Der Tragik des Lebens trotzen, der Brutalität und Banalität keinen Raum lassen, im Kleinen das Große sehen und im scheinbar Hässlichen das Schöne finden – kaum eine Künstlerin hat dies in ihren Werken auf so vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht wie Agnès Varda. Experimentierfreude, Humor, aber auch Ernsthaftigkeit kennzeichnen ihr Schaffen, beeindrucken ebenso wie eine über sechs Jahrzehnte ungebrochene Vitalität. Für Cinephile ist Agnès Varda die „Grand Dame“ des französischen Kinos.

Einige Jahre vor der von Männern dominierten „Nouvelle Vague“ stellte sie in ihrem ersten Film „La Pointe Courte“ (1954) die filmischen Konventionen radikal in Frage. Die 26-jährige Kunsthistorikerin und Theaterfotografin spielte darin gekonnt mit assoziativen Sprüngen und Brüchen. Fiktion und Realität bzw. Fiktives und Dokumentarisches balancierte die Regisseurin auf bis dahin unbekannte Weise aus. Ein traumhafter, träumerischer, experimenteller Stil war gefunden. Unbeirrt experimentierte Agnès Varda mit neuen Formen des filmischen Erzählens. Ebenso konstant war ihr Interesse an gesellschaftspolitischen Fragen. Alles Abseitige, Übersehene, Vergessene und Verworfene wurde von ihr in den Fokus genommen, egal ob es sich dabei um Menschen, Tiere oder Nahrungsmittel handelte. Über 50 Film- und Dokumentarfilme hat die Regisseurin gedreht, viele davon kreisen um weibliche Themen, den weiblichen Körper, die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, darunter „Cléo de 5 à 7“ (1962), „le Bonheur“ (1965) oder „Sans toi ni loi“ (dt. „Vogelfrei“) – der Film, der 1985 den goldenen Löwen in Venedig erhielt und Sandrine Bonnaire international bekannt machte.

Dass Agnès Varda jedoch viel mehr war als „nur“ Filmemacherin, kann derzeit in einer sorgfältig kuratierten Ausstellung erkundet werden. Das Kunstquartier silent green in Berlin, ein ehemaliges Krematorium, stellt über 20 Werkgruppen der Künstlerin unter dem etwas irreführenden Titel „Das dritte Leben der Agnès Varda“ vor. Ein Parcours, für den man sich ausreichend Zeit und Muße nehmen sollte, was angesichts der angenehm kühl-grufttigen Atmosphäre derzeit nicht schwerfallen dürfte. Erstmalig vorgestellt werden zahlreiche Selbstportraits, u. a. ihr Profil vor einem Bellini Gemälde – was ein schelmisches Zitat für ihr Markenzeichen die (zweifarbige) Topffrisur, sein dürfte, – und wunderbare schwarz-weiß Fotoserien. Körper in Bewegung – auch in ihren Filmen immer von zentraler Bedeutung – beim Gehen ist eine davon. Fotografien, die einen Schritt festhalten, einen Schritt von Menschen, die Lasten tragen: Waschschüsseln, Heuballen, Kinder. Eine andere Serie zeigt bisher unveröffentlichte Schnappschüsse von Straßenszenen in einer Kleinstadt (Dinkelsbühl 1960). Arbeiter, Spaziergänger, Passanten – Unspektakuläres, Alltägliches, und doch erzählt jedes Bild bei genauerer Betrachtung eine Geschichte.

Das dritte Leben der Agnès Varda, Patatutopia, Estate of Agnes Varda, © Bernd Brundert silent green


Wie kunstvoll sich der Verfall bzw. Neuaustrieb einer Kartoffel ablichten lässt, zeigt sowohl ein knapp zweiminütiges Video („Filmer les Patates“) ebenso wie die Fotoserie „Herzkartoffeln“. Diese entstanden im Zusammenhang mit dem Dokumentarfilm „Der Sammler und die Sammlerin“. Mit einer einfachen Digitalkamera filmte die Regisseurin 2002 Menschen, die von Abfällen leben, die auf Müllhalden nach den Dingen suchen, die unsere Wegwerfgesellschaft als nutzlos aussortiert. Dabei entdeckte die Künstlerin Kartoffeln. Weil sie zu groß, zu klein oder zu deformiert sind, werden sie als nicht vermarktbar aussortiert. Agnès Varda sammelt sie und macht aus den abgefilmten und abfotografierten Erdknollen eine sinnlich erfahrbare Dokumentation über die Schönheit des vermeintlich Hässlichen. Unter ihrem Blick fangen die Früchte wieder an zu atmen. Das Bescheidenste aller Gemüse kommt auch in den anderen hier vorgestellten Arbeiten zu neuen Ehren. So ist die Werkgruppe „Patatutopia“ nicht nur eine wunderbar humorvolle Lektion in Bezug auf unsere westlich saturierte Lebensform, sondern kritisiert spielerisch unsere normativ ästhetischen Wertungen.

Wahrnehmungskonventionen werden auch in den scheinbar einfach zu „lesenden“ Triptychen hinterfragt, die eine Fotografie in der Mitte mit zwei seitlichen Videosequenzen kombiniert, Stillstand mit Bewegung konfrontiert. Was macht unser Kopfkino aus so einem Arrangement? Welche Bedeutung geben wir dem, was wir sehen? Mit dergleichen grundlegenden Fragen flaniert der Ausstellungsbesucher zu einer Reihe von Minifilmen, die wie eine Tagträumerei funktionieren. Da ist die Ziege, die eine Fotografie frisst – einen Erinnerungsspeicher lustvoll zerkaut – und eine andere Ziege, die tot am Strand liegt. Letztere ist Teil einer fotografischen Inszenierung, welche Agnès Varda 1954 in der Normandie realisiert hat. 28 Jahre später geht sie selbst an Hand dieses Bildes ihren Erinnerungen nach, sucht die zwei auf dem Foto abgebildeten Männer auf und befragt diese wiederum nach ihren Erinnerungen (Videoprojektion „Ulysse“). Dabei kommen erstaunliche neue Geschichten, neue Kombinationen, aber auch Irritationen und Lücken zustande.

Das dritte Leben der Agnès Varda, At Dinkelsbühl, Estate of Agnes Varda, © Bernd Brundert silent green


Die dritte Schaffensperiode, sofern man geneigt ist, dieser von den Kuratorinnen vorgeschlagenen Chronologie zu folgen, begann für Agnès Varda mit der Einladung zur Venedig Biennale 2003. Installative Arbeiten entstanden seitdem, die ihre Experimentierfreude zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem noch einmal neu in Szene setzen. Das Polyptichon „Die Witwen von Noirmoutier“ (2005) ist die größte der in der Ausstellung vorgestellten Arbeiten zu dieser Schaffensperiode. Inspiriert von Tafelgemälden der Renaissance hat die Künstlerin um eine zentrale Digitalprojektion herum, die schwarz-gekleidete Frauen am Strand zeigt, 14 Bildschirme gruppiert. Diese sind jeweils mit einem Stuhl und einem Kopfhörer verkoppelt, sodass man ungestört den 14 Lebensgeschichten zuhören kann. Geschichten von Frauen, die als Witwen auf der Atlantikinsel Noirmoutier leben. Ein sehr unterschiedlicher Umgang mit den Themen Trauer, Einsamkeit und Verlust wird erfahrbar. Den Lebens- und Liebesgeschichten dieser Frauen zu folgen, ist zweifelsohne einer der Höhepunkte der Ausstellung. Gekonnt in Szene gesetzt ist zum Abschluss des Rundgangs die aus elf Bildern kombinierte Arbeit „Angehaltene Momente“ (2012-2016). Einzelbilder aus „Vogelfrei“, die die einzige Gewaltszene zeigen, die Agnès Varda je gedreht hat. Im Film dauert diese brutale Szene, die der Landstreicherin die letzte Kraft kostet, keine Minute. Auf den Fotografien ist kaum erkennbar, um was es sich handelt, und doch wirkt das Gewirr von Gesten und Farben erschreckend. Diese Bilder haben nichts mehr mit Film oder Fotografie zu tun. Hätte Agnès Varda noch weitere Jahrzehnte gelebt, wer weiß, vielleicht hätte sie nochmals das Medium gewechselt und wäre zur Malerei übergegangen oder zur Poesie oder zum Tanz…

Wenn man dann nach den Stunden in der Dunkelheit „dieser angenehmen Höhle“ wieder ans Tageslicht tritt und sich vielleicht im Garten des silent green in das dort aus Zelluloidstreifen gebaute Zelt verkriecht wie an Kindertagen, fühlt man sich auf jeden Fall leicht und reichlich beschenkt. Mit dem Blick von Agnès Varda noch eine Weile durchs Leben zu gehen, ist jedenfalls eine dringende Empfehlung.

 

Daniela Kloock

Agnès Varda by Julia Fabry, © Cine Tamaris

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AUSSTELLUNG

bis 20. Juli 2022

silent green Kulturproduktionen GmbH & Co. KG
Gerichtstraße 35
13347 Berlin
www.silent-green.net

Mo – Fr:  14 bis 20 Uhr
Sa / So: 12 bis 20 Uhr

Bis zum 17. Juli 2022 zeigt das Berliner Kino „Arsenal“ Filme, die Motive der Ausstellung aufnehmen.

Unter MUBI.com sind derzeit mehr als 40 Filme der Regisseurin abrufbar.