… dann lebten sie noch heute

Zuerst kommt einem die Geschichte ja ziemlich bekannt vor: Geschwisterpaar in einsamem Gehöft, ohne Eltern aufeinander angewiesen, erweisen sich in ihrer brisanten Mischung von Phantasie und Zurückgebliebenheit als Gefahr für die Umwelt und für einander. Dazu fallen einem schnell zwei, drei amerikanische B-Horrorfilme und mindestens ein halbes Dutzend mehr oder weniger komisch finsterer Kurzgeschichten ein. Aber alles, was man bei einem solchen Thema falsch machen kann, zuviel Psychologie, zuviel Soziologie, zuviel Geschmack, zuviel Melodrama undsoweiter – hier ist es glücklich vermieden. »Holgi« ist ein Meisterwerk cineastischer Selbstgenügsamkeit, auch stilistisch so reines Kino, dass es schon wieder eine Provokation für den Mainstream sein kann. Nix wie purer cineastischer Spaß.

Nur ein paar Bilder lang hat man Angst, es könne so kommen, wie man befürchtet, wenn man nur die Inhaltsangabe kennt. Im Stile eines Kinos, das entweder vor lauter Fürsorge für sich, seine Figuren und sein Publikum nicht in die Gänge kommt, oder im Stile eines Kinos, das mehr oder weniger hilflos handwerklich amerikanische Genres imitiert. Aber man kommt bald darauf, daß »Holgi« weder ein klassisches Slasher Movie noch ein Psychodrama ist, sondern ein schwarzes Filmmärchen, in einer Linie von Charles Laughtons »Die Nacht des Jägers« über Curtis Harringtons »Wer hat Tante Ruth angezündet?«, angereichert mit einem Schuß von Peter Jacksonschem bad taste, aber auch mit einer Ahnung von seiner Bildpoesie aus »Heavenly Creatures«. Und findet dabei doch zu einer ganz eigenen Art. Die Bilder scheinen von innen heraus zu leuchten und geben dem ganzen eine artifizielle Dreidimensionalität wie in manchen Comics etwa von Richard Corben. Die Musik, sparsam und genau eingesetzt, marschiert wie ein kleiner Gruß an Bernhard Herrmann und den Hitchcock von »The Trouble With Harry« durch das Geschehen. Die Farben sind heftig oder schönschäbigschmutzig, die Schauspieler übertreiben um den genau angemessenen Tick, die Kamera kann sich das Komponieren erlauben, weil es ja nun wirklich ums »Authentische« am allerwenigsten geht, die Dialoge sind zweckdienlich, manchmal schräg aus den Klischees geschnitten und bekommen, wie die Bilder, immer mal wieder eine surrealistische Poesie, die einem das medial verdorbene Herz erwärmt. Daß er Gott, wenn es ihn denn geben sollte, nicht mag, meint Holgi. Warum, fragt sein Bruder zurück: Du kennst ihn doch gar nicht. Eben! Holgi mag niemanden, den er nicht kennt.

Eigentlich mag er ja überhaupt niemandem außer seinem Bruder. Vielleicht noch das kleine blonde Mädchen aus der Nachbarschaft. Das ist noch nicht sicher. Und wenn jemand, den Holgi nicht kennt und nicht mag, sich zwischen ihn und seinen Bruder drängen will, greift er zu drastischen Maßnahmen. Auch die Mutter, so heißt es, sei vor einiger Zeit davongelaufen, sie hatte so ihre Schwierigkeiten mit Holgi. Vielleicht macht sie ja auch nur mal Ferien. Während Max ziemlich mühsam ein bisschen Geld als Bettgenosse älterer Damen verdient, sorgt Holgi für den Zusammenhalt der beiden und denkt für den großen Bruder. Zum Beispiel daran, den Hof zu verkaufen und nach Neuseeland auszuwandern. Aber daraus wird nichts, denn Max verliebt sich in die schöne Rosa, die aus der Stadt gekommen ist, weil auf dem Land irgendwie alles authentischer ist. Sie will den Hof wieder in Schuss bringen, und Max muß arbeiten. Eigentlich ist das ja nichts für ihn. Vergeblich versucht Holgi, das fremde Wesen loszuwerden, das über zwei entscheidende Waffen verfügt: Sie hat einen vergrabenen Menschenschädel gefunden, und sie bekommt ein Kind. Irgendwann reicht es Max aber trotzdem mit der endlosen Plackerei, und Holgi versteht das dahingehend, daß das Problem nun endgültig gelöst werden muss. Sein Mordanschlag aber geht sehr gründlich schief, und von jetzt an gibt es einen Kampf auf Leben und Tod auf dem Hof, von dem mehr zu verraten nicht anständig wäre. Jedenfalls hat die Abfolge der Akte, mit denen man sich gegenseitig ans Leder will, etwas von der Sam Raimischen Hektik, in der man gar nicht mehr unterscheiden kann zwischen Slapstick und Grauen. Und daß das ganze dann auch noch immer mit besonders schönen Bildern und zwischen durchaus anrührend intimen Szenen abläuft, macht die genussvolle Bosheit nicht bloß des Erzählten, sondern auch der Erzählweise komplett.

Da hat einer, nein, da haben mehrere offensichtlich Spaß daran gehabt, eine Geschichte zu erzählen, die komisch und grausam ist, die funktioniert, obwohl sie zugleich aus einer kindlichen und einer erwachsenen Perspektive (nebst Parodie einer off-narration) erzählt wird. Und sie haben dafür eine ebenso einfache wie konsequente Bildsprache gefunden, in der die schrägen Perspektiven und Untersicht-Aufnahmen in denkwürdigem Kontrast zur Wärme der Ausleuchtung steht, zum Beispiel. Diese Geschichte stimmt in sich so perfekt, dass man vor all den kleinen Momenten Angst bekommt, in denen sie in Gefahr steht, irgend eine Beziehung zu irgend einer Wirklichkeit außerhalb von sich selbst zu haben. Sie nimmt einen in ihrer ungeheuren Unverschämtheit gefangen, weil sie sich mit ihrer eigenen Logik fortentwickelt, bis sie sich selbst davongeschwurbelt hat.

Natürlich kann man »Holgi« auch interpretieren. Zum Beispiel als sarkastische Absage an den neuen deutschen Heimatkitsch. Oder als eine Art von Film, die versucht, der ganzen angestrengten BRD-Filmgeschichte eine lange Nase zu drehen. Und als Parabel vom ewigen Kreisen von Behaustheit und Unbehaustheit, von Familie und Destruktion, läßt sich das ganze auch noch sehen. Wenn man nicht das benötigte Maß und die benötigte Art von Liebe bekommt, wird man gefährlich. In jeder Familie steckt ein Mörder, und jeder Mörder will eine Familie. Und so weiter. Doch doch, man kann in »Holgi« schon noch mehr sehen als ein höchst anregendes, schamloses Stück puren Kinos, wenn man mag. Ich mag aber nicht.

Autor: Georg Seeßlen