Die anarchistischen Filmaktionen des Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief, das sagt man so, ist das verschüttet wird. Für die einen ist es Kunst-Trash, für die anderen Trash-Kunst; es kommt ganz auf die Perspektive an. Da ist einer, der auf Bühnen, in Filmen und sogar auf öffentlichen Plätzen ein Chaos anzurichten versteht, bei dem man Kunst und Politik, Dilletantismus und Raffinesse, Ironie und blutigen Ernst einfach nicht mehr auseinanderhalten kann. Entweder man ist von der an„enfant terrible“ der deutschen Theater- und Medienszene. Ein Kerl, der am liebsten Lawinen lostritt, die niemand mehr kontrollieren kann und unter denen manchmal der gute Geschmack, manchmal aber auch ein schönes Stück allgemeiner Kulturpolitik archischen Energie begeistert, die da freigesetzt wird, oder man wendet sich mit Grausen. Etwas dazwischen gibt es eher nicht.
Dabei ist Schlingensief auch als Theatermacher, Talk-Show-Provokateur und Erreger (heilsamen) öffentlichen Ärgernisses immer ein Filmemacher geblieben. Kein „Regisseur“, kein „Autor“, sondern einer, der Filmemachen als kollektive Kunsterfahrung auffasst. Und als Filmemacher einer, der noch unter den Außenseitern Außenseiter ist. In seinen Filmen wird geschrien und gekotzt, geschlachtet und gefickt. Alte Fassbinder-Stars wie Irm Herrmann deklamieren Parolen, die wahlweise sinnlos oder tiefsinnig sind, die Russ Meyer-Ikone Kitten Natividad ist mal zu sehen, natürlich so, wie wir sie lieben, ein andermal begegnen wir einem Hitler im Bunker, der garantiert keine Ähnlichkeit mit Bruno Ganz hat, absurde Umzüge in unterirdischen Labyrinthen und waghalsige Kunstaktionen wechseln einander ab, und die Wiedervereinigung findet bei Schlingensief in der Form eines „deutschen Kettensägenmassakers“ statt: Der Osten wird verwurstet. Er lässt einen falschen Heiner Müller und einen ebenso falschen Fassbinder durchs Geschehen laufen, und wenn gar nichts mehr hilft, dann wird auch mit dem Beil auf das Filmmaterial losgegangen. Zu seinen Mitstreitern gehören Helge Schneider, der auch die Musik etwa zu „Menu Total“ schrieb, der legendäre, leider viel zu früh verstorbene Schauspieler Alfred Edel, Oskar Roehler als Co-Autor, Elfi Mikesch hinter der Kamera oder Udo Kier vor ihr. Nicht alles, aber ziemlich viel von dem, was in der deutschen Filmkultur unberechenbar und frech geblieben ist. Andere Leute können es auch, na schön, wenn’s ihnen dann besser geht, „pubertär“ nennen.
Bei näherem Hinsehen kann man freilich bemerken, dass Schlingensief mehr zu bieten hat als gezielte Geschmacklosigkeit, eine Art aus dem Müll gezogenes Film-Kabarett oder Provokationen, die die „Linken“ wie die „Rechten“ treffen. Da ist ein Gefühl für Timing und Farbkomposition, eine Dramaturgie, die einen immer wieder staunen lässt: Mitten im Chaos Momente der Ruhe, mitten im Blödsinn überraschende Klugheit, mitten im Hässlichen fast zärtliche Schönheit. Und ganz abgesehen davon sind Schlingensiefs Bilder meistens dem Zustand der Republik vollkommen angemessen. Da wehrt sich einer mit wahnsinnigen Bildern gegen den Wahnsinn, an den wir uns gewöhnen sollen.
Schlingensief liebt es, seine eigene Biografie anstatt einer Erklärung für seine schräge Kunst zu benutzen: Der Apothekersohn aus Oberhausen, der eine ebenso glückliche wie kleinbürgerlich begrenzte Jugendzeit verlebte, für die (innig gehassliebten) 1968er zu spät dran war, für die neue Coolness aber zu früh, und dem an nichts so gelegen ist wie daran, dass man seine Form der authentischen Kunst ernst nimmt. Autobiografisches steckt fast immer darin, und fast immer liegt es an der Grenze zum Schmerzhaften (ich vermute: auch für den Filmemacher selbst). Schlingensief erfüllt sich in seinen Filmen seine Wünsche, und noch mehr erfüllt er seine Alpträume. Schon früh begann er mit einfachen Mitteln Filmexperimente durchzuführen und im Wesentlichen hat er diese Geste eines neugierigen, spielenden Kindes nie aufgegeben, das der heuchlerischen Erwachsenenwelt so lange auf die Nerven geht, bis man dort die eine oder andere Maske fallen lässt. Wahrscheinlich gibt es keinen Filmemacher in Deutschland, der so oft beschimpft, ausgepfiffen oder verboten wurde. Wenn jemand seinen Filmen Titel gibt wie „Schlacht der Idioten“ (1986), „United Trash“ (1996) oder „Die hundertzwanzig Tage von Bottrop“ (1998) wird man keine feinsinnigen Melodramen oder gepflegte Literaturverfilmungen erwarten.
Auf die Frage danach, warum er immer wieder alle Grenzen von Geschmack und Form über den Haufen werfen muss, hat Christoph Schlingensief eine erstaunlich einfache Antwort parat: „Weil sich die Kunst immer wieder in das Leben einmischen soll“. Wer so etwas nicht vertragen kann, der sei hiermit eindringlich vor dem Genuss der Schlingensief-Filme gewarnt, die, komplett mit interaktiven Bonus-Tracks, Interviews und Presseschauen nun bei „Filmgalerie 451“ erschienen sind. Alle anderen werden ihr grimmiges Vergnügen damit haben.

Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht  in Filmspiegel 03/ 2006