Sie wurde schon oft genug erzählt, ihre Helden sind in den Himmel der filmischen Mythopoetik erhoben und in die Verdammnis cineastischer Demaskierung gestürzt worden: Die Geschichte von Wyatt Earp, seinen Brüdern Virgil und Morgan und dem lungenkranken „Doc“ Holliday, die in einem reichlich blutigen Fight Ike Clanton und seinen Clan am O.K. Corral von Tombstone bezwangen. Dass diese Story von einem hemmungslosen Aufschneider und Karrieristen dem willigen Biographen in die Feder diktiert wurde und vermutlich eher der Vertuschung eigener Verbrechen als dem Kampf für Gesetz und Ordnung diente, belegt nachhaltig, wie sehr Mythologie des Westens schon Showbusiness war, bevor sich der Film ihrer bemächtigt.

Die Umwandlung historischer Wirklichkeit in Showbusiness könnte ein Thema des Filmes von George Pan Cosmatos sein, jedenfalls deutet der Vorspann so etwas an: Während uns eine sonore Stimme über die Voraussetzungen des Geschehens in Tombstone aufklärt, das terroristische Regiment einer Bande schildert, die sich selbst die „Cowboys“ nennt, die boomende Stadt in der Zeit nach dem Bürgerkrieg beschreibt, sehen wir „zeitgenössische“ Bilder. Die Schnittstelle zwischen dem dokumentarischen Material und der Kinoerzählung bildet die legendäre Schlusseinstellung von THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903), in der der Bösewicht direkt auf das Publikum zu feuern scheint.

Während der Vorspann läuft kommt eine Gruppe von Reitern über das erdsatte Gelb der Prärie auf uns zu und galoppiert donnernd an uns vorbei. Ein wenig Terrence Malick, Menschengewalt in der Paradiesnatur. Dann sind wir in einer mexikanisch anmutenden Stadtlandschaft; ein Fest wird vorbereitet. Mexikaner singen. Der Film hat seine mögliche Absicht, das Geschehen in einer Erzählfigur voranzutreiben, die einmal typisch für den Western war, nämlich die Parallelmontage (sozusagen das Showdown der Bilder), schnell aufgegeben und setzt nun auf die eher manieristische, kreisende Ortserfahrung des Italowestern. Ein Mann im roten Hemd lädt sein Gewehr, mehrere andere kommen dazu, aus der Kirche tritt ein Brautpaar mit seinen Gästen. Ein langes Massaker hebt an, am Ende werden auch der Bräutigam und der Priester ermordet, der noch einen Fluch gegen die Verbrecher aussprechen kann.

Mit dem Zug kommt Wyatt Earp an; wieder sehen wir, das ist ein wiederkehrendes Motiv des Films, zuerst auf seine Beine, als würde die Art, wie einer geht, schon das meiste verraten. Er begrüßt seine Brüder (zum ersten Mal wird die Musik westernhaft elegisch), die drei sehen sich zusammen mit ihren Frauen in einem Spiegel. Der Film wird uns also wohl nicht nur etwas über das Schießen und die Moral dabei zu erzählen haben, sondern auch über Liebe und Freundschaft. Wir sehen Doc Holliday spielen, gewinnen und einen Opponenten fertigmachen. Reiter und ein Planwagen vor einem Sonnenuntergang, ein LeitmotivBild, das nur wenig dadurch gewinnt, dass es sich seiner Kitschigkeit so offensichtlich bewusst ist. Die Familien Earp kommen am Friedhof vorbei in die Stadt zum Grand Hotel.

Bis hierher hat man den Eindruck gewonnen, eine Anzahl ganz verschiedener Filme hätte begonnen, und bevor man sich auf einen einläßt, hat der Regisseur uns schon wieder mit dem nächsten überrumpelt. Immer wieder werden die klassischen Elemente des Western gezeigt, als wären sie liebevoll arrangiert, aber

im gleichen Augenblick zerstört eine besonders gesuchte Perspektive, ein besonders krasser Schnitt diesen Eindruck wieder. TOMBSTONE sortiert die alten Zeichen, erzählt die alten Geschichten, präsentiert die alten Helden, aber mit dem beinahe manischen Bemühen, alles etwas „anders“ zu machen. Er will sozusagen alles, was das Genre an Entwicklungen zugelassen hat – nämlich authentisch oder stilisiert, lyrisch oder dramatisch, episch oder lakonisch, mythisch oder psychologisch zu erzählen -, in einem Film präsentieren, zerfällt dabei in tausend Einzelteile (von denen manche durchaus ansehnlich sind) und verheddert sich in seinen inneren Widersprüchen. Kleidung, Haartracht und Bärte sind so sehr den mittlerweile bis in die Werbung hinein multiplizierten historischen Fotos und Gemälden nachempfunden, daß die Schauspielerpersönlichkeiten dahinter zu verschwinden drohen; TOMBSTONE ist in der Tat der schnauzbärtigste Western, den ich je gesehen habe. Aber je mehr diese Maske Authentizität repräsentieren will, desto falscher wirkt sie. Henry Fonda in John Fords MY DARLING CLEMENTINE war vor allem Henry Fonda in einem Western; Kurt Russell, dessen starrende, bösschmale Augen ihn von Anfang an nicht zu einem mythischen Helden werden lassen, trägt dagegen sichtlich schwer unter der Last seiner historischen Verkleidung. Überhaupt scheint Cosmatos, wer weiß durch welche Produktionsumstände gezwungen, eine enorme Verschwendung schauspielerischen Potentials zu betreiben; Michael Rocker oder Charlton Heston haben zum Beispiel nicht die geringste Chance, sich uns auch nur bemerkbar zu machen.

TOMBSTONE ist ein Film, der alles hat, was ein Western haben muss, und der dennoch kein Western ist, weil er nicht erzählt wie ein Western, weil er nicht blickt wie ein Western. In seiner Liebesgeschichte hat er, nicht nur dramaturgisch, seinen Western-Hintergrund ganz und gar vergessen, und wenn es in der unumgänglichen Operationsszene draußen stürmt und blitzt, scheinen wir auch hier in einen ganz anderen Nebenfilm geraten. In seinen abrupten Stimmungs- und Farbwechseln steckt zuviel Effekthascherei und zuwenig cineastische Intelligenz, um aus den Widersprüchen selbst eine Aussage zu machen, um das Zerbrechen des Bildes zum Thema werden zu lassen. TOMBSTONE ist ein gebastelter Film und einer, der ziemlich töricht in seine Effekte und Zeichen verliebt ist. Aber richtig schlecht oder gar langweilig ist er dann auch wieder nicht; man genießt ihn am ehesten, wenn man nicht auf sein Funktionieren hofft. Die Frage nach einer Western-Renaissance kann ein solcher Balance-Akt zwischen Traditionalismus und Dekonstruktion freilich gewiss nicht beantworten, also die schwierige Frage, ob wir noch einmal so sehen können, wie wir einmal gesehen haben, oder ob wir auf eine so neue Art sehen können, daß wir verstehen, wie wir einst gesehen haben.

Am Ende verweist Cosmatos noch einmal auf die Beziehung von Western und Kino, wenn die Off-Stimme vom Begräbnis des Helden erzählt, an dem auch die frühen Western-Stars teilnahmen. Den letzten Satz des Films können wir als unfreiwillig komisch oder auch als sehr poetisch verstehen. Er lautet: „Tom Mix weinte.“

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd film 3/94