Die Brücke (Deutschland, 1959 © Interfoto, Friedrich)

Es ist 1945, die Rote Armee steht vor Berlin. Ein junger Mann in sowjetischer Uniform hat eine Flüstertüte in der Hand. In makellosem Deutsch ruft er einem menschenleeren Dorf zu, man solle sich ergeben. Nichts rührt sich, der Kampf ist noch nicht zu Ende. Der Film, in dem diese Szene zu sehen ist, heißt: „Ich war 19“, sein Regisseur Konrad Wolf. Er hat in diesem Spielfilm seine Rückkehr in sein Geburtsland Deutschland als milchbärtiger Soldat und Dolmetscher der Roten Armee verarbeitet. Das wird an keiner Stelle deutlich gesagt, aber man spürt das Autobiographische, denn der Film beharrt so sehr auf der Genauigkeit jeder Geste und jeden Wortes, wie sie nur unter dem Brennglas einer persönlichen Erinnerung deutlich werden, Konzentrate einer Zeit, die sich sonst verflüchtigt hat. Das ist es, was vom Erlebten übrig bleibt, ein genauer Blick auf die Menschen und eine Geschichte fern von den konventionellen plotpoints, in denen Filme heute erzählen. Wolf wusste: das Leben hat keine narrative Struktur.

Über 50 Jahre später sitzt ein junger Mann in einem karg möblierten Zimmer vor einer Kamera, zusammen mit seiner Freundin. Die Vorhänge sind geschlossen. Beide Gesichter sind in eine künstliche Unschärfe gesetzt und nicht zu erkennen. Und je deutlicher sich der Film seiner Geschichte nähern wird, desto weniger werden wir wissen, wer der junge Mann ist, denn er wird eine und dann noch eine andere und dann eine dritte digitale Maske vor dem Gesicht haben. Der junge Mann ist ein Soldat der israelischen Armee und ein Kriegsverbrecher und er erzählt seine Geschichte nur unter der Bedingung, dass sein Gesicht und damit seine Identität nicht erkannt werden. Die unterschiedlichen digitalen Masken sind so perfekt, dass erst durch eine Hand, die sich zum Mund schiebt, deutlich wird, dass dieses glatte, junge Gesicht, an das man sich so gewöhnt hatte, eine Maske ist. Dieser Maskenmann, würde man ihn nach seinem Alter fragen, würde wohl auch von sich sagen: „Ich war 19.“ Aber der Film, der hier in Rede steht, heißt „Z32“ und ist von Avi Mograbi.

Über 50 Jahre trennen diese beiden jungen Soldaten. Der eine hat ein Gesicht, der andere versteckt es. Der eine ist mit sich im Reinen, er weiß, warum er mit einer fremden Armee als Sieger in sein Heimatland kommt, die Gewalt, die er ausübt, ist legitimiert. Der andere quält sich, denn er hat im Rahmen einer Vergeltungsmission in den besetzten Gebieten einen unbewaffneten Araber erschossen. Und: er hat diesen Mord mit großer Lust ausgeführt. Dafür sucht er nach Erklärungen und nach Vergebung.

Zwei sehr junge Männer, in dem richtigen Alter, in dem man  junge Männer für jeden Zweck einspannen kann. Das war vor 50 Jahren nicht anders als heute. Der Maskensoldat erzählt von seinem Militärdienst: „Es sind 99 Prozent Demütigungen und Quälereien und 1Prozent militärische Fähigkeiten.“ Es gibt im Deutschen einen Begriff dafür: schleifen. Junge Männer werden zu Kriegswerkzeugen geschliffen und sie akzeptieren das mit sportlichem Stolz. Unser Maskensoldat konnte sein eigenes Gewicht tragen und strengte sich an, seine Leistung zu erhöhen. In unserer Postmoderne ist Krieg vor allem eine physische Erfahrung. Die Grenzen von Sport und Militär verschwimmen, im Zentrum steht der heroische Körper und Soldat sein, ist eine besonders intensive Form von männlichem Leben. Das Ergebnis dieses Schliffs sind menschliche Sprengladungen ohne Sprengstoffgürtel, die schon scharf gemacht sind und die jeden Moment explodieren können. Nur: was machen diese uniformierten Sprengladungen im Wartestand? „Wir hatten das schreckliche Gefühl, das überall sonst alles Mögliche passierte, aber wir, eine Eliteeinheit, hatten nichts zu tun. Unsere Vorgesetzten verstanden, dass sie uns auf die schlimmsten Missionen schicken konnten, weil wir so hungrig auf Aktionen waren. Und so bereit zu töten, dass wir alles tun würden.“ Hier spricht kein besonders scheußliches Exemplar von Mensch. Auch der israelische Schriftsteller David Grossmann, der in seinem Buch „Eine Frau wartet auf eine Nachricht“ den Tod seines eigenen Sohnes am letzten Tag des Libanon-Krieges verarbeitet hat, sagt über sich selbst: „Ich war in der Armee und wollte gerade dorthin, wo es gefährlich war, ich wollte action.“ Die, die junge Männer zu Kampfmaschinen abrichten, wollen sie auch einsetzen. Und die jungen Männer wollen genau dasselbe.

Von heute aus gesehen, hat Konrad Wolf es vergleichsweise einfach gehabt, er steht auf der Seite der Sieger in jeder Hinsicht, nicht nur militärisch, sondern auch moralisch. Gewalt war noch sinnverbrämt und es gab noch „gute Kriege“. Aber die Frage, wer den Krieg gewonnen oder verloren hat, löst sich umso konsequenter auf, je mehr man von der strategisch-politischen Perspektive zur Perspektive des Subjektes wechselt. Da gibt es viele subjektive Verzweiflungen und keine objektive Wahrheit. Auch der unbekannte Maskensoldat von heute hat noch eine Ideologie oder ein Land, für die er in den Kampf zieht. Aber beides ist nur noch eine blasse Erinnerung hinter dem ungeheuren Druck, den die Lust des Tötens auf ihn ausübt. Die Waffen haben die Herrschaft über die Soldaten gewonnen und das Monopol über Körper und Geist hat der Apparat. Der thrill dieser physischen Entladung kommt direkt aus dem Kino. Das hat in den letzten 20 Jahren in den dirty war movies – durchaus ambivalent, widersprüchlich und frivol – gezeigt, dass der Krieg auch Spaß macht, dass er ein einziges, riesiges Männervergnügen ist, auch wenn er keinen Sinn macht und in sich selbst idiotisch und gemein ist. Seine Verführungskraft liegt in seinem Versprechen einer ungeheuren Überhöhung. Unser Maskensoldat sagt es: „Jeder Soldat will Chuck Norris sein, die Frauen ficken wie Superman.“

Es ist ein Versprechen auf eine entfesselte Triebkonstellation von Gewalt und Lust und von Lust an der Gewalt und das treibt die jungen Männer zum freiwilligen Kriegseinsatz. Die Freundin des Maskensoldaten, die nicht in der Armee gewesen ist und die ihm zur Beichtmutter werden muss in der Stunde der Not nach der Tat spricht  es aus: „Deine feuchten Träume vom Töten.“ Krieg und Töten sind  zur Droge geworden, auch zur sexuellen. Dass inzwischen massenhafte Vergewaltigung im Krieg offiziell als Kriegsverbrechen anerkannt sind, trägt dem Rechnung. Und damit wir nicht meinen, all dies spiele sich nur woanders ab – in Jugoslawien vor 20 Jahren, in Afrika heute, out-there und nicht in-here – und es werde uns in Mitteleuropa nicht berühren, sollten wir uns daran erinnern, dass auch für unseren deutschen Andreas Baader Ficken und Schießen ein Ding war. Und dass genau das die Faszination ausmachte, die der deutsche Terrorismus auf andere ausübte.

Der Wutausbruch, auch ohne Gewehr und Mord, gehört heute zu den Regeln der Männlichkeit, jeder Film zeigt uns das. Mann ist Mann durch den gewaltsamen Affekt. Die israelische Psychologin Ishai Karen war geschockt, als sie herausfand, welche Freude die Soldaten an der absoluten Regellosigkeit und der Vergiftung durch die Macht hatten, die die Waffen ihnen verschafften. Sie zitiert zwei Soldaten, die ebenso wie unser Maskensoldat anonym bleiben wollen. Soldat C sagt: „Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe – ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“ Soldat D sagt: „Es ist großartig, dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.“

 

Ist der Krieg heute der Spielplatz der jungen Männer, bevor sie zu Menschen werden?

Als der Maskensoldat seine Freundin fragt, ob sie ihn für schuldig hält und wütend auf ihn ist, zögert sie: „Nicht so sehr, wie ich damals gewesen bin, aber jetzt… nein…. ja. Nein…. Damals hattest du noch keine emotionale Reife.“ Denn die, die da auf den Kriegsplätzen ihre Waffen benutzen als seien es Holzgewehre im Sandkasten, sind sehr junge Männer in Körpern, in denen sich das  Potential der Vernichtung immer mehr aufstaut. Und sie sind Geiseln des totalitären Apparats Armee. Jeder totalitäre Apparat beschädigt die Subjektivität, er baut großen Druck auf, um das Individuum seiner menschlichen Substanz zu entleeren. Der beschädigte Mensch im Soldaten rettet sich aus dieser Zerstörung in einen gewalttätigen Subjektrausch. Er schießt, und in der Vernichtung des anderen erfährt er sich selbst. Plötzlich wird wieder etwas sichtbar, was für ihn vor lauter Warten schon diffus geworden war: es gibt einen Feind, gegen den man sich zur Kampfmaschine hochgerüstet hat, auch wenn der nur zufällig da ist und keine Waffe trägt. Das ist wie ein Trip zum Vergnügungspark: Joy, Pleasure, intoxication. Die unerträgliche Verpflichtung zivilisierter, demokratischer Armeen, jeden zu beurteilen nur nach seiner Tat, im anderen das Individuum zu sehen, den Menschen, führt zur soldatischen Lähmung. In einem Gewaltakt stellt unser Maskensoldat seinen diffus gewordenen Status des Kriegers wieder her, denn etwas anders hat er nicht. Dann liegt der Tote auf der Erde und der Schütze erinnert sich: „Ich wollte den Toten anfassen, aber meine Kameraden riefen: „Das ist ja eklig.“ Und dann habe ich ihn mit dem Fuß umgedreht… und er war wie Jelly.“ Eine weiche Masse, kein Mensch. Der Soldat fährt mit seinen Kameraden in die Kaserne zurück und danach geht er mit seiner Freundin zu einem Konzert. „Wir sahen eine tolle Show in der Nacht.“ Die Normalität hat ihn wieder.

Wir wissen nicht, wann diese falsche Normalität für ihn zerbrach, wann der Kampf des Menschen begann, der jetzt, versteckt hinter der Maske, über das Kriegsverbrechen des Soldaten, der er war, berichtet. Bei Konrad Wolf gibt es zwei Szenen, die dazu etwas aussagen. Die erste irritiert. Die Soldaten der Roten Armee kommen nach Sachsenhausen und einer der Kapos präsentiert die Genickschussanlage und spricht über den technischen Vorgang der Einleitung von Gas. Der Film und seine Hauptfigur verhalten sich dazu ziemlich nüchtern. Es gibt keinen Gefühlsausbruch. Den gibt es zum Schluss, als der Freund des Protagonisten in einem Feuergefecht mit der SS gestorben ist. Jetzt bricht der Furor der Gefühle los mit Verzweiflung und Racheschwüren. Konrad Wolf weiß, es braucht einen privaten Auslöser, damit der Schrecken vor dem technologisierten Grauen einen Ausdruck finden kann.

Den Maskensoldaten trieb es irgendwann in die Gruppe „Das Schweigen brechen“, in der er sich inzwischen gegen israelische Kriegsverbrechen engagiert. Ihre Mitglieder sind ehemalige Kämpfer und genießen in der israelischen Öffentlichkeit hohe Glaubwürdigkeit und Sympathien. Der trainierte Soldat war stolz darauf gewesen, sein eigenes Gewicht tragen zu können. Jetzt muss er sich wieder tragen, aber das Gewicht ist jetzt die Schuld. Das zu ertragen und zu bekennen ist nur möglich mit der Maske, die ihn anonymisiert. Aber dadurch raubt sie ihm auch wieder das, was er durch sein Geständnis erreichen will: den Wunsch, er selbst zu sein. Als Mograbi die Szene der Erschießung am Ort des Geschehens nachstellt und der Schweiß die Maske des Soldaten zerstört, sagt dieser: „Mein Körper möchte er selbst sein, er rebelliert gegen den Versuch, mich auszulöschen hinter der Maske.“ Weder im Akt der eigenen Verkennung als Gewalt genießender Gott noch als bekennender Verbrecher ist dieser Mensch bei sich.

Hätte Avi Mograbi nur einen Film gemacht, der es uns ermöglicht, dies alles zu sehen und zu begreifen, wäre es schon genug gewesen. Aber er will mehr, für sich selbst und für uns, die Zuschauer. Auch der Regisseur trägt am Anfang eine Maske, einen Strumpf, den er sich überstülpt, den er dann selbst mit der Schere durchlöchert für Augen, Nase und Mund. Ein ironisch-hintersinniges Spiel, denn er bricht es ab mit dem Satz: „Ich ersticke“. Das genau ist die Situation des Maskensoldaten, der erstickt an seiner Schuld. Seht her, sagt Mograbi, ich führe Euch etwas vor, ich versetze mich in die Situation dessen, den ich Euch zeigen will, es ist nicht nur ein Film über ihn, sondern auch über mich, denn ich decke in meinem Film einen Mörder. Nicht nur er spricht zu Euch, auch ich spreche zu Euch und wenn ich nicht mehr sprechen kann, dann setze ich mich vor die Kamera in meinem eigenen Wohnzimmer und singe. Wir kennen der Satz: Worüber man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen. Aber es gibt auch den anderen: Wenn man nicht mehr sprechen kann, dann soll man singen. Die Musik ist die Kunst, der es am leichtesten fällt, uns die Gefühle zurückzugeben, die die Tötungsmaschinen uns genommen haben. Und Mograbi singt zu einer Tangomelodie: „Wie kann ich mit meinen guten Vorsätzen leben, wenn da kein Tisch ist, auf den ich mit der Faust schlagen kann. Anstatt ihn auszuliefern an jemanden, der ihn einsperrt, singe ich….“ Und für einen Moment glauben wir, dass Macky Messer zum Rhythmus von Kurt Weill um die Ecke tanzt. Die Musik kommt eindeutig aus der Zeit, wo Brecht und Weill das Verführerische des bürgerlichen Verbrechens gezeigt haben. Und wie Brecht das bürgerliche Publikum zum Genuss an den Untaten des Macky Messer animierte, verführt Mograbi uns zum Genuss seiner eigenen Zweifel, seiner ratlosen Trauer und Wut.

Er singt an gegen das Genre des internationalen Kinokriegsmelodrams, zu dem auch deutsche Produktionen gehören, die sich den deutschen Verbrechen widmen und bewusst für einen internationalen Markt gemacht sind. Darin hat sich das Verbrechen gemütlich eingerichtet. Es lebt weiter im Versöhnungskitsch der Liebe zwischen den Tätern und den Opfern und der Komplizenschaft des Publikums mit dem Gewicht des Schicksals. Mograbis Gesang ist eine radikale Absage an jede Kriegsmythologie, von der eine Moral abgeleitet werden könnte. Er zeigt: das Verbrechen hat keinen „Stil“, es ist nie cool, sondern einfach nur ekelhaft, es verwandelt lebendige Menschen zu Jelly und hinterlässt traumatisierte Täter. Er hat einen armen Kriegsfilm gemacht, rauh und privat, ohne die großartige, lustvolle Materialverschwendung, an der wir uns in den großen Kriegsfilmen delektieren können, wenn wir wollen. Und ebenso wenig erschlägt er das, worüber er erzählen will, mit einer Bilderästhetik, die sich als eine zweite Haut über das Unbegreifliche legt und es damit wieder verhüllt.

Mograbi vertritt ein intellektuelles Kino, in dessen Zentrum ein Gefühlsschmerz steht. Bertolt Brecht sieht um die Ecke, Kurt Weill streckt seine Hand aus, Jean-Luc Godard grüsst von fern. Konrad Wolf hat darauf  hingewiesen, dass es keine freie Wahl der Filmsprache gibt, dass diese nicht im Belieben des Filmemachers steht, sondern sich in einem komplexen künstlerischen Prozess als die dem Stoff angemessene Darstellungsweise herausschält. Darin steckt die Erfahrung des Autorenfilmers, dass es keine universelle Filmsprache für alles gibt, sondern eine immer spezifische Ästhetik, die dann auch die der Sache angemessene Ethik ist. Darin steckt aber auch Wolfs persönliche Erfahrung, dass er die Wahrhaftigkeit seines Films, die in seiner Subjektivität lag, verteidigen musste gegen viele Forderungen der DEFA, das Buch um die „objektive historische Wahrheit“ zu ergänzen. Konrad Wolf hat die Wahrheit seines Films gerettet, sonst könnte man ihn heute nicht mehr ansehen oder nur mit dem ästhetischen Kitzel, den uns alte Propaganda bereitet. Aber Wolfs und Mograbis Filme werden nicht einfach dadurch wahr, dass beide sie erlebt haben, sondern dass beide Filmemacher filmische Formen gefunden haben für die Wahrheit, die sie zeigen wollten. Jeder eine andere, weil die Zeiten andere sind. Aber beide bekennen sich zu ihrer Subjektivität.

 

Ist das die Wahrheit unserer Zeit, dass man über den Krieg nur noch singen kann, wenn man ihn nicht einfach im Film fortsetzen will?

Mograbi singt zu einer schmissigen Melodie: „Er hat einen Mann erschossen und er kämpft dagegen an, dass es ihm Spaß gemacht hat. Es gefällt mir, dass er jetzt damit kämpft, dass es ihm  Spaß gemacht hat, es schließt nicht aus, dass ich jetzt darüber singe und dass ich Spaß daran habe. Denn wem macht es letzten Endes Spaß? Die Wahrheit ist, dass es mich zerreißt, dass ich darüber singe, dass er ihn erschossen hat, als sei er ein Schmutzfleck und dass ich ihm dafür vergeben kann.“ Mograbi genießt es zu singen und wir genießen die Musik und seinen Gesang. Wir genießen beides so wie der Mörder seine Gewalt auch genossen hat. Und wir verurteilen  ihn dafür, dass er singt, denn den Mord im Krieg darf man nicht besingen, wie seine Frau sagt. Wir möchten ihr zustimmen, dass er aufhören soll mit dem Bösen zu flirten, dass das keine Dreigroschenoper ist und dass er nur wieder Geld verdienen wird mit einem weiteren wertvollen Film über eine schmutzige Geschichte. Wir als Zuschauer  stimmen all dem zu. Dann lauschen wir weiter seinem Gesang und verurteilen uns dafür, dass wir es genießen. Mograbi singt in seinem Wohnzimmer, in-here, denn auch die Wohnzimmer und alle Privatheit ist kontaminiert von den Dingen, die out-there, jenseits ihrer Wände geschehen. Und plötzlich sind wir auch hier Komplizen, aber keine unschuldigen, denn wir wissen es.

Es gibt in „Ich war 19“ eine berührende Parallele zu Mograbis Gesang. Es ist das lange Zelebrieren eines Kochrituals. Eine reine Männergemeinschaft schneidet, schabt, rollt aus, dreht durch den Fleischwolf, backt Pasteten – und singt dabei gemeinsam ein langes Lied. Hier ist der Kern der sozialistischen Utopie vor ihrer Perversion: der Mensch ist gut, wenn er in Gemeinschaft ist. Diese Überzeugung ist uns heute abhanden gekommen. Mograbi singt allein. Das tun auch Kinder im dunklen Wald, wenn sie sich fürchten.

Der Held aus Konrad Wolfs Film kämpft gegen den Faschismus. 60 Jahre später tut das auch Avi Mograbi, aber auf eine vollkommen andere Weise. Denn Faschismus war nicht nur ein verbrecherisches politisches Regime, sondern auch eine neue Stufe in der Erhitzung der Triebkonstellation von Lust und Gewalt, die inzwischen unsere gesamte westliche Kultur durchzieht. Der militärische Sieg über die faschistischen Regimes hat den Faschismus nicht aus der Welt geschafft, wie Konrad Wolf noch glauben konnte. Faschismus überlebt in unseren postfaschistischen Bildermaschinen, die unser Einverständnis erzwingen mit der melodramatischen  Versöhnung von unschuldigem Täter und schuldigem Opfer, vorzugsweise in der Stunde des Untergangs und der Befreiung. Der singende Mograbi verweigert uns einen solchen Film, er hält aus in der Paradoxie. Der Mensch Mograbi vergibt, sein Film vergibt nicht. Er schickt auch uns, die Zuschauer in unsere eigene Ratlosigkeit und auf die Suche nach einer Wahrheit.

Der Maskensoldat sucht nach Vergebung. Er bedrängt seine Freundin, die für ihn halb Mutter, halb Therapeutin ist: „Erzähl meine Geschichte, als wäre es Deine. Versetz Dich in meine Lage….“ Er will sie in die Identifikation zwingen, mit diesem Wunsch beginnt der Film. Dieses Unternehmen wird immer wieder abgebrochen, weil die Freundin es nicht kann. Sie wehrt sich, ihre Hände, bis dahin ruhig, verknoten fahrig ihren Schal. Es geht ihr schlecht, weil sie mit ihm mitfühlen soll. Sie macht mehrere Anläufe, sich in seine Haut, die Haut eines Mörders zu versetzen und seine Geschichte zu erzählen. Auch sie wird, wie Mograbi, wie wir, die Zuschauer, hereingezogen in das Verbrechen, das einer verübt hat, aber das uns alle betrifft.

Sie weicht aus, wenn er sie fragt: Hältst Du mich für einen Mörder? Bis sie sich schließlich doch dazu durchringt, das zu sagen, was er selbst weiß, aber von ihr hören will: Es war Mord. Zum Schluss als er noch einmal insistiert: Jetzt erzählst Du’s! gibt es eine lange Pause und dann wird die Kamera  ausgeschaltet. Jetzt müssen sie beide allein damit fertig werden.

Bei Staatsbesuchen werden Kränze am Mahnmal des unbekannten Soldaten niedergelegt. Der Maskensoldat ist der unbekannte Soldat des 21. Jahrhunderts. Vielleicht kann man ihm vergeben, Kränze wird ihm niemand flechten.

Autor: Dr. Jutta Brückner

Der Kanonensong aus Die Dreigroschenoper

[media=16]