Europas letzter Western

Gelegentlich mag es auch einem Filmkritiker geschehen, dass er in einen unlösbaren Widerstreit der Gefühle gerät. Er möchte ja und nein zugleich sagen. Und dabei will er natürlich alles andere als wischiwaschi erscheinen. Ich habe dazu keine Chance, aber ich will sie nutzen.

Theo Angelopoulos‘ Die Ewigkeit und ein Tag ist ein großer und schöner, ein beinahe makelloser Film, ganz in der Manier dieses Meisters der großen Bilder und der schweren Bewegungen. Es ist ein Film, der nichts mehr mit der Filmgeschichte zu tun haben will und – leider – so von seiner eigenen Vollendung beseelt ist, dass man ihn ebenso hassen kann, wie man ihn lieben möchte. Angelopoulos hat eine Bildsprache gefunden, in der es zwar Platz gibt für große Momente, aber nicht mehr für Überraschungen. Seine Neufassung seines Odysseus- Films als Reise in den Tod und seine bildmächtige Integration der Zumutungen der Wirklichkeit in den Mythos, die er mit wachsender Meisterschaft von Film zu Film unternimmt, haben nichts mit der Selbstwiederholung der kleinen Meister zu tun. Alle großen Regisseurinnen und Regisseure haben nur an dem einen, großen Film gearbeitet. Angelopoulos aber hat ihn in Die Ewigkeit und ein Tag vollendet.

Dann aber will er ihn wieder loswerden. Am Tag vor seinem Tod spürt dieser Künstler mehr Verantwortung als in seinem ganzen Leben. Alexander versucht, das Kind an die Grenze zu bringen, zurück in seine Heimat. Beinahe wäre er damit selber zum Handlanger des Todes geworden, denn diese Heimat gibt es nicht mehr. Der Junge hat gelogen, so wie die Kinder sich in Landschaft im Nebel an das Bild eines Vaters klammern, den es nicht gibt: Da ist niemand mehr, der ihn aufnehmen kann. Und die Grenze im Nebel ist die andere Pforte zum Tod. Die riesigen Zäune und die Hügel dahinter, Menschen, erstarrt in einer vergeblichen Fluchtbewegung, es ist, als wäre Daumier noch einmal herabgestiegen aus dem Bilderhimmel, um die grausame Schönheit der neuen Grenzen zu malen. So also nimmt Alexander den Jungen wieder mit, lässt ihn zum Begleiter seiner letzten Stunden werden, teilt mit ihm den einen Tag, der die Ewigkeit enthalten muss. Im Namen des mythischen, also natürlichen Todes protestiert Alexanders letzter Tag gegen den historischen, also sinnlosen Tod.

Welch poetisch vollendete Bewegungen, etwa jenes Spiel, in dem man Menschen Wörter abkauft. Die Geschichte von Alexanders letztem Tag öffnet sich nicht nur der anderen, der poetischen Zeit, sondern auch dem Mythos der Sprache. Angelopoulos behauptet nichts anderes, als dass die Wirklichkeit den Mythos enthält. Wie es unsere Klassiker getan haben, deren Nachfolger, wie wir wissen, nur wahnsinnig werden konnten. Angelopoulos zeigt Demonstranten, die beiläufig ihre roten Fahnen einrollen, als hätten sie nur einen Ausflug in die Welt der gegenwärtigen, der politischen Zeichen unternommen. Seine metaphysische Erzählung zeigt Griechenland als ein Land, das ein Durchgangsstadium ist für Menschen auf der Flucht. Eine Sehnsucht nach dem, was jenseits der Grenzen liegt, und zugleich die Furcht davor, die Grenze zu überschreiten. Wieder – wie in all seinen Filmen – gibt es die Bilder der Grenze, die sich entwirklicht. Wieder enthält ein Angelopoulos-Film die europäische Kunst-, Philosophie- und Mythengeschichte. Vom Religiösen zu schweigen.

Die Versöhnung von Mythos und Wirklichkeit

Jede Einstellung, jeder Schnittwechsel, die traumhafte Führung der Schauspieler, die Kongenialität des Regisseurs und seines Schauspielers, Bruno Ganz, faltenreich, graubärtig und demütig, die symbiotische Einheit von Angelopoulos und dem Drehbuchautor Tonino Guerra, der in der Philosophie das Drama erkennt – ich könnte stundenlang ehrfürchtig schweigen davor oder, schlechtere Lösung, ein 300-Seiten-Buch darüber schreiben. Und verzweifeln als Aufklärer im Kino.

Ich bin so unglücklich über den Film, wie es offensichtlich auch sein Schöpfer ist. Unsere Erschöpfung hat nichts mit dem Gähnen des jüngeren Publikums bei der Festivalaufführung zu tun, nichts mit dem schnippischen „jetzt ein Tarantino“ der Pressekollegen. Mehr vielleicht mit der Erkenntnis, dass alles gesagt ist. Über den Zusammenhang des Bewegungsbildes mit der Mythologie zum Beispiel. Angelopoulos‘ Film, darin seinem Helden verwandt, versöhnt den Mythos mit der Wirklichkeit. Und stellt ihr keine Fragen mehr. Man bekommt so unendlich viel gezeigt, dass man nicht mehr sehen kann. Die Ewigkeit und ein Tag ist wohl so etwas wie der letzte Western des europäischen Kunstkinos. In Frankreich, so scheint es, beginnt zwischen den Kritikern der Cahiers du Cinema und den Feuilletons der bürgerlichen Zeitungen ein heftiger Streit, von dem ich mir wünsche, er werde sich bei uns wiederholen und fortsetzen. Er geht gar nicht um das Kino von Angelopoulos, sondern um die Zukunft des Films. Die Meister inszenieren ihren Tod. Hollywood frisst sich selber auf. Aber das Kino will leben. Oder?

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in DIE ZEIT, 21.01.1999 Nr. 04