MELDUNG: Der Herbst 2012 wird blutig – und rätselhaft. Und das liegt nur am neuen Buch des „Rising Stars“ der deutschsprachigen Literaturszene. Guido Rohm spielt kurz vor dem Weltuntergang noch einmal mit Genrekonventionen und (Meta-)Realitäten. In seiner Noirvelle „0“ geht es um Protagonisten und -innen, die sich in Luft auflösen; während „Fleischwölfe“ (übrigens mit einem Vorwort von Georg Seeßlen) von einer Hinterwäldler-Kannibalenfamilie wie aus Texas Chainsaw Massacre handelt … oder dem Film über ihre Schandtaten … oder vielleicht auch nur unserem fragwürdigen Medienkonsum. (EVOLVER BOOKS

 

KEIN VORWORT, NIRGENDS

Von Georg Seeßlen

 

ERSTER VERSUCH

Es war auf einem jener merkwürdigen Formen des Zusammenseins, die Preisverleihungen, Feierstunden oder auch Symposien zu folgen pflegen, und bei denen in aller Regel die Häppchen noch langweiliger sind als die Gespräche. Da fragte mich eine eifrige Dame: „Haben Sie den neuen Roman von Guido Rohm schon gelesen?“. „Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Aber ich habe den Film gesehen.“ „Und, wovon handelt der so“, setzte die Dame nach, für einen Augenblick etwas zerstreut, weil sie gerade meinte, einen sehr bedeutsamen Bekannten in einer Gruppe ausgemacht zu haben. Sein betont gleichgültiger Blick bewegte sie indes, ihre Energien wieder auf ein „eifriges Gespräch“ mit mir, dem Filmkritiker zu lenken, der offensichtlich zu faul ist, die Romane zu lesen, nach denen die von ihm kritisierten Filme entstehen. „Von dem Roman“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Den Sie nicht gelesen haben!“ Die Dame schien sich an eigener Messerschärfe zu ergötzen, was insofern verständlich war, als es hier und jetzt sonst wenig Ergötzliches gab. „Wie soll ich sagen“, versuchte ich zu erklären, „Es handelt sich um die Verfilmung eines Romans, der einen Film zum Inhalt hat, den es nicht gibt“. „Ach, das gibt es doch gar nicht“, sagte die Dame mit einem vagen Lächeln. „Eben“ erwiderte ich, dem Rotwein zusprechend, der noch das Beste an diesem Abend war.

 

ZWISCHENSPIEL EINS

„Was?“ bellte der Verleger. (Verleger sein in dieser Zeit ist ein hartes Geschäft, gefährlich für die körperliche wie für die geistige Gesundheit.) „Das soll ein Vorwort sein?“ Er schnaufte ein Verlegerschnaufen. „Ein ganz ein billiger Witz ist das. Und dann diese Überheblichkeit! Wenn Ihnen der Kulturbetrieb nicht passt, dann missbrauchen Sie gefälligst nicht ein Vorwort dazu! Das soll uns helfen, ein Buch zu verkaufen. Verstehen Sie: Verkaufen! Sie sollen erklären, was das Besondere an dem Buch von Guido Rohm ist“. „Aber“, wagte ich zu protestieren, „es bringt doch die Konstruktion des Werkes auf den Punkt, ohne allzu viel zu verraten…. „Papperlapapp!“ machte der Verleger. „Jetzt gehen Sie und schreiben etwas ordentliches, was dem Leser und der Leserin erklärt, worauf er oder sie sich einlassen sollen“.

 

ZWEITER VERSUCH

Also, es geht um Sprache. Gesprochene Sprache wie: „Ich hab bisher noch nien lebenden Toten sehen. Ich hab nur tote Tote sehen“. Kindersprache, meinetwegen. Körperliche Sprache; man sieht die Sprache. Haben Sie das verstanden: MAN SIEHT DIE SPRACHE! (So wie bei Raymond Queneau das Gesprochene zum Bild wird.)

Aber eigentlich ist „Fleischwölfe“ ja auch eine doppelte Übersetzung. Aus Film und aus Amerikanisch. Also, aus übersetztem Amerikanisch. Weil es nur im Amerikanischen, das heißt im übersetzten Amerikanisch, das Gesprochene so einfach als Literatur gibt. Was glauben Sie, wie schwierig es ist, im Land der Deutschlehrer aus dem, was Deutschlehrer „schlechtes Deutsch“ nennen, Literatur zu machen!

Oder Film.

 

ZWISCHENSPIEL 2

„Ich verstehe kein Wort“. Sagte der Verleger (um dessen geistige und körperliche Gesundheit wir, wie gesagt, stets bangen müssen). „Aber immerhin kommen wir der Sache näher. Was wir brauchen ist ein Text, ein Textle, verstehen Sie, wo zum Beispiel die Rezensenten etwas herausnehmen können. Sich etwas herausnehmen, meine ich“. „Ich kann ja einfach ‚super’, ‚affengeil’, ‚hat mich vollkommen umgehauen’ oder ‚Ich habe einen Blick in die Zukunft des Filmromans getan’ einflechten“, schlug ich vor. „Nicht gleich übertreiben, sagen Sie einfach: ‚Ich war beeindruckt’.“ „Ich war beeindruckt“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Na also“, sagte der Verleger zufrieden. „Geht doch“.

 

DRITTER VERSUCH

Ich war von „Fleischwölfe“ von Anfang an beeindruckt. Nicht nur wegen der literarischen Konstruktion, der kunstvoll-archaischen Sprache, sondern auch vom Mut zur Drastik. Drastik, wie wir wissen, ist der letzte Impuls der Aufklärung. Kettensägen. Lebende Tote. Fleisch! Außerdem: Selbstreferenz. Die Anwesenheit des Autors in seinem Werk. Man muss das können, und Guido Rohm kann es. Wir haben es mit einem Selbstbefreiungsversuch der Literatur in einer Situation der Erstarrung zu tun. Literatur als Selbstermächtigung in einem Betrieb der Wichser. Es handelt sich nicht um bedeutungslose Wichser, sondern um Wichser der Bedeutungslosigkeit. Diese Troglodyten und Feuilletonisten wichsen sich das letzte bisschen Bedeutung aus dem Leib. Längst haben sie keine Ahnung mehr davon, wohin Literatur gehen könnte. Alte Meister. Harry Potter-Regale. Feuchtgebiete. Schreibende Bischöfinnen und Jacobswege. Alles, was irgendein Promi irgendwann mal in eine Fernsehkamera halten durfte. Insofern sind Bücher wie „Fleischwölfe“ vor allem Akte der Rebellion gegen einen blinden und tauben Betrieb. So muss Literatur aussehen, um zu beweisen, dass sie nicht tot ist. Im Sinne von toten Toten. Die würden doch den nächsten Hemingway nicht erkennen, wenn man ihn unter ihre Rotweinnasen hielte!

 

ZWISCHENSPIEL 3

„Hemingway ist gut. Obwohl… Wer liest heute eigentlich noch Hemingway? Da muss ein anderer Name her. Stephen King? Paul Auster? Lassen Sie sich was einfallen. Und das mit der Wichserei, das lassen wir lieber. Das müsste man differenzierter sehen. Stellen Sie sich vor, „Fleischwölfe“ würde von der F.A.Z. rezensiert. Und dann so was im Vorwort. Aber sonst..“ Der Verleger tat zufrieden, was er aber keineswegs war. „Das müssen Sie vielleicht aufgreifen“, fügte er hinzu, und las einen Satz aus dem Manuskript: „’Wir sind doch auch wie diese Filmemacher. Wir schneiden und bearbeiten unsere Erinnerungen. Wir erstellen einen Film. Ein Kunstprodukt’. Das ist doch sehr schön: Das Leben – ein Film. Schnitte durch die Wirklichkeit. Ein Buch wie ein Jump Cut!“ „Ich bin nicht sicher, ob der Autor das so gemeint hat. Ich meine, man muss ja in diese Sprache eintauchen, sich von ihr tragen lassen. Das geht doch nicht mit solchen Schlagworten ab…“ „Papperlapapp! Schlagworte sind genau das, was wir brauchen. Ich finde, man sollte überhaupt das Schlagwort zur neuen Kunst erheben. Worin besteht denn der Unterschied zwischen Werbung und Kunst? Kunst ist Reklame für sich selbst.“ „Nein“, sagte ich. Energisch. Echt jetzt. „Kunst ist die Ausnahme von der Regel!“ „Das ist gut, das nehmen wir.“

 

VIERTER VERSUCH

Dieses Buch, damit ihr’s wisst

Ist kein Scheissdreck und kein Mist

Es ist feurig und brillant

Wird von der Literaturkritik verkannt

Es ist schön und ist gemein

Kann auch mal sehr heftig sein

Wer dieses Buch sich kaufen tut

Kriegt für das Leben neuen Mut.

 

ENDSPIEL

„Sie haben also das Vorwort zu ‚Fleischwölfe’ geschrieben? Also das Buch“, sagte die übliche Dame zwischen Häppchen und Rotwein, „hat mir wirklich sehr gut gefallen. Aber das Vorwort… Ich weiß nicht. Sie albern da herum…“ „Madame“, sagte ich würdevoll, „Herumalbern ist meine sehr persönliche Art, meine Hochachtung und Sympathie für etwas auszudrücken. So bin ich nun mal. Außerdem war ich ohnehin nur Ersatz. Ursprünglich nämlich sollte Marcel Reich-Ranicki das Vorwort zu ‚Fleischwölfe’ schreiben. Aber er war verletzt.“ „Verletzt?“, fragte die Dame. „Sehr verletzt“, entgegnete ich. „Weil er in dem Film nicht mitspielen durfte“. „Welchem Film?“ „Na dem Film, von dem ‚Fleischwölfe’ das Buch zum Film zum Buch ist. Heißt übrigens auch ‚Fleischwölfe’.“ „Von Wim Wenders?“ „Nein, der war auch verletzt. Weil er in dem Buch nicht vorkommt“. „Ach, hören Sie doch auf!“. Und das tat ich denn auch.

 

 

Guido Rohm

Fleischwölfe – 0. [Null] Eine Noirvelle

Evolver 2012. 200 Seiten. 14 €

Bald überall erhältlich, jetzt bereits beim Verlag.

 

 

 

 

 

Rezension von Dieter Paul Rudolph hier