Viele Mitarbeiter dieser Produktion kommen von der Hochschule für Fernsehen und Film in München, und vielleicht steht das Projekt ja für die Philosophie eines neuen, kommerziellen, handwerklichen und international kompatiblen Genrekinos, mit der man möglicherweise aus der Krise zu gelangen hofft. Diese Strategie hat Vorteile und Nachteile, man gelangt damit vielleicht auf einen Markt, auf dem eine intensivere Vermarktung möglich ist (und auf dem das Kino wohl nicht mehr als eine erste Anlaufstelle ist), aber man verliert etwas von den Wurzeln, die durch gemeinsame Lebenserfahrungen von Herstellern und Konsumenten eines Films gebildet werden.

Der Thriller – der dänische Film NIGHT WATCH hat es vor kurzem bewiesen – ist ein Genre, in dem man auch mit vergleichsweise moderaten Mitteln und in einer durchaus reduzierten Erzählweise erfolgreich sein kann, wenn sich Drehbuchintelligenz, Schauspieler und Schauplätze stimmig verbinden lassen: Fragen des Handwerks eben. Und in kaum einem anderen Genre kann man sich so auf die Formeln und Grundsituationen verlassen, wenn man sie zu handhaben weiß. Irgendein Objekt, eine Tat oder ein Verbrechen bringt die Dinge in Bewegung; es ist selbst ohne Bedeutung, ein „MacGuffin“, wie Hitchcock das genannt hat, mit dem sich trefflich spielen lässt. Die Bewegung ist definiert durch eine besondere Zwangslage; die Zeit oder der Raum oder beides verengen sich dem Helden oder der Heldin, der oder die entweder schon von Anfang an mit einem Wahrnehmungs- oder Kommunikationsproblem behaftet ist oder im Verlauf der Handlung eines bekommt. Die Besonderheiten des Schauplatzes müssen in die Handlung integriert werden (zum Beispiel kommt in einem Hitchock Thriller, der in der Schweiz spielt, Schokolade nicht bloß vor, sondern hat einen entscheidenden Einfluss auf die Handlung); die Bedrohung wird sichtbar durch den Verlust alltäglicher Sicherungen, und natürlich braucht ein Thriller heftige Bilder für das Böse.

STUMME ZEUGIN hat das meiste, was ein Thriller braucht. Der Schauplatz ist Moskau, dort hauptsächlich ein reichlich heruntergekommenes Studio-Gebäude, in dem ein amerikanisches Filmteam einen B-Film dreht. Schäbigkeit gehört zu Moskau wie Schokolade zur Schweiz und spielt entsprechend in die Handlung hinein. Die stumme Maskenbildnerin und Special-Effects-Expertin Billy (Marina Sudina) wird eines Nachts aus Versehen im Studio eingeschlossen und Zeugin, wie zwei russische Mitarbeiter des Teams eine Frau vor laufender Kamera umbringen: Ein Snuff-Movie entsteht im Auftrag der russischen Mafia. Billys Anwesenheit wird entdeckt, und nun beginnt eine erste Jagd, nach allen Regeln der Spannungsdramaturgie gestaltet. Nach ihrer vorläufigen Rettung gelingt es den Männern, die Polizei davon zu überzeugen, daß alles nur ein Filmtrick war, eine Probe für den morgigen Drehtag. Auch die Müllsäcke mit den Leichenteilen, die Billy gesehen hat, sind verschwunden. Billy wird schließlich in ihrer Wohnung überfallen und muss sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Ihre Schwester und deren Freund, der Regisseur, sowie ein reichlich undurchsichtiger Agent namens Larsen versuchen ihr mit wechselndem Erfolg beizustehen, ein sehr böser Drahtzieher taucht ein paar Mal kurz auf (er wird von einem nicht allzu „mysteriösen Gaststar“ dargestellt und schaut nicht so, als hätte er das ganze Drehbuch gelesen), und zum guten Ende kann Billy auch noch ihre Special-Effects-Fähigkeiten einsetzen.

Was ein durchaus passabler Gebrauchs-Thriller hätte werden können, ein sympathisches Lernstück für kommende Film-Handwerker, leidet nicht so sehr unter den kleinen Patzern und einer allzu durchsichtigen Konstruktion des Drehbuches als vielmehr unter der „Fehlbesetzung“ des MacGuffin und der eher zweifelhaften Benutzung des Schauplatzes. Beide besitzen ein Übermaß an Bedeutung. Was an dem blutrünstigen Kameramord (Ersatz-MacGuffin wird dann eine Diskette mit Adressen, hinter der alle her sind und deren Verbleib nur Billy klären kann) und der aus dem Lehrbuch der Nationalklischees stammenden Zeichnung der „Russen-Mafia“ zu viel ist, das ist in der inneren Charakterisierung der Figuren zu wenig: So bleibt die Bedrohung vollkommen äußerlich. Thriller sind dort am faszinierendsten, wo die äußere Bedrohung vor allem Abbild einer inneren Krise ist, wo der Weg zugleich hinaus und ins Innere geht. Dazu hat es hier nicht gereicht; im letzten Drittel des Films sehen wir nicht mehr so sehr einer Heldin in Gefahr zu als vielmehr einem Drehbuchautor (der auch der Regisseur ist) bei dem Bemühen, seinen Konstruktionen noch ein paar effektvolle Wendungen zu geben. Aber selbst das wäre noch leidlich unterhaltsam, zumal man zu spüren meint, daß den Beteiligten die Arbeit an diesem physischen Kino-Stück Spaß gemacht hat, bliebe da nicht ein unangenehmer Beigeschmack, der von einer reichlich gedankenlosen Konstruktion der Film-Bösewichter herrührt.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd film 10/95