Zweierlei Wahn

„Die Stille nach dem Schuss“ – Volker Schlöndorffs gespaltener Film über ein gespaltenes Land

Das hätte der deutsche Film des Jahrzehnts werden können. Eine sehr persönliche Geschichte, die zwei blinde Flecken der deutschen Selbstidentifikation miteinander verbindet: Da ist einerseits der Terrorismus in der Bundesrepublik der siebziger Jahre, geboren aus historischer Last, Pop, Moral, Theorie, Romantik, Kino und 1001 sehr individuellen, einsamen Dispositionen. Und da ist andrerseits der Wahn einer Gesellschaft auf deutschem Boden, die sich sozialistisch nannte und vor allem eine Karikatur bürokratischer Kleinbürgertyrannei war. Es gibt für beide Phänomene offenkundig keine historische oder wissenschaftliche Erklärung, keinen sinnvollen Text, in dem Struktur und Erfahrung gleichermaßen aufgehoben wären. Beide Wahnsysteme entwickelten sich zu geschlossenen Systemen, die niemanden mehr entließen, in denen es keine Selbstreflexion und Selbstkorrektur mehr gab, Systemen, die am Ende weniger gegen konkrete Gegner als gegen die äußere Wirklichkeit selber gerichtet waren.

Durch bizarre Wendungen von Biografie und Geschichte kommen einige Menschen von einem System ins andere. Bundesdeutsche Terroristinnen finden Zuflucht in der DDR, werden hier mit einer „Legende“ als neuer Identität versehen und leben ein kleinbürgerlich-sozialistisches Leben, das eben jener Spießbürgerwelt der eigenen Familien entsprach, der man entkommen war. Und als auch das zweite Wahnsystem zusammenbrach, da war auch, in doppeltem Sinn, die Legende dahin. Die romantischen Subjekte des doppelten deutschen Wahntraums wurden der „Vereinigung“ geopfert.

Es hätte der deutsche Film des Jahrzehnts werden können. Denn wo sich etwas mit den Mitteln des Diskurses nicht erfassen lässt, da hilft, im Allgemeinen, nur die Kunst. Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase mit einem ostdeutschen, der Regisseur Volker Schlöndorff mit einem westdeutschen Hintergrund taten sich zusammen, um diese Geschichte zu erzählen. Eine Matrix ist dabei das Leben der Inge Viett, an das sich der Film nicht allzu sehr, wie die Autoren meinen, und viel zu sehr (und auf falsche Weise) hält, wie es Inge Viett meint.

Bevor man in Die Stille nach dem Schuss einiges vom Besten zu sehen bekommt, was der deutsche Film derzeit zu leisten imstande ist, muss man etwa eine halbe Stunde durchstehen, die zum Schlechten gehört, was er sich leistet. In diesem ersten Teil geht es um die terroristische back story der Heldin. Von den „heiteren Jahren“ spricht die Off-Ich-Erzählerin Rita Vogt am Anfang, und da haben wir auch schon einen Banküberfall gesehen, der wie ein großer Spaß abläuft. Gleich darauf gerät Rita an den DDR-Agenten Erwin, der ihr gelassen freies Geleit durch die DDR gewährt, wenn er nur über die Aktionen der Gruppe informiert wird. Rita befreit ihren Freund Andi zusammen mit Friederike und Klatte aus dem Knast, und dabei geht die heitere Unschuld verloren. Es fließt Blut, der Anwalt wird getötet, als er die Flucht verhindern will. Die vier fliehen nach Ostberlin, wo Erwin „Erlebnis schafft“, um „Vertrauen aufzubauen“: Man grillt Bratwürste. Erster, bizarrer Kurzschluss zwischen der schwarzen Romantik der Terroristen und den Kleinbürgerwelten der DDR, in denen der romantische Traum begraben wurde. Weiter führen Flucht und Verschwörung nach Beirut und Paris. Das scheint der rechte Ort, um politische Selbstzweifel fortzudiskutieren, nicht aber die Liebesspannungen in der Gruppe. Rita erschießt bei einer Kontrolle einen Polizisten.

Das alles ist in einem merkwürdigen Gestus gehalten, die Terroristen sprechen, als rezitierten sie eigene Flugblätter, ihre Welt ist auf eine Addition von Zeichen reduziert. Eine lange Kamerafahrt ist dafür typisch. Sie beginnt als Parallelfahrt aus einem Bus über die deutsch-deutsche Grenze: Intershop-Laden, Wachpolizisten, Checkpoint, Mauer, und sie geht über in eine Fahrt an einer Zimmerwand entlang: das Bild eines Italowestern, ein Zeitungsausriss, der die Ermordung Benno Ohnesorgs zeigt, Jimi Hendrix, ein Marx-Gipskopf, eine Ton-Steine-Scherben-Platte, Che Guevara, eine Haschischpfeife, Ho Ci Minh, Flugblätter, ein Kriminalroman – dazu Street Fighting Man von den Stones. Die Bewegung endet bei einer Hand, die Kugeln in eine Pistole lädt. Erklärt uns eine solche Zeichenaddition (wir schreiten sie ab, wie wir die Exponate in einem Museum oder Beweisstücke auf einem Gerichtstisch wahrnehmen) wirklich etwas von der Kultur des Untergrunds? Ist das noch Erklärung oder schon Klischee? Oder erzählt eine solche Einstellung auch von einer semiotischen Distanzierung: In dieser Phase dringt niemand durch die Worte, Gesten und Zeichen zu den Menschen vor.

Rita Vogt findet Unterschlupf in der DDR. Jetzt beginnt ein ganz anderer Film. Auf eine Geschichte im Zeige- und Zeichengestus folgt eine der Einfühlung und Zärtlichkeit. Rita bekommt einen neuen Namen und eine Arbeitsstelle im VEB-Modedruck. Dort freundet sie sich mit der alkoholkranken

Tatjana an, die von ihren Kollegen gemobbt wird. So wie Rita in die DDR gekommen ist, so möchte Tatjana raus (ein bisschen muss auch sie, um das zu begründen, politischen Kitsch reden), aber sie ist dazu schon viel zu kaputt. Solidarität und Freundschaft, vielleicht Liebe, vielleicht aber auch ein Kampf um ein Leben, nicht mehr gegen die Täter, sondern für ein Opfer: Wir sehen, wie aus einer Figur ein Mensch wird. Und der Film lässt sich für diese Geschichte viel Zeit.

„Ihr wisst nicht, was ihr verliert!“

Die Legende endet, als Rita in einem Fernsehbericht erkannt wird. Sie bekommt eine dritte Identität, fährt als Kinderbetreuerin an die See, wo sie sich in den Bademeister verliebt, der in Wirklichkeit ein Physiker ist, der von einer großen Zukunft in der UdSSR träumt. Die Hoffnung auf das bürgerliche Glück ist dahin, als Rita dem Geliebten die eigene Identität enthüllt. „Das darf ich doch gar nicht wissen“, stammelt der ratlos. Die andere Seite der Politik ist der Liebesverrat. Noch einmal will Rita begeistert sein, will sogar in der Partei mitarbeiten, aber es gibt keinen Platz mehr für Begeisterung. Die DDR geht unter, und niemand will sie retten. „Ihr habt keine Ahnung, was kommen wird. Ihr wisst nicht, was ihr verliert“ – für solche verzweifelten Worte erntet Rita böse Blicke. Beim Aktenvernichten erfährt Erwin beiläufig, dass man im Westen immer gewusst hat, wo sich die Terroristen aufhalten. Er setzt Rita an einer Autobahn ab: „Da geht es nach Osten, da geht es nach Westen. Gesucht wirst du überall.“ Rita klaut ein Motorrad und wird just von dem Polizisten erschossen, der gerade noch behauptet hat, er werde nicht auf einen Menschen schießen. Noch einmal erfahren wir aus der Story, was der Film leider in seinen Bildern nie vermitteln kann: Wie die Spannung des Augenblicks über den Entwurf des Lebens kommt.

Am Ende ist der Film wieder zweifelhaft demonstrativ in einer Opferpose, wie sie einst das neue deutsche Kino liebte. Aber dazwischen gab es das Porträt einer Frau inmitten eines ver-rückten Lebens, wie es vielleicht nur im Dialog von Defa-Tradition und – BRD-Autorenfilm entstehen konnte. Es ist das Leben eines Menschen im sozialistischen Kleinbürgerstaat, der dessen moralische Ansprüche, vielleicht gerade weil er hier eigentlich „nicht hingehört“, ernst nimmt und der darin nach dem Glück sucht. Ein Glück, das vielleicht darin bestünde, dass das Leben kein Verrat der Politik, und die Politik kein Verrat des Lebens wäre. Die Stille nach dem Schuss hätte der deutsche Film des Jahrzehnts werden können. Doch noch in seinen besten, genauesten und zärtlichsten Passagen spuken Klischees, obsiegt das Zeichen über die Empfindung, gelingt keine Verbindung zweier sehr verschiedener Arten, von Menschen und Geschichte zu erzählen. Aber vielleicht können wir gerade das nur ehrlich zeigen: Wie weit wir entfernt sind von einer gemeinsamen Erzählung. Und wie weit von Filmen, die ihre Zerrissenheit als ästhetischen Zorn wiedergeben.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 2000

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 38/2000