Kwame Anthony Appiah erklärt, warum historischer Fortschritt nicht durch moralische Argumente zu erreichen ist.

„Die Ehre hat man ins Exil auf ein philosophisches St. Helena geschickt, wo sie ihre verblassenden Epauletten betrachtet und erlebt, wie ihr einst glänzendes Schwert in der salzigen Luft rostet.“ Es ist schlecht bestellt um den Ruf der Ehre. Der in Princeton lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah hat sich jedoch vorgenommen, ihre alten Epauletten aufzupolieren und vor allem das Schwert der Ehre zu schärfen, auf dass sie zu einem tragfähigen Begriff der Moralphilosophie werde.

In „Eine Frage der Ehre“ behauptet Appiah lapidar, aber überzeugend, dass moralische Argumente nicht hinreichten, um gesellschaftlichen Fortschritt zu initiieren. Moral, so könnte man seine Auffassung kurz zusammenfassen, brauche immer mehr als Moral, um wirksam werden zu können.

An drei historischen Beispielen, der Abschaffung des Duells, der chinesischen Praxis des Füßebindens und dem Ende der Sklaverei, führt Appiah seine These vor. Er zeigt, dass die Argumente gegen die grausamen gesellschaftlichen  Praxen lange bekannt und akzeptiert waren, bevor es zu ihrer endgültigen Abschaffung kam. Was letztlich zur „moralischen Revolution“ geführt habe, seien jedoch nicht Argumente, sondern immer Motive der Ehre gewesen. Das Duell unter Gentlemen sei erst ausgestorben, als niedere Schichten es nachahmten und der damit verbundene Ehrenkodex lächerlich wurde. Das mit grausamer Verstümmelung erkaufte Schönheitsideal des weiblichen Lotusfußes habe erst verschwinden können, als China international um das Ansehen des Landes fürchtete. Zur endgültigen Ächtung der Sklaverei hätten Proteste der britischen Arbeiter maßgeblich beigetragen, die in der Sklaverei den Wert ihrer eigenen Arbeit entehrt und erniedrigt sahen.

Vor allem die Furcht vor Prestigeverlust und Lächerlichkeit sowie die Sorge um internationales Ansehen führt Appiah als wirksames Movens für Veränderung herrschenden Unrechts an. Das gibt ihm auch Hoffnung für gegenwärtige Politik. Als viertes Beispiel nämlich nennt Appiah in bedrückenden Schilderungen die Ehrenmorde an Frauen in Pakistan. Hier steht eine „moralische Revolution“ definitiv aus, und Appiah ist überzeugt, „dass die Befreiung der pakistanischen Frauen … größere Aussichten auf Erfolg hat, wenn wir uns um eine Veränderung des Ehrbegriffs bemühen, statt nur auf Moral zu setzen. Scham und eine sorgfältig dosierte Lächerlichkeit dürften die Instrumente sein, die wir hier benötigen.“

Dass „Ehre“ ein starkes Movens auch für moralisches Handeln bildet, ist nicht von der Hand zu weisen, und Appiahs Argument ist plausibel, wenn auch vermutlich nicht in der ganzen Bandbreite, die er beansprucht. Appiah weiß, dass er einen problematischen Begriff rehabilitiert. Tatsächlich könnte man ihm vorhalten, er wolle den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, denn schließlich zeigen die genannten Beispiele, dass Ehre und ein Ehrenkodex genauso gut unmoralisches Handeln motivieren können. Es gehört schon eine Portion Chuzpe dazu, ausgerechnet Ehre, also das Mittel sozialer Diskriminierung schlechthin, für Gleichheitsforderungen und moralischen Fortschritt in Dienst nehmen zu wollen. Aber Appiah geht von einer progressiven Entwicklung moralischen Empfindens aus, die nach und nach auch zu einer Demokratisierung und mehr Egalität führe. Es gelte daher, das Konzept der Ehre dem Fortschritt anzugleichen und es gewissermaßen „gereinigt von Kaste und Geschlecht“ zu übernehmen.

So fungiert die „Ehre“ in Appiahs Argumentation einerseits als Fortschrittsmotor für moralische Revolutionen, andererseits als Motivation für das Handeln des Einzelnen, denn auf Anerkennung kann niemand verzichten. Appiah definiert Ehre als „Anspruch auf Respekt“, und er unterscheidet in Anlehnung an Stephen Darwall zwischen „Anerkennungsrespekt“ und „Wertschätzungsrespekt“. Anerkennung komme einer Person aufgrund ihrer Position zu, sie begründe auch Würde und Selbstachtung. Wertschätzung dagegen erhalte jemand wegen seiner Verdienste und Fähigkeiten, weshalb Wertschätzung kompetitiv und auch hierarchisch ausgerichtet sei. Interessant ist, dass Appiah die Ehre als die Gelenkstelle zwischen Privatem und Öffentlichem begreift, und dass er das Prinzip der hierarchisierenden Wertschätzung stark macht. Er setzt auf Personen, die auch in moralischer Hinsicht mehr tun, als die Moral vorschreibt, als ob es immer eines „Überschusses“ bedürfte, um Moral wirklich durchsetzen und zur Verwirklichung bringen zu können.

Leider sind im Buch die Begriffe „Würde“, „Respekt“, „Anerkennung“ und „Wertschätzung“ nicht immer ganz trennscharf verwendet, so dass das Konzept als Ganzes einen etwas schwammigen Eindruck hinterlässt. Eine ähnliche Unschärfe ergibt sich bei den an sich spannenden historischen Beispielen. Appiah hat sie zwar narrativ angelegt, erstickt sie aber bisweilen derart in Namen und Details, dass es schwer ist, in dem sehr gelehrten Zettelkasten die Orientierung zu behalten. Nicht zuletzt bedürfte es auch einer ausführlicheren Erörterung des Problems der Verquickung von Moral und Ehre. Appiahs Konzept steht und fällt mit dem Gedanken, dass sich Ehrenkodizes „reinigen“ und der Moral anpassen lassen. Dabei scheint er davon auszugehen, dass die moralischen Werte gleichsam als gültige Regeln schon feststehen. Aber genau das lässt sich mit Fug und Recht auch bezweifeln. Es ist zu einfach, den Himmel moralischer Ideen und die Erde eigenwilliger Ehrbegriffe so ins Verhältnis zu setzen, dass sich die eine nur am Maßstab des anderen ausrichten müsste.

Insgesamt allerdings besticht das Buch in dem Anliegen, Moralphilosophie über die Psychologie der Anerkennung und der Ehre zu konzipieren. Notwendig wäre es aber, den durch und durch männlichen Begriff der Ehre kritischer auf den Prüfstand zu stellen und ihn stärker in seiner Ambivalenz wahrzunehmen. Ganz zu Unrecht hatte man Napoleon ja nicht nach St. Helena verbannt. Man mag also der Ehre ihr Schwert wiedergeben, die Epauletten aber könnten ihr ruhig abfallen.

Andrea Roedig

Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre.
Wie es zu moralischen Revolutionen kommt.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Beck-Verlag, München 2011, 270 S.

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