Was bleibt
„Die letzten Tage“, der erste Kinodokumentarfilm der Shoah Foundation, läßt Holocaust-Überlebende aus Ungarn zu Wort kommen
Vor sechs gründete der Filmregisseur Steven Spielberg die Survivors of the Shoah Visual History Foundation. Man muss vielleicht diesen Titel beim Wort nehmen – als Programm und als Problem. Nach der geschriebenen Geschichte, der Geschichte der Fakten und Strukturen und der oral history , der erzählten Geschichte von unten, geht es nun um die visual history , die Geschichte der Bilder und der Erinnerungen. In alledem haben wir uns von der „objektiven“ Erzählung zur Wahrnehmung des Subjekts bewegt; und nirgendwo ist es in der Geschichte der Menschheit und ihrer Verbrechen so notwendig, das individuelle Schicksal, das einzelne Menschen-Bild gegen die Mechanik und die Logik der Macht zu retten, wie in der Geschichte des Holocaust. Nach Fernseh-Features und interaktiven CD-ROMs für den Schulunterricht ist nun der erste Kinodokumentarfilm der Stiftung produziert worden, und intendiert oder nicht, wird ihm etwas Programmatisches für das Konzept der visual history zuwachsen.
James Molls Die letzten Tage lässt fünf Menschen aus Ungarn, die die Verfolgung und die Todeslager überlebten, ihre Geschichte erzählen; dann kehren sie, von der Kamera begleitet, für zehn Tage an ihre einstigen Heimatorte und zu den Konzentrationslagern zurück. Die schwere Suche nach Bildern der Vergangenheit – das bedeutet auch: fünf vollständige Biografien, fünfmal individuelles Schicksal, das mehr ist als Ergebnis und Ausdruck der Geschichte. Auf jeweils eigene Weise werden die Stationen dieses Leidensweges erlebt: die Heimat, die trügerische Sicherheit einer glücklichen Kindheit, das Umschlagen der Stimmung bei den ungarischen Nachbarn gegen die Juden, die Feindschaft jener, mit denen man gerade noch Nachbarschaft und Freundschaft pflegte, die schrittweise Verschärfung der Gesetze und der Restriktionen, Raoul Wallenbergs Versuche der Rettung, die zynischen Lügen der SS, die Transporte in den Viehwaggons, die Entwürdigung in den Lagern, die Trennung der Familien, die Allgegenwärtigkeit des Todes, die erzwungene Kollaboration der „Sonderkommandos“, der Widerstand des Geistes, aber auch die unbarmherzige Erfahrung der wahren Gottverlassenheit (davon spricht eine der Frauen: Sie hörte auf, mit Gott zu sprechen, als sie sah, wie ein SS-Mann ein Kind an einem Wagen zerschmetterte und es dann auf die Ladefläche warf), die letzten Todestransporte, schließlich die Befreiung der Überlebenden durch die amerikanische Armee, der Schock der Soldaten, Racheakte, die langen Versuche zu vergessen, eine neue Existenz in den Vereinigten Staaten von Amerika. All das wäre nachzulesen in den Geschichtsbüchern, all das ist gegenwärtig in den Dokumenten der oral history , und doch erreicht es im persönlichen Erleben erneut die Grenzen des Vorstellbaren, des Erträglichen, die Grenzen der Vernunft.
Die letzten Tage benutzt in der Montage, im Bildaufbau, in der Entwicklung der Charaktere und Geschichten Elemente, die eher dem Spielfilm entlehnt sind; Identifikation, Dramaturgie, Eindeutigkeit lassen uns nur wenig Raum für eine eigene Arbeit in diesem Film. Sicher könnte man auch diskutieren über den Einsatz der Musik und die Kompositionen von Hans Zimmer. Auch diese Musik nimmt uns an die Hand, transportiert das konkrete in ein allgemeines Gefühl, ein durchscheinendes Requiem im Hintergrund. Entscheidend ist wohl auch hier, dass es nicht um ein äußeres Empfinden, nicht um einen Kommentar der Musik zur Geschichte, sondern um ein Inneres geht. Mit solchen Stilmitteln entsteht ein filmischer Raum der Wärme gegen die Kälte der Erinnerung. Dazu dient sicher auch die weiche Ausleuchtung bei den Interview-Passagen, die mit dem unbarmherzigen Schwarzweiß oder den blassen und dennoch grellen Kontrasten der wenigen Farbaufnahmen bei den historischen Dokumenten kontrastiert. Der Film wurde, ungewöhnlich, auf 35 Millimeter gedreht, was eine ebenso intime wie stimmungsvolle Bildgestaltung möglich macht (auch hier berühren sich Elemente des Spielfilms mit denen der Dokumentation). Ein wiederkehrendes Stilmittel ist die Überblendung von der historischen Aufnahme auf die gegenwärtige Einstellung bei der Reise; die Erinnerung kommt gleitend und deswegen nicht weniger schmerzhaft. Es sei wie gestern, sagt einer der Männer zu seinem Sohn: Nicht in der Geschichte, wohl aber in der Person berühren sich Vergangenheit und Gegenwart sehr direkt.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in DIE ZEIT, 02.03.2000 Nr. 10
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