Die intellektuelle Filmkritik und das Popcorn-Universum

Erste unordentliche Gedanken für einen (hoffentlich) beginnenden Dialog über die Zukunft der deutschen Filmkritik

Das Kino ist vor allem deswegen so spannend (und von klassischer »Kunst« unterschieden), weil es, egal in welchem Teil der Produktion zwischen Autorenfilm und Blockbuster, immer eine Begegnung ist zwischen Industrie und Ästhetik, Jahrmarkt und Salon, Kunst und Massenkommunikation. Aber diese Spannung ist auch für Krisen verantwortlich. Zum Beispiel, wenn ein Kino nur noch dafür da scheint, das Publikum zu Tode zu amüsieren, oder andererseits, wenn es so selbstreferenziell und ausgeklügelt ist, dass es nur noch von Eingeweihten zu entschlüsseln ist. Ob die Lösung »in der Mitte« liegt, darf bezweifelt werden, wie Filme zeigen, die versuchen »in der Mitte« zwischen Kunst und Unterhaltung zu liegen, und dabei nur erreichen, nicht mehr der Rede wert zu sein.

Diese Spannung zwischen politischer Ökonomie und Ästhetik setzt sich auch im Sprechen über Film fort. »Gut« und »Schlecht«, das muss jede Filmkritik mit denken, ist in diesem Medium eine Frage des Zusammenhangs. Man kann fragen, wie gut Filme für die Zeit sind, in der sie projiziert werden, man kann aber auch fragen, was sie mit dem Rest unseres Lebens machen. Man kann nach dem Interesse und der Macht fragen, nach Schönheit und Dissidenz, oder auch danach, ob man als Kunde zwei Stunden Lebenszeit und zehn Euro verschwenden soll oder nicht.

Entsprechend hat es auch immer zwei Grundformen der Filmkritik gegeben. Diese Spaltung der Kritik gibt den Zwiespalt von Industrie und Kunst im Kino nicht nur wieder, sondern verschärft ihn. Die eine, nennen wir sie die »intellektuelle« Filmkritik, versucht, sich analytisch und unbestechlich zu geben; sie darf beinahe alles, nur nicht langweilig und arrogant sein. Unnütz zu sagen, dass ein Gutteil der »intellektuellen« Filmkritik dieses Kunststück durchaus fertig bringt, nämlich langweilig und arrogant zu sein. Die andere, nennen wir sie die Popcorn-Kritik, geht grundsätzlich von einem Dienstleistungscharakter für ein Publikum aus, das ein Grundrecht auf mehr oder weniger unbeschwertes Amüsement hat. Dieses Popcorn-Schreiben darf beinahe alles, nur nicht langweilig und korrupt sein. Unnütz zu sagen, dass ein Gutteil der Popcorn Kritik eben dieses Kunststück durchaus fertig bringt, nämlich langweilig und korrupt zu sein.

Sowohl die intellektuelle als auch die Popcorn-Kritik treffen sich in der Mitte der publizistischen Öffentlichkeit, sie konkurrieren um die Aufmerksamkeit und Identifizierung der Filmzuschauer, oft im selben Medium, manchmal sogar in ein und demselben Autoren. Der Grundkonflikt zwischen der intellektuellen und der Popcorn-Kritik löst sich in der Kegel in einem mürrischen Nebeneinander auf, solang es dieses Nebeneinander auch in der Filmproduktion selber gibt. Genre-Kino auf der einen Seite, Kunst-Kino auf der anderen, das heißt: hier Tratsch & Klatsch, Jubel- und Erwartungsdramaturgie, dort Tiefschürfendes, Grundsätzlicheres, mehr Fremdwörter. Ärgerlich für den Burgfrieden sind die »Übergriffe« von der einen oder der anderen Seite: Wenn der Popcorn-Kritiker sein Unverständnis gegenüber einem Godard-Film in eine anti-intellektuelle Tirade verwandelt oder wenn der intellektuelle Kritiker sein Unverständnis gegenüber einem HARRY POTTER-Film  in eine Tirade gegen Kulturindustrie und Verblödung kleidet.

Es gibt offensichtlich auf beiden Seiten »Fundamentalisten«: Bewohner des Popcorn-Universums, die jede kritische Öffnung ihrer geschlossenen Kinowelt als Kränkung betrachten; Bewohner des Diskurs-Universums, denen die Vorstellung von purem Vergnügen als unsittliches Angebot erscheint. Wenn ich mich bei einem Rundblick über die Filmkulturen nicht sehr täusche, so gibt es kein Land, in dem sich intellektuelle und Popcorn-Fraktion so unentspannt, unversöhnt und ideologisch aufgeladen begegnen wie in Deutschland. Das hat wohl einen größeren Zusammenhang. Der große Bruch zwischen dem Diskurs- und dem Popcorn-Universum wird hier überlagert und verstärkt von einem allgemeinen antiintellektuellen Impuls auf der einen und einem antipopulären Impuls auf der anderen Seite. Wer wissen möchte, wie nützlich ein Dialog zwischen intellektueller und Popcorn-Filmkritik sein kann, muss in die USA schauen: Kino-Diskussionen zum Beispiel im Internet sind dort offener, respektvoller und sprachlich sorgfältiger als in den entsprechenden deutschen Foren. Und Intellektuelle und Popcorn-Kritiker nehmen sich gegenseitig ebenso ernst wie Profis und Laien.

Im Klartext: Zum einen ist die Unterscheidung zwischen intellektueller und Popcorn-Kritik keine Unterscheidung der Qualität, sondern eine der Perspektive. Zum Zweiten ist sie im Einzelfall so willkürlich wie es die Unterscheidung zwischen einem Mainstream- und einem Arthouse-Film ist. So wie diese Unterscheidung eigentlich weniger den Gehalt und die Form eines Films definiert als vielmehr eine Vermarktungsstrategie, so ist der Unterschied zwischen der intellektuellen und der Popcorn-Kritik nicht allein durch Anspruch und Interesse, sondern wesentlich durch die Markt-Positionierung der Medien bestimmt. Damit ist nicht nur deutlich, dass es sowohl strunzdumme »intellektuelle« Filmkritik als auch erhellende Popcorn-Kritik gibt, sondern dass diese Positionierung schnell zum Selbstläufer wird. Popcorn- und intellektuelle Kritik werden einander zu einem bestimmten Punkt spinnefeind, und das, obwohl sie im wirklichen Leben sowohl voneinander profitieren können als auch durchaus fruchtbar streiten.

Natürlich werden die fundamentalistischen Positionen der Kritik auch durch ein (Lese-)Publikum erzeugt, das selber gelegentlich zu fundamentalistischen Positionen neigt. Da gibt es Leute, die sich ausschließlich für künstlerisch und politisch »relevante« Filme interessieren und nur die entsprechende Kritik gebrauchen können. Diese Position ist nur zu verständlich und legitim, aber sie bedeutet die Negation des Popcorn-Universums als Teil unserer Kultur, und von der Kritik wird sogar verlangt, diese Negation mit zu betreiben. Und da gibt es Leute, die das Kino explizit begreifen als einen Ort, an dem Geist und Bewusstsein nichts zu suchen haben. Die nun verlangen von einem Popcorn-Kritiker, dass er ihnen die anti-intellektuelle Attitüde bestätigt. Mit anderen Worten: Am Kino und der Perspektive der Kritik wird auch ein Stellvertreter-Kampf zwischen den populistischen und den intellektuellen Kräften ausgeführt.

Dass der Widerspruch zwischen der intellektuellen und der Popcorn-Kritik bei uns so groß ist, der Graben zwischen beiden so tief, hat weniger mit Mentalität zu tun; es liegt vor allem an der Struktur unserer Film-Kultur. Es liegt, sagen wir es noch drastischer, an höchst prekären wirtschaftlichen Positionen auf beiden Seiten. Zweifellos hat sich in den letzten Jahren, ebenso wie die Filmproduktion selber, hierzulande vieles von der intellektuellen auf die Popcorn-Seite bewegt. Aber der ökonomische Erfolg war eher zweifelhaft.

Heftiger noch als in der Publizistik tobt der Kampf zwischen Anspruch und Unterhaltung in der Produktion. Der deutsche Film ist auf eine neue Weise hybrid geworden. Das heißt unter anderem: Er benötigt die Popcorn-Kritik, kann aber auf die intellektuelle Kritik nicht verzichten. Je mehr die Filme selber zugleich Kunst und Unterhaltung sein wollen, desto mehr bricht dieser Widerspruch zwischen den intellektuellen und den Popcorn-Kritikern auch wieder auf. Ein Film nämlich, der, um vermarktet zu werden, sowohl die intellektuelle Filmkritik braucht als auch die Popcorn-Kritik kann gar nicht anders als den Streit zwischen beiden zu befeuern.

In Deutschland betrifft dies in erster Linie die inflationäre Produktion von »nationalen Feelgood Movies«, so zwischen HILDE und JOHN RABE mit Fernseh-Ausläufern wie dem »Krupp«-Mehrteiler, die einen etwas erzürnten Widerstand der intellektuellen Filmkritik gerade dadurch hervorrufen, dass sie in den Zirkeln der Popcorn-Kritik und des anschließenden Merchandising so hochgejazzt werden. Umgekehrt trifft dann gerade solche nicht von ungefähr schlecht gelaunte intellektuelle Kritik auf den Widerstand einer Popcorn-Kritik, die nun plötzlich nicht mehr mit dem Popcorn-Universum, sondern einem Universum nationaler Mythen argumentiert.

Nun geht es um die Existenz gleich auf zwei Ebenen: Um das Recht einer Unabhängigkeit der Kritik von ökonomischen Verwertungsinteressen und um das Recht auf ideologische Unabhängigkeit. Denn die wirkliche Konfliktlinie verläuft nicht zwischen intellektueller und Popcorn-Kritik, sondern zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit. Unabhängigkeit von den ökonomischen Interessen des Betriebes, der Politik, der Medienlandschaft und den Erwartungshaltungen des Publikums.

Praktisch aber wird der Konflikt und seine Bearbeitung zu einer Überlebensfrage der deutschen Filmkritik. Sie ist nämlich auf dem besten Wege, nicht nur ideell, sondern auch ökonomisch bedeutungslos zu werden. Denn es ist das eine, dass sich intellektuelle und Popcorn-Kritik im Inneren nicht verstehen, zur gleichen Zeit nähern sie sich im Äußeren auch immer mehr einander an. Die intellektuelle Kritik nimmt die Popcorn-Tüte in die Hand; die Popcorn-Kritik schnappt sich soziologische und psychologische Brocken. Das Ergebnis ist ein rapider Qualitätsverfall auf der einen wie auf der anderen Seite.

Damit ist auf keinen Fall die Unterscheidung zwischen der guten, professionellen und intellektuellen Filmkritik in den Print-Medien und einer flüchtigen, dilettantischen und sprachluderischen Filmkritik im Internet gemeint. Nein, der eigentliche Widerspruch verläuft nicht zwischen Unterhaltung und Kunst, sondern zwischen Ideologie und Aufklärung. Das gefährlichste Argument der fundamentalistischen anti-intellektuellen Popcorn-Kritik ist eben der Kurzschluss zwischen Unterhaltung und Ideologie. Wenn es gefällt (und eben »gut gemacht« ist), dann ist es auch gut, egal ob es dumm macht, lügt und propagandistisch ist. In diesem Punkt wird eine ausgeprägt konformistische Popcorn-Kritik selber zu dem, was sie den Gegnern eigentlich vorwirft, nämlich politisch. Nur nennt man es dort nicht so. Das gefährlichste Argument der fundamentalistischen intellektuellen Kritik gegenüber dem Popcorn-Universum ist, es von vornherein als dumm und reaktionär hinzustellen. In diesem Punkt wird eine konformistische intellektuelle Filmkritik zu dem, was sie dem Gegner unterstellt: blind.

Der mögliche Dialog zwischen intellektueller und Popcorn-Kritik, ganz explizit auch als Frage an Leser von Filmkritiken, geht von einer Situation aus, wo aus dem kreativen Widerspruch eine unproduktive Unversöhnlichkeit geworden ist. Die intellektuelle Filmkritik ist im Augenblick dabei, sich im Kreis zu drehen. Sie richtet sich in einem schrumpfenden Ghetto ein. Genau dasselbe macht die Popcorn-Kritik. Sie ist so krampfhaft begeistert, dass man förmlich die lauernde Langeweile an allen Ecken und Enden spürt.

Wenn sie mit den neuen Bedingungen in ihren Medien und in der Produktion ihres Gegenstandes zurechtkommen will, dann muss sich die deutsche Filmkritik demnächst neu erfinden. Vielleicht jenseits des alten Widerspruchs von intellektueller und Popcorn-Kritik. Mit einem großen und schwer zu erfüllenden Programm: Wir wollen weder langweilig, noch arrogant, noch korrupt sein.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in epd Film 6-2009