Der Clou am Schuh des Manitu

Warum sind Amelie und Der Schuh des Manitu so große Erfolge?

Na sicher: Hollywood macht uns kaputt. Das Fernsehen macht uns kaputt. Und wenn das nicht reicht, machen wir uns selbst kaputt. Daher sind überraschende Publikumserfolge einheimischer Filme in Europa in der Regel nur als die Ausnahme akzeptiert, die die Regeln bestätigt. Zwei dieser Ausnahmen laufen und laufen und laufen derzeit in den Kinos von Frankreich und Deutschland. Die fabelhafte Welt der Amélie hat in Frankreich mehr als sieben Millionen Eintrittskarten verkauft, und in Deutschland macht Der Schuh des Manitu auch jenseits von sieben Millionen Zuschauern immer noch Kasse. In der Regel ist die Kritik, was solche Überraschungserfolge anbelangt, eher zwiespältig. Einerseits freut man sich, warum auch immer, über einen Erfolg aus der einheimischen Produktion. Meistens muss man sich aber auch gleich darauf wieder ein bisschen schämen. Hollywood ausgestochen? Ja, aber mit was für Stoffen, mit welchen Mitteln! Der „Überraschungserfolg“ erweist sich aber in der Regel auch für die einheimische Produktion insgesamt als problematisch. Nur selten erhöht er, wie die Statistiken der letzten Jahre zeigen, den Gesamtanteil einheimischer Produktionen auf dem Kino-Markt. Der Überraschungserfolg schadet also häufig vor allem der ambitionierteren Produktion und nicht so sehr der übermächtigen Konkurrenz.

Aber diesmal scheint es sich doch ein bisschen anders zu verhalten. Jeunets Amélie kann man so oder so kritisieren, aber niemand muss sich für diesen Film schämen, so wie das ein bisschen vielleicht beim letzten französischen Überraschungserfolg der Fall gewesen ist, der Zeitritter-Klamotte mit ihrer Vorliebe für, sagen wir mal, eher derbe Scherze. Und Der Schuh des Manitu spielt vielleicht ästhetisch und intellektuell in einer anderen Liga, aber wenn sogar die „Titanic“ dem Film ein Gelingen in seinem bescheidenen Rahmen attestiert, wollen wir auch nicht meckern: Das ist zuerst einmal eine leidlich gag-dichte und funktionierende Genre-Parodie mit einer Art von schlechtem Geschmack, der ziemlich genau die Grenzen kennt, die man nicht ungestraft unterschreitet. Die cineastische Einmann-Schau des TV-Comedy-Machers Michael „Bully“ Herbig (Produktion, Regie, Drehbuch und doppelter Hauptdarsteller) kündet überdies von einer Liebe zur Sache, die selten ist in der Geschichte der deutschen Kino-Komödie. Nicht einmal die besseren Beispiele des Genres haben so eine unangestrengte und offene Art, von den Gottschalk- und Otto-Linien ganz zu schweigen, bei denen es einen schmerzt, wie anstrengend es sein kann, etwas Komisches zu erzeugen. Insofern hat Der Schuh des Manitu vielleicht nicht nur etwas mit einem Generationenwechsel in der mehr oder weniger nationalen Komik-Szene zu tun, sondern auch mit einem erfreulichen Einstellungswechsel. Den überwältigenden Erfolg erklärt das noch nicht.

Auf den ersten Blick könnte man vielleicht sagen: Jede Kinematografie bekommt die Überraschungserfolge, die sie verdient. Jeunets forcierte, urbane Film-Poeterei mit einem gehörigen „Hab mich lieb“-Faktor, Herbigs provinzielle, begeistert kindische Alberei mit ihrem bajuwarischen „Du mich auch“-Touch. Aber auf den zweiten Blick haben diese beiden so unterschiedlichen Filme auch einiges gemein. Sie sprechen beide von einer verborgenen Sehnsucht nach einer höchst eigenen Phantasiewelt, ihre Dekonstruktionen filmischer Erzählweisen täuschen nicht darüber hinweg, dass sie im Kern schlicht nostalgisch sind. Sie träumen sich in einen Zustand der Unschuld zurück, in eine vergangene Welt, in der Bilder noch unschuldig waren. Jeunet errichtet ein Paris, das es nie irgendwo anders als im Kino gab, im poetischen Realismus und in den sanftesten Nachklängen des Surrealismus. Und Manitu erzählt von einem Wilden Westen, der einerseits aussieht wie der der Karl-May-Filme von Reinl & Co, dem er zu Leibe rückt wie die Nackte Kanone-Filme ihrem Genre. Zum anderen aber ist das auch ein Westen, wie ihn sich vielleicht der Charlie aus den „Münchner Geschichten“ geträumt hätte, ein Witz einerseits, aber auch eine Heimat für „ewige Stenzen“. Hier ist man nicht trotzig kindisch, behauptet kein ideologisches Recht auf die Regression, das Kindisch-Sein und Kindisch-Bleiben wird stattdessen mit einer gewissen melancholischen Zärtlichkeit angeschaut. Was Amélie oder Manitu ihren Zuschauern bieten, ist eine Art von wohliger Wärme, von Traulichkeit, ein Lebenskonzept für konsequente Träumer.

Zunächst scheint auch Der Schuh des Manitu alle Vorurteile über deutsche Filmkomödien zu bestätigen: Figur oder Star muss aus dem Fernsehen stammen, es müssen Schwulenwitze und irgendwelche Unappetitlichkeiten vorkommen, eine Pointe muss mit einem leicht schleppenden Tempo vorbereitet werden und das Ausrufezeichen zum Kapieren muss mitinszeniert sein, das Politische wird ganz herausgelassen usw. Aber hier fehlt doch der Zynismus, die geplante Debilität, das Missverständnis, man müsste das Komische aus einer Figur oder einer Situation nur kräftig herausprügeln. In Manitu sieht man Leuten zu, die mögen, was sie tun, und die es ernst nehmen. Hier können die Zuschauer auf dieses verzweifelt aggressive Warten auf den nächsten Gag verzichten, das die Stimmung in deutschen Kinosälen manchmal so unerträglich macht. Es gibt auch etwas zu sehen, es ist auch Beiläufiges zu entdecken.

Filme wie diese, die „einen Nerv treffen“, sprechen also auch von dem, was andernorts fehlt, nämlich im Hollywood-Film auf der einen und im Fernsehen auf der anderen Seite. Unter der Oberfläche verbirgt sich in beiden Filmen genau das, was ihre Ironie eigentlich zu brechen scheint, das paradoxe Projekt einer Versöhnung in der Erzählmaschine der populären Kultur auch zwischen den Generationen. In den Nachmittagsvorstellungen von Manitu sieht man erstaunlich viele Familien, die sich mit Ironie über einen Code der Pop-Vergangenheit verständigen. Hier wird keine Differenz konstruiert, man vergibt sich gegenseitig, wenn die einen über das Ritornell eines Furz-Gags, die anderen über eine Wiedererkennung und die dritten über eine sexuelle Anzüglichkeit lachen. Alles zusammen ergibt: Wir sind in unserer Pop-Geschichte daheim. Und unsere Pop-Geschichte hat ein Gedächtnis.

So konstruiert Der Schuh des Manitu, ob das nun intendiert ist oder nicht, so sehr eine „Deutschheit“, wie Amélie eine „Französischkeit“ konstruiert. Statt sich, wie in der traditionellen „nationalen Komödie“ einerseits über „Nationaleigenschaften“ lustig zu machen und andererseits nationale Wunschstereotypen (nicht selten: inklusive Feindbilder) zu bedienen, nehmen diese Filme den Umweg über vorgeprägte Traumwelten und konstruieren sich dabei selbst als Gegenbild zu den unbewohnbar gewordenen Traumwelten Hollywood und Fernsehprogramm. Sie akzeptieren, anders als der traditionelle „Heimatfilm“, dass es Deutschland oder Frankreich nicht mehr gibt, aber deutsche oder französische Träume. Insofern ist das Leichtbayerische in Manitu auch kein Mittel der Verfremdung, sondern im Gegenteil eines der Intimisierung. Der nationale „Überraschungserfolg“ im Kino unserer Tage ist ein generationenübergreifendes Sampling synthetischer Bilder des komisch zerfallenden und beständig rekonstruierten Glücks. Warum nicht, wenn’s uns dann besser geht?

Georg Seeßlen