Ein Unfilm als Symptom

Costa-Gavras versucht sich an einer Verfilmung von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“

Auch fast 40 Jahre nach der Uraufführung erregt Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ über das Schweigen des Papstes angesichts des Holocaust noch immer die Gemüter, zumal dann, wenn es durch eine Verfilmung neue Aktualität gewinnt. Beim Film von Costa-Gavras, Originaltitel Amen, hat in Frankreich aber mehr das Plakat, das Kreuz und Hakenkreuz ineinander verschränkte, Skandal gemacht als der Film selbst. Im Mittelpunkt von Amen. steht die Geschichte von Kurt Gerstein, der als Offizier der Waffen-SS an der Organisation des Holocaust teilnimmt, aber als evangelischer Christ den Papst und die deutschen Kirchen auf die Verbrechen der Nazis aufmerksam macht. Bei der Berlinale kontrovers aufgenommen, läuft Der Stellvertreter nun am 30. Mai in den deutschen Kinos an.

Ein Film wie dieser eröffnet, jenseits seiner filmischen Qualität oder Nicht-Qualität, eine Reihe von Diskursen, mehr jedenfalls, als man sie wohl in einer herkömmlichen Rezension behandeln kann. Vielleicht ist es deshalb schon ein Gewinn, wenn man die Diskurse nicht bewusstlos miteinander vermischt, auch wenn es gerade der Film selbst ist, der einen dazu verleiten möchte. Möglicherweise ist es ja auch kein Zufall, dass der Stoff, lange schon angekauft, bis jetzt in den Verliesen der italienischen Produktionsfirma blieb. Costa-Gavras‘ nun recht eng an der äußeren Form der Vorlage entwickelte Verfilmung hat da wohl entschieden ein Zeit-Problem: Beinahe 40 Jahre nach der Uraufführung von Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ könnte eine filmische Relektüre zweifellos eine bereichernde Angelegenheit sein.

Die Schuld-Frage

Da ist zunächst der Diskurs der historischen Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Bei der Uraufführung von „Der Stellvertreter“ im Jahr 1963 wurde dieser Diskurs mit einer heute nur noch zum Teil nachvollziehbaren Heftigkeit geführt. Die Frage der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus erweiterte sich vielleicht zum ersten Mal von den Taten auf das Wissen, von einer sehr klaren und eingegrenzten Gruppe der Täter auf übergrenzende Verflechtungen: Es ist, wenn man so will, die Initiation eines weiteren historischen Prozesses. Und nicht so sehr das Brechen eines Tabus als diese Ausweitung der Schuld-Frage scheint der Grund dafür, dass ein doch eher sperriges Bühnenstück so hysterisch als Störung des Friedens empfunden wurde. „Durfte der Papst schweigen?“ – so lautete damals der Untertitel einer viel beachteten Sammlung von Stellungnahmen zu dem Stück. Es ist dabei übersehen worden, dass es im Stück um viel mehr als eine historische Dokumentation geht. Denn selbst die Erweiterung der Frage, die von der Schuld des Papstes, der Schuld der katholischen Kirche in Rom schließlich zur Frage führt, warum die Christenheit als ganzes den Holocaust nicht verhindern konnte (und in Teilen den deutschen Faschismus nicht einmal verhindern wollte), wird dem ungeheuren, auch widersprüchlichen Reichtum des Stückes nicht gerecht.

Es ist ein „christliches Trauerspiel“, und das ist vielleicht auch zu übersetzen als Tragödie der Kirche in der Welt. Zweifellos arbeitet Hochhuth gelegentlich mit den Mitteln der rhetorischen Überspitzung, es ist ein moralisch-kritischer Angriff auf eine Person, auf eine Haltung, auf eine Institution. Aber je genauer man das Stück liest (und man muss es lesen, nicht nur weil es in seiner integralen Fassung unspielbar und nicht vollständig ohne die Anmerkungen des Autors ist), desto mehr offenbart es von der Tiefenstruktur der Konflikte, die es behandelt.

Schließlich enthält das Stück eine Geschichtstheorie, die auch dem Hauptstrom der „linken“ Bearbeitung des Faschismus seinerzeit widersprach. Hochhuth erinnerte, sehr vereinfacht gesprochen, in einer Zeit, in der man vor allem an Systeme, Strukturen und (ökonomische) Interessen dachte, an die Verantwortung des Einzelnen. Er bringt den konkreten Menschen zwar nicht auf die Bühne, aber verleugnet ihn auch nicht. Es ist eine komplizierte Gleichung oder Ungleichung zwischen Biografie und Geschichte, die dieser Autor immer wieder aufmacht. Wir sind unterwegs von einem wirklichen Leben zu einem Mysterienspiel und umgekehrt, und dazwischen liegt auch die Geschichte der Ideen zur Menschen-Repräsentanz in einem ästhetischen, dem Bühnen-Raum. Jede seiner Gestalten, selbst die Nebenfiguren, die uns bei den Aufführungen als nicht mehr denn Stichwortgeber erscheinen müssen, zeigen zugleich historisch belegbare wie fundamentale Weisen, mit dem Bösen in der Geschichte zu leben (und zu sterben). Das Böse, das für Riccardo, den anderen „Stellvertreter“, in der Gestalt des „Doktors“ nichts anderes als der Teufel selbst und damit zum negativen Gottesbeweis geworden ist, muss ihm am Ende auch als Person gegenüberstehen. Bemerkenswerterweise geht Riccardo ins KZ nicht für die Opfer und nicht gegen seine Kirche, sondern als Opfer für seine Kirche: „Gott soll die Kirche nicht verderben/nur weil ein Papst sich seinem Ruf entzieht.“ Hochhuths „Stellvertreter“ offenbart spätestens im fünften Akt sein Wesen als christliches Mysterienspiel. Sein Skandal liegt nicht darin, dass es ein anti-kirchliches Stück wäre, sondern darin, dass es ein christliches Stück ist.

Die Rolle des Papstes

Der Plot des Stücks, wenn man so will, ist denkbar einfach: Kurt Gerstein, der wegen seines christlichen Widerstands im KZ war, ist als Chemiker und dann als SS-Mann an der Herstellung des Giftgases für die Vernichtungslager beteiligt. Er versucht zum einen, durch Sabotage- und Verzögerungsakte die Anwendung von Zyklon B zu verhindern, zum anderen will er mit Kontakten zur Nuntiatur erreichen, dass der Vatikan von den Verbrechen des Völkermordes erfährt und sie öffentlich macht. Seinen Verbündeten findet er in dem Jesuitenpater Riccardo, der durch seinen Vater über Verbindungen im Vatikan verfügt. Unter Einsatz aller seiner Mittel versucht Riccardo, den Papst dazu zu bringen, sein Schweigen zu brechen. Als alle seine Bemühungen gescheitert sind, hegt er sogar den Plan, den Papst zu ermorden und die Schuld der SS zuzuschieben, um die Welt aufzurütteln. Und als dies nicht durchzuführen ist, heftet er sich den Judenstern an und geht mit den Deportierten ins Konzentrationslager, um dort zu sterben. Riccardo ist die erfundene Figur in diesem Spiel – auch wenn er in Pater Maximilian Kolbe und dem Dompropst Lichtenberg in Berlin seine historischen Vorbilder hat -, das Zentrum der eigentlichen Tragödie.

Auch die politisch-moralische Aussage scheint auf den ersten Blick einfach: Papst Pius XII. hat vor der Geschichte und womöglich vor dem Auftrag des Christentums versagt, weil er in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs keinen ernsthaften Versuch unternommen hat, die Deportierung und Ermordung der Juden in Europa zu verhindern. Es sind nicht nur verschiedene Personen dieses Stückes, es ist das Stück selbst, das Pius XII. zum Sprechen bringen will. Doch der Papst dieses Stücks hat nicht nur eine Idee seiner Kirche, sondern auch eine Idee seiner Welt, hinter der der Mensch beinahe vollständig verschwindet: „Gewiss, der Terror gegen Juden ist ekelhaft,/doch darf er Uns nicht so verbittern,/dass Wir vergessen, welche Pflichten/den Deutschen auch als Schirmherren Roms/in nächster Zukunft auferlegt sind.“ Um eine Balance der Nationen geht es, die das Böse nicht ausschließt. Die Einheit der Kirche ist verbunden mit der Spaltung der Welt.

Wenn man von der Anklage gegen den Papst absieht, stellt das Stück eine Frage danach, wer „Recht“ hat in dieser Auseinandersetzung um den Kampf gegen das Böse: der pragmatische Humanist Gerstein? Der zynische Machtpolitiker, der die Bosheit der Menschen zu lenken vermeint, der Kardinal? Der Papst, der vor allem an die Einheit und die, durchaus auch: ökonomische, Macht der Kirche denkt? Oder Riccardo, der „Heilige“, der an der Stelle des Stellvertreters das Martyrium auf sich nimmt? Hochhuth lässt wohl keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gelten, den verantwortlich handelnden Einzelnen, die in der Tat und im Wort gegen ihre Institutionen zeugen. Aber er gibt nicht vor, dass die Fragen damit beantwortet sind. Das Opfer Riccardos steht nur für sich, nicht mehr für einen Erfolg in der Geschichte. Und so viel belastendes Material der Autor auch gegen das Schweigen des Papstes anführt, er kann und will nicht beweisen, dass ein anderes Auftreten des Papstes wirklich Menschenleben gerettet hätte. Darum wird man dem Stoff und seiner Geschichte wohl nicht gerecht, wenn man es nur als historisch-kritische „Verhandlung“ sieht – das ist „Der Stellvertreter“ sicher auch. Aber in mindestens genau solchem Maß ist es ein religiöses Stück. Es behandelt nicht nur die Verantwortung der Kirche in der Welt, sondern auch das Wesen der Religion in der Geschichte. Und dabei die Tragödie, die im Zusammentreffen von beidem entsteht.

Das Theaterstück

Und überdies enthält Hochhuths Stück auch eine Theorie des Theaters, eine Theorie, mehr noch, zum Verhältnis von Kunst und Geschichte. Er wählte, wiederum sehr vereinfacht gesprochen, die Form des dramatischen gegen das epische Theater, es war ein Theater nach Brecht und in manchen Aspekten vielleicht sogar gegen Brecht, ganz zu schweigen davon, dass es gegen das „absurde Theater“ gerichtet war. „Der Stellvertreter“ löst den Konflikt zwischen epischem Theater und klassischem Drama nicht, das Stück formuliert ihn. In der Charakterisierung der Personen (sein Gesicht „enthält keine Antwort“, heißt es in der Beschreibung der Rolle des Nuntius) oder in der Öffnung der Regieanweisungen, in denen, ganz nebenbei, genügend Spuren zu einem frühen Fixstern in Hochhuths literarischer Biografie führen: zu Thomas Mann. Im zugleich problematischen und furiosen fünften Akt droht das Stück an diesem Widerspruch sogar regelrecht zu zerbrechen. Es sind nicht nur die Aussagen und die Formen in diesem Stück, die seinen Rang ausmachen, es sind die Spannungen, die darin ausgehalten sind.

Die Verfilmung

Nun endlich wäre die Frage zu stellen, ob der Film von Costa-Gavras dem Stück von Hochhuth gerecht wird. Könnte er ihm etwas hinzufügen, es auf angemessene Weise popularisieren, es in das andere Medium fortsetzen? Es ist eine Form des kontrollierten Zorns, der Hochhuths Stück zusammenhält. Costa-Gavras ist vor allem guten Willens; er macht es uns nicht ganz so schwer. Er möchte das Wesentliche des Konflikts beibehalten, aber uns die letzten Konsequenzen nicht zumuten. Natürlich kann man sagen, dies habe wohl auch ein wenig mit dem zeitlichen Abstand zu tun. Costa-Gavras‘ Riccardo geht nicht so weit, den zu den Verbrechen schweigenden Stellvertreter Christi selbst als „Verbrecher“ zu bezeichnen, wie es Hochhuths Riccardo tut, und er nimmt auch die konsequenteste Idee des Widerstands, nämlich die Idee, den Papst zu ermorden und die Schuld dafür der SS anzulasten, zurück. Auch erfahren wir in dem Film nur höchst beiläufig, woher denn Riccardo den Judenstern hat, den er sich anheftet – als wäre es nun reines Symbol und nicht das Ergebnis einer verschlungenen Geschichte der Identitäten.

Dramaturgisch gibt das eine Reihe von Vereinfachungen, die nicht alle glücklich sind. So ist zum Beispiel die „Ritterkreuz-Szene“ aus dem ersten Akt, in Hochhuths Stück durchaus bedeutsam für die Charakterisierung der handelnden Personen, im Film nur noch ein Aperçu. Und immer wieder arbeitet der Regisseur, wie in seinen durchaus kontrovers diskutierten Filmen der siebziger Jahre, mit den Mitteln des Spannungskinos. Zu oft verwandelt er, was im Stück Ketten der Entscheidungen sind, in einfach gestrickten cineastischen Suspense. Die Spannung bei Riccardos Geste, sich den Judenstern anzuheften, etwa entsteht durch eine assoziative Verbindung mit einer unvermittelten spektakulären Szene einer öffentlichen Selbsttötung zu Beginn, und enthält eben gerade dadurch nicht die Möglichkeit jenes gerechten Attentats, die im Stück erwogen wird. Bei der Unterredung Riccardos mit dem Kardinal und seiner Familie so angelegentlich auf das Langusten- und Erdbeer-Essen der Würdenträger zu schneiden, während die Pläne der Vernichtungslager herumgereicht werden, ist eine indiskutable Form der Denunziation, die auch durch das Recht auf bildhafte Polemik nicht gedeckt ist. Auf der anderen Seite weiß der Regisseur sich durchaus mit Respekt dem Problem der Darstellbarkeit des Holocaust zu stellen. Er muss nicht die schnarrenden Nazi-Karikaturen bemühen, die wir im Kino so grauenhaft gewöhnt sind, er verzichtet, anders als Steven Spielberg, auf jedes Nachspielen des Grauens. Das erschrockene Zurückweichen Gersteins beim Blick auf die Vernichtung und das rhythmisch wiederholte Bild der Güterzüge, die durch Europa fahren, einmal mit geschlossenen, das andere mal mit geöffneten Türen, gibt genügend Anschauung. Und andererseits wiederum versteht der Film nicht, wie wichtig es für Hochhuth ist, den Opfern Gesicht und Stimme zu geben; der Film hakt das am Ende als illustrative Episode ab. Costa-Gavras verzichtet auf die möglichen Privatisierungen und Melodramatisierungen; dass er die Tragödie nicht an das Melodram verraten hat, ist immerhin ein Verdienst. Er begegnet dem Stoff wie dem Stück mit Respekt.

Kirche: Pius und Riccardo

Das alles ist, wie gesagt, auch eine Frage der Zeit. Der historische Diskurs befindet sich, in gleichsam abgekühlter Form, in Bearbeitung. Der ästhetische Diskurs ist weitgehend dispensiert, das Theater hat derzeit offensichtlich andere Sorgen. Den historisch-moralischen Diskurs will sich die neoliberale Gesellschaft nicht zumuten. Der ästhetisch-moralische Diskurs ist weitgehend auf die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust reduziert. Und der Diskurs von Kirche und Religion?

Es wird noch ein Widerspruch aufgerissen, ohne wirklich bearbeitet zu werden. Man hat ja vielleicht nicht so ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Riccardo eigentlich eine sehr „protestantische“ Figur ist, gestaltet von einem sehr protestantischen Autor. Tatsächlich scheint Riccardo dem Wesen „seiner“ Kirche fast fremd zu sein. Aber auch dieses einfache Modell löst sich im fünften Akt vollkommen auf. Auch Riccardo fühlt sich als „Stellvertreter“; die „protestantische“ Unmittelbarkeit seines Opfers steht ihm nicht zur Verfügung. Daher ist die Konstruktion des Stoffes ein System verschiedener Zweiheiten, verschiedener Spaltungen. Die Geschichte hat die katholische Kirche gespalten in Pius und Riccardo, die zu anderen Zeiten die beiden Seiten einer Sache wären: Der eine will die Kirche retten, der andere will den Glauben retten. Was die beiden dafür opfern, ist furchtbar genug. Aber dieses doppelte Wesen der Religion, nämlich zugleich weltliche Macht und transzendentale Kraft zu sein, macht sie nicht nur zu einer Institution, in der sich immer wieder die Führung korrumpieren lässt, sie ist Medium der Korruption durch die Macht. Der Film leistet sich eine Schlusspointe, die es so im Stück nicht gibt, nämlich dass sich der Doktor wieder durch eben jene Institution retten lässt, deren Widersacher er war. Auch diese Pointe ist ein etwas hilfloser Versuch, Hochhuths Geschichts-Bild filmisch umzusetzen, das an die Seite der Verantwortlichkeit  […]

Die Legende will es, dass ein Nachfolger von Pius auf dem Stuhle Petri, dem Tode nahe, auf die Frage, was man gegen die Anschuldigungen im Stück unternehmen könne, geantwortet habe: Was kann man gegen die Wahrheit tun? Wenn diese Anekdote wahr ist, gibt es über den historisch-diskursiven Inhalt nichts mehr zu sagen. Wenn sie es nicht ist, eigentlich auch nicht, nur dass es sich dann um das Schweigen einer Universitätsbibliothek handelt. Daher wird die Reduktion des Films auf diesen Gehalt ein wenig leer. Aber kaum wollen wir uns ein wenig melancholisch abwenden, da tut uns auch schon wieder eine Fraktion der „Betroffenen“ den Gefallen, ihren Machtapparat noch gegen diesen Nachklang des einstigen Skandals zu entfalten.

Der „Skandal“ von 2002

Dass eine so maßvolle Verfilmung des Stückes im Jahr 2002 erneut Skandal macht, eine Form der politischen Zensur evoziert (wenn auch zunächst am Plakat von Olivier Toscani exemplifiziert), die wir einigermaßen überwunden wähnten, zeigt, dass wir in diesen Jahrzehnten eher rückwärts als vorwärts gegangen sind. Wer beschriebe unsere Bemühungen, bei der Lektüre des Satzes im „Spiegel“ nicht grimmig zu lachen, in dem es hieß, der Heilige Stuhl habe dem Auswärtigen Amt der BRD sein „Befremden nahe gebracht, dass die Bundesregierung zu dem Hochhuth-Stück schweige?“ Über die Zensurfälle in Frankreich und Italien gibt es nichts mehr zu lachen.

Dabei wäre nicht die Anklage, sondern die Analyse, nicht die Politik, sondern das Philosophieren in diesem Stück von höchster Aktualität. Es gibt zwei Komplexe des „Was wäre wenn“ in diesem Fall. Was wäre, wenn der Papst nicht geschwiegen hätte? Hätte das Verfolgte gerettet werden können, oder wäre umgekehrt, wie manch einer annahm, der Todesgenuss der faschistischen Massenmörder nur angestachelt worden? Wie Hochhuth die Faschisten seines Stückes zeigt, das ist keineswegs eine Antwort auf diese Frage, auch wenn sie den „Freibrief“ durchaus goutieren. Und was hätte es für die Konstruktion des Vatikans – eine durchaus besondere Form der „Kirche in der Welt“ – für Folgen gehabt, den weltlichen Teil ihres Wesens durch eine solche Geste aufs Spiel zu setzen? Auch darauf gibt es keine Antwort. Aber die Fragen selbst machen das unglückliche Bewusstsein der Kirche – womöglich jeder Kirche, auch wenn natürlich kaum eine andere Kirche so viel weltliche Macht, so viel „Staat“ enthält wie die katholische – deutlich: Die weltliche Seite der Kirche ist nicht nur Medium ihres transzendentalen Inhalts, sie ist auch sein Widersacher, eine eingeschriebene Form der Negation, eine Institution, die nicht einmal, sondern unentwegt historische Schuld produziert. Weil und insofern sie Macht ausübt und erhalten will, ist jede Kirche auch ein Ort der Verdammnis. Nur Heilige können sie retten, die ihren eigenen Teil der Verdammnis auf sich nehmen. Nicht nur in einer Hölle wie Auschwitz, sondern auch in sich selbst. Denn es sind nicht die Menschen, es ist die Kirche, die ihr Opfer annimmt. Am Ende wäre „Der Stellvertreter“ dann doch wieder als absurdes Theaterstück zu schreiben gewesen. Aber was immer man gegen Hochhuth als Autor einzuwenden haben mag: Er ist einer der tapfersten Autoren, die wir haben. Und er hätte einen wenigstens mutigeren Film verdient.

Angst vor Widersprüchen

Costa-Gavras‘ Film, das ist nach ein paar Minuten Filmzeit klar, lässt sich auf keine der Widersprüche und unlösbaren Probleme des Stücks ein. Einigen von ihnen versucht er mehr oder weniger redlich aus dem Weg zu gehen, andere, wie den Widerspruch zwischen der offenen und der geschlossenen Form des Dramas, scheinen Drehbuch und Regie gar nicht erst zu verstehen. Er personalisiert den Konflikt ohne, wie Hochhuth, die Schwierigkeiten dieser Personalisierung mitzudenken. Aber zugleich weigert er sich, mit den Mitteln des Films tiefer in diese Personen, tiefer in das, was zwischen ihnen geschieht, hineinzusehen. Eine „Filmkritik“ zu Costa-Gavras‘ Hochhuth-Versuch also würde wohl, wenn nicht „vernichtend“, so doch eher negativ ausfallen müssen. Er ist nicht das eine und nicht das andere, noch nicht Film und nicht mehr Theater, nicht mehr Partitur und noch nicht Lektüre. Und ich bezweifle, ob es ein Filmemacher als großes Kompliment ansieht, wenn man ihm bescheinigt, er habe sich im Großen und Ganzen mit Anstand aus der Affäre gezogen. Einen der schönsten Sätze zum „Stellvertreter“ hat wohl Karl Jaspers gesagt: „Hochhuth verlangt von uns: offen sein, Fragen ganz ernst nehmen, und zwar angesichts Gottes, der Transzendenz.“ Mein Gott, was hätte das für ein Film werden können! Aber das ist schon wieder ein anderer Diskurs: Warum er nicht zustande kommen kann, in unserer Filmkultur.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd film 6/02

Bild: Concorde Film