Aufregung gar nicht darauf gekommen wären. Und die juristischen Folgen der Abschreckung hielten sich in sehr engen Grenzen. Zum zweiten ließ man sich auf einen noch mehr angeheizten Zeit-Wettlauf ein. Die Blockbuster werden nun weltweit zum selben Tag gestartet, Previews gibt es allenfalls einige Tage vorher und unter Sicherheitsvorkehrungen, als gelte es Terroristen zu finden. Der Start muss auf Teufel heraus ein Medien-Event werden. Damit zwingt man nebenbei auch dem europäischen Kinomarkt „amerikanische Verhältnisse“ auf, die hierzulande gar keine Tradition haben. In den USA entscheidet die erste Woche, meistens das erste Wochenende über Erfolg oder Misserfolg eines Films in den Kinos. In Europa hatten Filme dagegen bislang durchaus die Chance, sich durch Mundpropaganda oder gute Kritiken, noch in der zweiten oder dritten Woche durchzusetzen. Verrückterweise ist genau dieser Zeitdruck wieder ein gutes Argument, sich eher für eine DVD zu entscheiden, wo mich niemand dazu drängt, einen Film jetzt oder nie anzusehen. Das Kino-Programm wird immer atemloser, ein Film verdrängt nach Kräften den anderen; die DVD dagegen hat ein Filmgedächtnis, und ein Film kann dem anderen durchaus nützen. Das dritte schließlich war es, ein Klima der Bedrohung und des Misstrauens zu schaffen, zu dem man sich möglichst drastische Werbekampagnen einfallen ließ, und in dem sich Kinozuschauer eher wie potentielle Feinde denn wie gern gesehene Gäste vorkommen müssen. Gewaltige Summen von Schadensberechnungen und Prozesskosten machten die Runde, die freilich nie wirklich zu belegen sind. Ob Raubkopien und Tauschbörsen den Markt wirklich nur stören oder nicht auch anheizen, ob Multimedia-Konzerne, die zugleich von den Filmen und der Hardware der Kopierer profitieren der geeignete Dialog-Partner sind, und ob der Krieg im Namen von Kreativität und im Namen der Kabelträger und Stuntleute geführt werden muss, deren bescheidene Gehälter durch Raubkopierer in Gefahr gerieten, während die Star-Gagen und Drehbuch-Rechte immer neue astronomische Höhen erreichen – man fragt ja nur. Jedenfalls halten die Produzenten an einer Form der Kontrolle über die Bilder fest, die es längst nicht mehr geben kann, und sie verhindern damit Überlegungen zu anderen, neuen Formen der Entgeltung (etwa nach Art der Gema-Abgaben, wie es die Betreiber kommunaler Kinobetriebe fordern).

In den Jahren seit dem Beginn dieses „Krieges“ zwischen den Medien und den Kopierer-Outlaws veränderte sich der Markt jedenfalls in eine ganz andere Richtung. Zum ersten globalisierte sich auch der Markt der Filme. Für Hollywood-Produkte heißt das, längst macht der Umsatz in Europa und Asien nicht mehr einen nützlichen Zusatzprofit sondern entscheidet schon mehr über Erfolg und Misserfolg als der amerikanische Markt. Und zum anderen verschob sich die Grenze zwischen den Medien. Nach und nach stellte sich heraus, dass das Geschäft mit den CDs ökonomisch bedeutender wurde als der Kino-Einsatz. Die Raubkopien und Filmtauschbörsen waren also eher Symptome als Ursachen eines medialen Strukturwandels. Und darin wurde immer mehr entdeckt, dass eine DVD viel mehr sein kann als ein reines Speichermedium für einen Film, der im Kino schon sein Publikum gefunden hat (oder auch nicht). Der „Siegeszug“ der DVD mit dem enormen, mehr oder weniger liebevoll gepflegten und restaurierten Film-Angebot trifft auf eine Situation, in der sich das Kino schon weitgehend selber ruiniert hat. Nur zum Beispiel sind die Kosten für die Kopienbeschaffung für ein Programmkino so astronomisch geworden, dass kaum noch eines davon ein eigenwilliges, interessantes Programm zusammenstellen kann. Nicht nur das Programm der Multiplex-Kinos, sondern auch das der kleinen Programmkinos ist in den letzten Jahren immer gleichförmiger geworden. Es gibt, um es sehr einfach zu sagen, in den Kinos ganz einfach immer weniger Filme zu sehen. Und wer Lust hat, sich mit dem Werk eines Regisseurs oder eines Stars zu beschäftigen, wer sich noch einmal mit den Klassikern beschäftigen will, und der nicht gerade das Glück hat, in der Nähe eines echten Filmmuseums zu wohnen, der ist ganz einfach auf die DVD angewiesen, von Preis und Qualität einmal abgesehen. Nun gehen sogar die Filmmuseen zwischen New York und München dazu über, eigene DVD-Editionen mit restaurierten Klassikern oder mit Filmen solcher Künstler anzubieten, die auf dem Kino-Markt keine Chance haben.

Ohne die DVD würde mittlerweile die Filmgeschichte bald ihr Gedächtnis verlieren, zumal in den berüchtigten „Zeiten knapper Kasse“ das Geld nicht mehr vorhanden ist, die empfindlichen Zelluloidschätze fachgerecht zu pflegen. Ein Film, der auf der DVD gesichert ist, ist dagegen ein für allemal gerettet (und zwar nicht nur für den Ehrgeiz von Restauratoren und Museumsleitern, sondern für die Allgemeinheit). Noch nie haben wir, die Cineasten, die Studenten, die Filmemacher und die Leute, die einfach gerne Filme sehen, einen so einfachen Zugang zur internationalen Filmkunst (und zum schönen Schund) gehabt. Aber was sie da für die Konsumenten so glücklich ergänzen mag, das ist auf dem Markt der Bilder keineswegs so harmonisch zu verbinden. Wie immer in dieser wechselvollen Geschichte der Medien ist die Konkurrenz zwischen den Medien im öffentlichen Raum und den privaten, nun also in der Form von Kino und DVD, zugleich eine großartige Ergänzung und Bereicherung zueinander, aber auch eine lebensbedrohliche Konkurrenz. Die Abhängigkeit des Kinos vom DVD-Markt ist in der Tat nicht mehr rückgängig zu machen, aber ohne ein funktionierendes Kino-System verlöre auch der DVD-Markt erheblich an Attraktion. Trotzdem organisiert oder „spielt“ man Konkurrenz. Denn nicht nur muss längst der DVD-Verkauf als wichtigster Posten in die Kalkulation einbezogen werden, er zwingt den Verleihern auch manche nicht besonders glückliche Entscheidung auf. So werden etwa Filme um jeden Preis ins Kino gedrückt, obwohl man ihre Chancen beim Publikum berechtigterweise sehr gering einschätzt, nur damit man die DVD-Vermarktung nicht gefährdet. Das Kino bekommt dann zwei mal „vergiftete“ Ware, einmal den Erfolgsfilm, bei dem man so viel Abgaben hat, dass man zwar ein volles Haus hat aber nicht sehr viel von den Eintrittspeisen übrig bleibt, und zum anderen echte Stinker, die man sich vielleicht an einem Abend am heimischen Bildschirm noch gönnt, aber bestimmt nicht wert sind, dafür ins Multiplex zu fahren. Die Kinobetreiber sehen ihr Heil in einer möglichst langen Zeitspanne zwischen Kino-Einsatz und DVD-Veröffentlichung, die Produzenten dagegen wollen möglichst schnell an den zweiten Markt, und Filmkünstler wie Steven Soderbergh wollen ihre Filme ganz bewusst zur gleichen Zeit im Kino, auf DVD und im Kabelfernsehen starten, um dem Zuschauer die freie Wahl zu lassen, und die unsinnige Konkurrenz zwischen den Systemen aufzuheben. Die Querelen um SIN CITY zeigten nur allzu deutlich, dass die Interessen hier noch so heftig aufeinanderprallen, dass Produzenten, Kinos und DVD-Anbieter eher als Feinde denn als Verbündete auftreten. Und dabei wird die Kluft zwischen blockbuster und Nischenfilm immer größer, auf der einen Seite die drei, vier Filme, die „man gesehen haben muss“, und die als großes Event gefeiert werden, und auf der anderen Seite Filme, nicht die Chance erhalten, die sie verdienen. Genau das, was dazwischen läge, fehlt den Kinos zum sicheren Überleben. Sie können nur auf die Überraschungshits setzen, die es glücklicherweise auch immer wieder gibt. Im multimedialen Angebot scheint es, als sei das Kino sozusagen nur noch die heißeste Werbestelle für die Vermarktung eines Filmes, während das große Geld mit den verschiedenen DVD-Versionen gemacht wird (denn mit Sicherheit folgt auf die erste Veröffentlichung ein „Director?s Cut“, dann eine „Extended“ und natürlich eine „Special Edition“).

Diese Strategie freilich muss sich rächen: So großartig mittlerweile die Technik eines Heimkinos sein mag, es gibt immer noch einen Unterschied zwischen einem Kino-Erlebnis und einem DVD-Abend. Nur scheinen es die beiden Kontrahenten gerade darauf abgesehen zu haben, diesen Unterschied zu verwischen. Die größte Gefahr für das herkömmliche Kino stammt nicht nur von überzogenen Verleih-Mieten für die Blockbuster auf der einen Seite und von den Menschen auf der anderen Seite, die sich überlegen, ob man sich einen Film auf der großen Leinwand ansehen möchte, wenn man für den selben Preis einen ganzen Film nebst Extras auf einer kleinen silbernen Scheibe kaufen kann. Noch größer ist die Bedrohung durch das, was man mittlerweile das „Guerilla-Kino“ genannt hat. Wo schließlich hört ein gemütlicher gemeinsamer DVD-Abend auf und wo beginnt etwas, das man schon eine „öffentliche Vorstellung“ nennen könnte, eine Art nomadisches Kino, das so schnell abgebaut ist wie es eingerichtet wurde, in Kneipen, in Universitäten, in Jugendzentren, in Garagen, wo auch immer. Im Guerilla-Kino vereinigen sich die Vorzüge von DVD und Kino, man bleibt beweglich und unabhängig, aber man ist auch zusammen und kann der Sache einen kommunikativen Rahmen geben. Und im Guerilla-Kino wird man noch wie ein Freund behandelt. Das Kino hat in dieser Situation eine Reihe von Möglichkeiten. Nur eine hat es nicht: Einfach so weitermachen wie bisher, die Schuld auf die bösen DVDs und die noch böseren Raubkopierer schieben und auf den nächsten „Harry Potter“ zwischen den flops zu warten.

Die erste Notwendigkeit: Den Kinos wieder eine liebenswerte Atmosphäre geben, Angebote machen, die über Riesen-Eimer Popcorn hinausgehen; wenn eine DVD so ihre Extras zu bieten hat, dann wird den Kino-Betreibern doch wohl auch noch etwas einfallen, ein Life-Erlebnis, etwas, das das Besondere und Unwiederholbare eines Kino-Besuches ausmacht. Das zweite ist es, die Ergänzung von Kino und DVD, die de facto doch längst besteht, auch aufzunehmen in einer Medienkultur, in der man zum Beispiel unter einem Dach beides bekommen kann.

DVDs sind unsere Film-Bibliotheken, unser filmisches Gedächtnis, das Kino das ist immer noch die Feier, das gemeinsame Erlebnis, der Anlass der großen Diskussionen. Und drittens gibt es natürlich auch weitere Schritte der Kino-Technik in die Zukunft. Das Kino ist schließlich immer auch ein Experimentierfeld für neue Formen der Darstellung und Wahrnehmung. Die nächste Stufe in diesem Wettlauf ist das IMAX-3D-Verfahren: Dabei wird mit einer Kamera aufgenommen, die über zwei Linsen, im entsprechenden Abstand zu den beiden menschlichen Augen montiert, verfügt. Auf diese Weise werden zwei Filme gleichzeitig erzeugt, die übereinander projiziert das menschliche Sehen imitiert. (Allerdings benötigt man einmal mehr die leidigen Brillen.) Die Gefahr solcher technischer Aufrüstung freilich ist es stets, dass sie ins Leere laufen. Man erinnert sich noch allzu gut an das panoramatische Todd-A-Verfahren, zu dem den Regisseuren dann doch nie viel mehr eingefallen ist als Kameras auf Achterbahnwagen zu montieren. Oder an die 3-D-Kinos der fünfziger Jahre, in denen Steine, Pfeile und Feuerbälle auf das Publikum geworfen wurden, egal ob es zur Handlung passte oder nicht. Jede technische Neuerung im Kino ist nur so viel wert, wie es sich zum Geschichtenerzählen eignet. Am Ende der 1990er Jahre waren es weltweit gerade 150 Kinos, die mit der IMAX-Technik ausgerüstet waren, und die meisten davon waren Spezialkinos in einem Event-Raum wie dem Museum oder dem Vergnügungspark. Noch gibt es den IMAX-Film nicht, der das neue Format wirklich bräuchte. Eine versprochene Revolution hat nicht stattgefunden, auch wenn einige der großen Regisseure wie Spielberg und Cameron sich gerne mit ihr befassen wollen. Das Kino muss sich als ein Ort behaupten, der nicht nur technologisch, wie in der Entwicklung der Imax-Kinos oder in den neuen Ansätzen der 3-D-Technik, etwas ganz eigenes zu bieten hat, sondern auch als ein Ort mit einer eigenen Aura, einem eigenen kulturellen Erleben. Um zu überleben muss das Kino nicht nur attraktive Filme zeigen, es muss auch selber ein attraktiver Ort sein.

Die DVD freilich ist nicht allein auf das Kino bezogen. Sie ist auch Speichermedium für die Produktionen des dritten großen Bildlieferanten, des Fernsehens. Auch Fernsehserien verlieren ihre Flüchtigkeit, wenn sie auf liebevollen DVD-Editionen geadelt sind, und das gilt nicht nur für Kultserien wie „Star Trek“ oder „The Simpsons“. Auf der DVD verändert sich das kulturelle und technische Gefälle zwischen der Kino- und der TV-Produktion. Das kommt nicht nur dem „amphibischen“ europäischen Film entgegen, der ja selten ohne Beteiligung des Fernsehens zustande kommt. Auch TV-Serien wie „Hercules“ werden heute mit Budgets und Computertricks gefertigt, von denen manche Kino-Produktion weit entfernt ist. Die digitale Produktion hebt auch hier die Unterschiede auf, die digitale Technologie ist, im Gegensatz zur Analogen Technologie in der Filmproduktion, immer schneller auch für die kleineren Produktionen verwendbar. Paradoxerweise also nähert gerade die Digitalisierung im allgemeinen und die DVD im besonderen die einstigen Konkurrenten Kino und TV einander an. Oder anders gesagt: Die klare Unterscheidung von Filmen, die ins Kino gehören und Filmen die „nur“ Fernsehen sind, ist nicht mehr so einfach. Der Markt der Bilder, so viel ist gewiss, wird eine völlig neue Ordnung erfahren. Nicht mehr so sehr „großes Kino“ und „kleines Fernsehspiel“, nicht mehr Effektgewitter und Menschenkino, Autorenfilm und Massenware, sondern eher Zeitbild und Kultkino, Filme, über die es sich zu reden lohnt, und solche, die über einen hinwegdröhnen, Filme die ihre Zuschauer ernst nehmen, und solche, die sie überrumpeln wollen. Je leichter es (technisch) ist, Filme zu machen und zu vertreiben, desto schwerer wird es, die richtigen Filme zu machen und zu vertreiben.

Die DVD ist ein ideales Speicher- und Bearbeitungsmedium. Die ästhetische Eigenständigkeit von Super 8 oder Video (die ja gerade in ihrer technologischen Reduktion verwendet wurden) kann es freilich (noch) nicht erzielen, eben weil es technisch zu perfekt, zu chamäleonartig ist. In absehbarer Zeit wird vermutlich nur noch der geschulte Blick zwischen einer Filmprojektion und einem DVD-Bild unterscheiden können, so wie man auch nur gerade noch einen 35mm-Film vom Nachfolgematerial der DVCAM, etwa 24p von Sony, unterscheiden kann. Aber die Vorstellung, dass ein Film immer noch „gedreht“ wird, ist damit noch nicht verschwunden. Der wirkliche Film ist weder auf einem Zelluloidstreifen noch auf einer Silberscheibe, er ist im Kopf. Langsam, aber doch stetig, verändert sich auch das, was wir als Film im Kopf haben. Dabei wird das Medium vermutlich am ehesten an unseren Zeit-Vorstellungen etwas ändern, An die Stelle des „Drehens“, der linearen Wiedergabe eines Ereignisses, real oder inszeniert, wird der aus dem Computer-Slang geläufige Begriff des „Zugriffs“ treten. Nicht nur kann man als Konsument beliebig auf die auf einer DVD gespeicherten Informationen, neben Film, Text, Play, Verknüpfungen mit dem Netz, verborgene Features usw. zugreifen, vom Film jederzeit etwa auf eine Text-Information wechseln, von Version A zu Version B, umgekehrt wird auch das digitale Bildermachen ein beständiges „zugreifen“ auf die unterschiedlichsten Bildquellen ermöglichen, von denen einige „privater“ Natur sind. Im Film der Zukunft wird es mir möglich sein, zu einem der Mitspieler zu werden, Regisseur und Star zugleich zu sein. Von einer zweiten Wirklichkeit wird das dann nicht mehr unbedingt zu unterscheiden sein, aber immerhin: Wir machen uns die MATRIX selber. Teilweise jedenfalls.

Der Digitalisierungsträume dritter Teil:

Filmbibliothek oder Neues Medium?

Im Jahr 2005 waren Kino und DVD in aller Munde. Nicht etwa, weil es in diesem Jahr so viel Neues zu sehen gegeben hätte in den Multiplexen, Arthouse Movies und Filmmuseen. Es gab die gewohnten Monster und Mutanten, wenn auch (bei King Kong) in einer bis dahin nicht gesehenen Perfektion auf die Leinwand gebracht. Und es gab das andere Kino, das sich mit der Handkamera auf die unermüdliche Suche nach der verlorenen Wirklichkeit macht. Es gab wunderbare DVD-Editionen vergessener Filme und großer Klassiker und die üblichen Special Editions der Blockbuster zu einigermaßen verbraucherfreundlichen Preisen (weniger nett gesagt: Das nicht mehr ganz so neue Medium erlebte einen Preisverfall).

Trotzdem verloren beide Segmente des Kinos, die Unterhaltungsmaschinen der Multiplex-Theater und die kleinen, engagierten Programmkinos, im vergangenen Jahr 2005 so viel an Zuschauern, dass die Krise als existenzbedrohend erscheinen musste. Und der DVD-Markt expandiert noch, aber ein Punkt der relativen Sättigung ist in Sicht.

Zur gleichen Zeit aber hatte das Medium Film, unabhängig von seinem Träger und seinem Abspielort, auch einen gewaltigen Umbruch vor sich. Es war drauf und dran, endlich den letzten Schritt ins digitale Zeitalter zu tun. Die Zuschauerkrise des Kinos hat diese Bewegung sicherlich beschleunigt. Sie sorgt, genauer gesagt, für eine merkwürdige Verbindung von Untergangsstimmung und Aufbruchsphantasie. Das Kino stirbt. Oder nein: Es wird gerade einmal wieder neu erfunden.

Tod und Wiedergeburt, das hat dieses Medium seit seiner Geburt vor hundertundzehn Jahren begleitet. Aber vielleicht zum ersten Mal wird eine Krise dieses Mediums empfunden als wäre es sehr viel mehr als eine Neuordnung auf dem Markt der Bilder und Träume. Ein tiefgreifender Umbruch in der Kultur der Bilder.
Und wir sind mittendrin. Ob als Programmkino-Nostalgiker, Multiplex-Junkies, Heimkino-Besitzer oder Fernsehzuschauer. Digitalisierung ist das Zauberwort. Es verspricht eine schöne neue Welt der audiovisuellen Wunder. Oder den Schrecken endloser Bilderwellen immer perfekterer Simulationen. Oder doch nur die alten Geschichten, neu verpackt.

Das Kino also wird ein digitales Medium. Von der Aufnahme über die Bearbeitung bis zum Transport und zur Projektion; und ein vollkommen digitales Medium wird der Film in absehbarer Zeit auch im Kino daheim. Filme kann man nicht nur auf kleinen silbernen Scheiben nach Hause bringen und horten, sondern auch aus dem Netz fischen. Nur im Kino, da gibt es noch dieses anachronistische Rattern eines Projektionsapparates, das typische kleine Flackern, die Kratzer auf dem Filmmaterial. Die Möglichkeiten der digitalen Projektion sind technisch schon lange vorhanden. Mindestens fünf gute Gründe haben bislang dagegen gesprochen:

1. konnte man sich nicht darauf einigen, wer die Kosten für die Umrüstung der Kinos übernimmt, die möglicherweise Einsparungen beim Transport der Filme bedeutet.
2. jeder Kinobetreiber weiß, wie lange ein 35mm-Projektor seinen Dienst versieht, bei den neuen digitalen Geräten gibt es noch keine Erfahrung. Die technische Entwicklung ist noch wesentlich schneller als der ökonomische Wagemut der Branche.
3. das Publikum, sagte man noch vor kurzem, wäre der digitalen Projektion gegenüber eher skeptisch: zu perfekt, zu ruhig, zu kalt. Wenn man auf der Produktionsseite einen Film digital herstellen kann, der einen perfekten Film-Look erzeugt (Kameraleute wie Michael Ballhaus geben die Kunst der digitalen Fotografie mit Movie-Look bereits an eine nächste Generation weiter) so ist es doch schwieriger, diesen Look auch bei der Projektion beizubehalten.
4. auch die Angst vor der Piraterie hält die Branche davon ab, Filme via Netz oder Satellit an die Abspielplätze zu bringen. Und
5. konnte sich die Industrie lange Zeit nicht auf einen verbindlichen Standard für die Qualität der Projektion einigen.

Unter dem Einfluss der großen Kino-Krise scheint man nun für alle diese Probleme zumindest vorläufige Lösungen gefunden zu haben: Statt den Kinobesitzern eine kostspielige Investition zuzumuten wurde ein Leasing-System für digitale Projektions-Hardware entwickelt, das Kosten und Risiken verteilt. Damit konnte den Kinobetreibern auch die Angst genommen werden, ständig von neuen Entwicklungen überrollt zu werden. Und schließlich zeigte sich, dass das Publikum die ruhige und fehlerfreie Projektion durchaus akzeptiert, bei den effektlastigen Blockbustern ohnehin, aber auch bei bescheiden budgetierten Dokumentarfilmen, die mittlerweile in einem europäischen Projekt für unabhängige digitale Kinos unter dem Begriff „Docuzone“ auch finanziell gefördert werden.

Der Piraterie schließlich begegnete man mit einer so einfachen wie wirkungsvollen Zwischenlösung: Die Filme erreichen die Abspielplätze (noch) nicht über Netz oder Satellit, sondern werden auf Festplatten geliefert. Ein spezieller Code lässt bestimmte Filme nur für bestimme Abspielgeräte zu.

Bleibt also die Einrichtung eines verbindlichen Standards für die digitale Projektion. Das elektronische Bild besteht ja aus einer Anzahl quadratischer Bildelemente, genannt Pixel, die ein regelmäßiges Raster bilden (anders als beim traditionellen Film mit seiner gestreuten Anzahl von Bildelementen). Die Anzahl der Pixel ist das Qualitätsmerkmal für Auflösung und Schärfe des Bildes. Der so genannte DIC-Standard (Digital Cinema Initiative) geht von zwei Qualitätsstufen aus: entweder 2.000 („2K“) oder 4.000 Pixel („4K“) entlang der Breite des Bildes. Des Weiteren spielt der Helligkeits- und Kontrastumfang sowie der Farbraum, sozusagen die Palette für die Farbgestaltung eine Rolle. Je größer der Farbraum, desto leuchtender und differenzierter wird das Bild. Anders als bei der Pixel-Menge, 2K sind augenblicklich State of the Art, 4K sind für die Zukunft angepeilt, sind für den Farbraum noch keine Grenzen abzusehen. Im jetztigen DCI-Standard sind alle Farben, die das menschliche Auge wahrnehmen kann, enthalten, entscheidend ist nur, dass Kamera und Projektor über die gleichen Farbräume verfügen. Die Software für die digitale Projektion enthält auch ein Programm zur „Kalibrierung“, also zur Anpassung des Farbraums: Es ist ein enormer Vorteil der digitalen Projektion, dass das Bild auf der Leinwand bis in die kleinste Nuance die Farbe und die Helligkeit wiedergibt, die Kamera und Regie eines Films für den speziellen Look gewählt haben.

Um freilich wirklich den Standard zu erreichen, den eine 35mm-Projektion aufweist, müsste das digitale Bild mit 4 K aufgenommen und vorgeführt werden. Hier aber gibt es noch Probleme bei der Bearbeitung: 4K ist mit den aktuellen Mitteln noch nicht echtzeit-fähig, das heißt es gibt noch keine Rechnersysteme, die die hohen Speicheranforderungen erfüllen, dass man einen 4k-Film so aufnehmen und abspielen könnte wie einen Film oder eine DVD, nämlich durch das Drücken einer Record- oder Play-Taste. Neue Kameras, die etwa bei Arri entwickelt werden, können mit echten 35mm-Optiken arbeiten und erzeugen in Ausschnitt und Look ein Bild, das von uns Laien kaum noch von einem echten 35mm-Bild zu unterscheiden ist.

Das digitale Kino ist also keine Vision mehr; lange genug hat dieser letzte Schritt ja auf sich warten lassen. Immerhin hat Francis Coppola schon vor beinahe dreißig Jahren von einer völlig neuen, rein elektronischen Filmsprache und ganz neuen Kino-Erlebnissen geschwärmt (bevor er mit seinen Zoetrope-Studios Schiffbruch erlitt – man kann eben auch zu früh dran sein). Sowohl in der Produktion als auch in der Distribution werden dabei enorme Summen eingespart (wenn man natürlich auch genügend Möglichkeiten findet, das Geld an anderer Stelle wieder aus dem Fenster zu werfen). Unter dem Strich werden für Verleiher und Kinobesitzer aber möglicherweise genügend Möglichkeiten bleiben, die ersparten Summen in weitere Entwicklungen zu stecken.

Denn ist der Anfang der Digitalisierung des Kinos erst einmal gemacht, werden wohl auch neue Formen des „expanded cinema“ im Kino möglich. Alte Attraktionen werden wieder aufgegriffen: Als erstes ein neues 3D-Format, das die Beschränkungen der alten Verfahren weit hinter sich lässt. Und es gab auch schon immer andere Erweiterungen, das Riechkino, das „Odorama“ von John Waters, oder das „Fühlkino“ wie bei „Erdbeben“. Aber immer hat man schnell gemerkt, dass das nur Spielereien sind, die nicht wirklich neues Publikum anlockten. Die Schlussfolgerung war, dass das Kino solche Erweiterungen einfach nicht braucht, um seine Geschichten zu erzählen. Gutes Bild und guter Ton sind alles, was ein guter Film braucht, so lautet das Credo der Traditionalisten, alles andere sind Jahrmarktattraktionen, deren Wirkung schnell verpufft, weil es einfach keine Kino-Geschichten gibt, die man in der neuen Technik erzählen könnte.

Das ändert sich freilich mit der Digitalisierung. Denn wenn alle diese Elemente einer Erweiterung des Kinos auf der vierten und fünften Dimension der Wahrnehmung in einem Programm zusammengeführt sind, lassen sie sich nicht nur sehr genau aufeinander abgestimmt einsetzen, sondern auch dezent, gleichsam an der Schwelle der Wahrnehmung. Eine leichte Neigung der Kinosessel, ein Hauch von Rosenduft oder Wüstenhitze. Auch das digitale Bild erlebte seinen Siegeszug erst, als es sich in traditionelle Erzählweisen einfügte; Computerfilme waren erst erfolgreich, als sie nicht mehr wie Computerfilme aussahen. Und das digitale Expanded Cinema, dessen erste Modelle jüngst in Berlin vorgestellt wurden, wird sich erst dort durchsetzen, wo man es kaum noch wahrnimmt, abgesehen von einem wohligen Gefühl, mit allen seinen Sinnen vom Kino gefesselt zu werden.

Dieses totale, digitale Kino hätte wohl der heimischen DVD-Anlage gegenüber wieder einen technologischen, ästhetischen und wohl auch sozialen Vorsprung (wahrscheinlich ist dieses totale Kino erst einmal wirklich nicht alleine auszuhalten). Aber durch die Digitalisierung hat auch ein Kinobetreiber, der ganz andere Interessen bedient, etwa den Spaß an einem kleinen, menschlichen und unabhängigen Film-Geschehen, neue Vorteile. Kinos, die am Docuzone-Programm teilnehmen, können auf ihrer Server-Festplatte bis zu 50 aktuelle Filme gespeichert haben (unvorstellbar im Umgang mit herkömmlichen Kopien) und auf diese Weise direkt und spontan auf die Wünsche des Publikums reagieren. Kinos können ganze Festivals spielen.

Die große Angst der Kinobetreiber, nämlich dass die Spanne zwischen Kino-Aufführung und DVD-Veröffentlichung eines Filmes immer kürzer wird, ist im digitalen Betrieb eines „totalen Kinos“ nicht mehr so beherrschend. Denn an die Stelle eines schieren Wettlaufs in der Zeit könnte dann eine neue Ergänzung der verschiedenen Medien treten. Das Kino als Erlebnisraum, und die DVD als privates und kollektives Speichermedium.

Doch auch im Heimkino ist der digitale Umbruch nicht mehr fern. Die Tage der guten alten DVD sind gezählt, bei der Einführung der Nachfolger häufen sich die üblichen Probleme einmal mehr: Der Wettkampf mehrerer Systeme, das Problem der Umrüstung der Haushalte mitsamt der Frage nach der Abwärtskompatibilität der neuen Datenträger, die nostalgische Liebe zu den alten Scheiben, der nächste Schub der Piraterie, die Feinabstimmung zwischen neuer Software und neuer Hardware… Wir ahnen etwas: Jede Besitzerin und jeder Besitzer einer Heim-Kino-Anlage hat in seinem bescheidenen Rahmen die gleichen Konflikte wie ein Kinobetreiber, und die Anbieter der Heimkino-Filme haben die gleichen Probleme wie die Branche des digitalisierten Filmverleihs. Der große Sprung in der Medien-Technologie wird kommen, wenn die nächste Krise kommt.

Was die DVD als Speichermedium taugt, das ist ja noch nicht wirklich geklärt. Ein Film ist nach hundert Jahren noch abspielbar, wenn man ihn gut behandelt hat, und auch Arbeiten der Restauration sind, wenn auch teuer und zeitaufwändig, noch in denkbar ramponiertem Zustand möglich. Videobänder bringen es nicht einmal auf ein Zehntel dieser Haltbarkeit, bei DVD’s wollen sich nicht einmal Experten festlegen. Aber mehr noch: Eine zerstörte Datei ist verloren, unwiederbringlich. Aus diesem Grund verschwindet nicht einmal in der voll digitalen Filmproduktion und im digitalen Kinobetrieb das alte Material; in den Kellern der großen Studios lagern nicht Daten, nicht Festplatten, und natürlich keine DVD’s, dort lagern Filmrollen. Auch von Filmen, die niemals das Licht eines Projektors gesehen haben. Selbst von „tapeless movies“, Filme, die bereits bei der Produktion ausschließlich auf eine Festplatte gebannt wurden.

Auf die gleiche Weise wohl werden auch im privaten Gebrauch DVD’s bzw. ihre Nachfolger nicht verschwinden, auch wenn man die Filme in absehbarer Zeit in Echtzeit aus dem Netz oder aus dem Äther beziehen kann. Denn ein Medium, das ist nicht nur das, was als Software gespeichert ist, es ist auch der praktische Umgang mit der entsprechenden Technologie. Die Erinnerung an das Material, den Look einer jewel box, das verlässliche Dasein eines Sammlerstücks. Vielleicht wollen wir ja auch, je virtueller das Kino als totaler digitaler Erlebnisraum werden kann, zuhause ein bisschen was zum Anfassen.

Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in Filmspiegel 09/ 2005