Der Film ist ein Meisterwerk. Ein Film für die große Leinwand, Bilder voller kompositorischer Schönheit – mit Tiefe, mit Stimmung – eine kunstvolle Choreographie, beeindruckende Plansequenzen und ein toller Erzählrhythmus.

Die Staats-Affäre um den jüdischen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus steht bis heute als Chiffre innerhalb des Wendepunktes der zionistischen Idee, steht für Antisemitismus, aber auch für die Frage nach Recht und Moral. Und sie steht dafür, wie (Vor)Verurteilungen in Macht- und Öffentlichkeitssystemen ge- und mißbraucht werden. Denn die Dreyfus-Affäre war ein riesiger Justizskandal, der Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts politisch und moralisch in eine tiefe Krise stürzte, die fast in einen Bürgerkrieg mündete.

Alfred Dreyfus war 1894 beschuldigt worden, Militärgeheimnisse an die Deutschen weitergeleitet zu haben. Der vorherrschende Antisemitismus militärischer Kreise forcierte falsche Gutachten handschriftlicher Unterlagen, um den Beschuldigten zu überführen. Dreyfus wurde des Hochverrats angeklagt, degradiert und zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel Französisch-Guayana verurteilt. Die Wiederaufnahme seines Verfahrens war ein langer Kampf, in dem sich politische Lager unversöhnlich gegenüber standen. Zwölf Jahre sollte es dauern bis Dreyfus freigesprochen, rehabilitiert und wieder in die französische Armee aufgenommen wurde.

Roman Polanski wählt für seine Stoffbearbeitung einen überraschenden Zugang. Weder ist Dreyfus (Louis Garrel) das Opfer und die Hauptfigur, noch spielt für ihn Emile Zola eine größere Rolle. Hatte dieser doch mit seinem Zeitungsartikel „J´accuse..!“ entscheidend zur Rehabilitierung bzw. zur Wiederaufnahme des Verfahrens beigetragen. Polanski erzählt vielmehr – und darin folgt er dem Tatsachenroman von Robert Harris, mit dem er auch das Drehbuch verfasste – aus der Perspektive des Lieutenant-Colonels Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin). Picquart, der seinerseits kein Judenfreund ist, wie bereits die Eingangsszene verdeutlicht, wird zum Geheimdienst-Chef befördert. Er bezieht sein Büro in einem dunklen und muffigen Gebäude, in dem sich ausgesprochen skurille Figuren gemütlich eingerichtet haben. Hier trifft Picquart auch auf seinen ersten Gegenspieler Colonel Henry (Grégory Gadebois), der ihn in die gängigen Untersuchungsmethoden der Spionageabwehr einführt. Man lernt, nicht erst bei der Stasi wurden Briefe bedampft, um sie unbemerkt zu öffnen. Immer wieder wird auf Papier Verschriftlichtes an geheimen Orten überbracht und versteckt, wird geschrieben und gelesen, werden Schlüssel und Schlösser, Schränke, Schubladen, Dossiers und Kladden gezeigt. Die Objekte werden fast zu Mitspielern, sind dramaturgische Hindernisse und Gleitmittel. Herrlich in Szene gesetzt wird diese lang verloren gegangene Materialität der Datenträger. Überhaupt zeigt der Film viel Stofflichkeit, viel Sorgfalt für jedes Detail. Kostüme, Uniformen, Innenräume, alles ist perfekt ausgeleuchtet und kunstvoll, atmosphärisch dicht, fotografiert (Kamera: Pawel Edelman). Wie beispielsweise gleich anfangs eine Picknickszene, in der Picquart sich mit seiner heimlichen (weil verheirateten) Geliebten (Emmanuelle Seigner) trifft. Wie die Schauspieler hier unter und auf üppigem Grün drapiert werden erinnert von der Komposition und vom Licht her (und diesen Spaß erlaubt sich Polanski) an das Gemälde „Frühstück im Grünen“ von Édouard Manet, ein Bild, welches 1863 für einen Skandal in der Kunstwelt sorgte.

Doch zurück zur Filmhandlung. Colonel Henry beobachtet jeden Schritt seines neuen Chefs und leitet alles was dieser tut weiter. Zunächst geht es nur um die Beobachtung eines gewissen F.W. Esterhazy (Laurent Natrella), einen Offizier, der verdächtigt wird militärische Informationen an seinen italienischen Liebhaber weiterzugeben. Das erste Drittel des Films ist bereits vorbei als Picquart durch puren Zufall entdeckt, dass dieser Esterhazy dieselbe Handschrift hat wie die, die Dreyfus zugeordnet wurde. Ab da dreht sich der Film. Aus dem pflichtbewusst arbeitenden Picquart, der wie ein Detektiv beobachtet und Spuren und Indizien sammelt, wird der durch nichts zu beirrende Wahrheitssucher. Gegen alle Widerstände und letztendlich unter Einsatz seines Lebens folgt er einzig seinem Gewissen. Denn für die militärische Spitze ist die Sache längst erledigt, einen Ermittlungsfehler zuzugeben, noch dazu gegenüber einem Juden, kommt nicht in Frage. Zu groß wäre der politische Skandal. Bevor Picquart jedoch selbst degradiert wird und im Gefängnis landet, sucht er Emile Zola auf. Der Schriftsteller erhält so die nötigen Informationen, um in einem offenen Brief an die Regierung die in die Affäre verwickelten Offiziere und Staatsbeamten anzuklagen. „J´accuse …!“ : „Ich klage an …!“, so ist der weltberühmte Artikel überschrieben.

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Allein wie Polanski diesen Teil seines Films inszeniert ist schon ein Kunststück für sich. Der Text von Zola ist aus dem off zu hören, während man sieht, wie die Beschuldigten die Zeitung an den unterschiedlichsten Orten aufschlagen. Am Kiosk, am Frühstücks-, am Büro- und Labortisch.

Nicht zuletzt war es der Graphologe (Mathieu Amalric), der mit seinen falschen Analysen zum Gerichtsurteil beitrug. Miniaturen von Milieu- und Charakterstudien sind das, schnell hintereinander montiert. Besonders pikant wird einer der Hauptdrahtzieher in Szene gesetzt. Der General Jean-Babtiste Billot (Vincent Grass) liest den Zeitungsartikel in der Badewanne. Sehr wahrscheinlich, dass Polanski hier an das berühmte Bild „Der Tod des Marat“ von J. L. David dachte. Wieder ein kleiner Seitenhieb, wieder ein Grund zum Nachdenken. Jean Paul Marat war nicht (nur) ein Märtyrer der Revolution, sondern vor allem ein gefährlicher Demagoge. Seine Schriften sollten das Volk aufwiegeln.

Wie Meinungen medial erzeugt werden, wie falsche Rückschlüsse zu Vorverurteilungen und moralischen und juristischen Verfolgungen führen, dieses Thema treibt Polanski schon über ein halbes Jahrhundert um. Und sein Film „J´accuse“ zeigt, dass „Fake News“, Manipulation von Informationen, gezielte Stimmungsmache und fehlende Gegenstimmen keine Phänomene jüngster Zeit sind. Jedoch ist sein Film alles andere als eine pädagogische Lektion, wo gut und böse klar verteilt sind. Polanski liebt Mehrdeutigkeiten und einmal mehr gelingt es ihm Komplexitäts- und Spannungsbögen zu halten. Nicht zuletzt dank exzellenter Schauspieler. Allen voran Jean Dujardin (bekannt u.a. aus „The Artist“). Aber auch der ganze militärische Komplex ist bis in die letzte Nebenrolle hervorragend besetzt. Einzige Frau in dem männlichen Reigen ist die Geliebte Picquarts, Pauline Monnier, die die ganze Zeit über zu ihm hält. Am Ende des Films, ihr Gatte hat die Scheidung eingereicht und Picquart ist Kriegsminister geworden, lehnt sie jedoch – herrlich unhollywoodesk – seinen Heiratsantrag charmant lächelnd ab. Kein Kuss, keine Abblende, kein Kitsch. Auch die letzte Begegnung zwischen Dreyfus und Picquart wird nicht romantisch, versöhnlich ausgespielt. Ein vollkommen nüchterner, fast kalter Dialog zwischen den beiden. Eine Tür fällt zu, Schnitt, Ende. Das historische Kapitel ist erzählt, aber die Geschichten um Rassismus, um Machtmissbrauch, um gefährliche Meinungsäußerungen gegen den Mainstream, all das geht weiter. Diese Themen bleiben, sind aktuell und werden uns weiter verfolgen.

In Venedig wurde „J´accuse“ mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet,. Aktuell ist der Film für zwölf Césars (der französischen Entsprechung des amerikanischen Oscars) nominiert. Die Franzosen feiern den Film. Er ist ein Kassenrekord. Zweifelsohne das große filmische Vermächtnis des nunmehr 86-jährigen Regisseurs.

Daniela Kloock

Bild oben: Weltkino Filmverleih