„Wo ist Sepp Maier?“ – „Der holt sich beim Sozialamt seine Stütze ab.“ Joe (Peter Mullan) kutschiert 10 perspektivlose Fußballer zum Feld der Ehre und d.h. zur nächsten Niederlage. Zwar findet sich der Towart doch noch rechtzeitig ein, der nächste Schock aber trifft um so härter. Denn obwohl Joes Mannschaft seit Jahren in ihren inzwischen ziemlich verschlissenen Trikots der deutschen Weltmeister-Elf von 1974 aufläuft, sehen sie sich jetzt einem Gegner im strahlend frischen Dreß des deutschen EM-Teams von 1996 gegenüber. „Was soll das, wir waren doch immer Deutschland!“ Pech, denn Heimrecht zählt, auch für Joes Libero mit der Nummer 5: „Aber ich bin seit einer Ewigkeit Franz Beckenbauer!“ – „Aha. Runter mit dem Trikot, Franz.“

Wenn Joe gerade nicht seine Glasgower Fußballmannschaft wie ein großer Bruder betreut, hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Joe ist arbeitslos, und in gewisser Weise handelt My Name Is Joe genau von diesem Satz, mit dem die Identifikation von Mensch und Beruf besiegelt ist. Der Frage „Was machst Du so?“, die als gängige Gesprächseröffnung den Angesprochenen über dessen Broterwerb erkennbar macht, hält Ken Loachs 14. Kinofilm den eigenen Titel als Antwort entgegen.

Wer Joe ist, erfahren wir, indem wir ihn durch verschiedene Situationen hindurch begleiten. Etwa, als er bei Schwarzarbeit fotografiert wird, sich an dem Schnüffler rächt und dessen Auto mit Farbe beschmiert; als er sich in die Sozialarbeiterin Sarah (Louise Goodall) verliebt; als er, um seinen Spieler Liam (David McKay) vor dem skrupellosen Gangster McGowan zu retten, für McGowan zum Drogenkurier wird und damit seine Beziehung zu Sarah aufs Spiel setzt; und er sich und Sarah belügt und „alles“ falsch macht, weil doch „alles“ gutgehen soll. Wer Joe ist, erfahren wir aber auch ganz zu Anfang des Films von Joe selbst: „Ich heiße Joe und bin Alkoholiker.“

Es gehört zur Komplexität der Antwort, die My Name Is Joe bildet, daß die Definition „arbeitslos“ gleichzeitig alles und nichts damit zu tun hat. Wer Joe ist, das heißt: was Joe erlebt, hängt mit vielen Faktoren zusammen, von denen die Frage, auf welcher Seite der Straße man aufgewachsen ist oder jetzt lebt, nur eine wichtige unter vielen ist. Which Side Are You On lautet der Titel (nach einem englischen Arbeiterlied) von Loachs Dokumentation eines Bergarbeiterstreiks. Diese Frage wiederholt jeder Film von Ken Loach mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Schwerpunkten. Sie führt zu einer Anteilnahme, die sich nicht nur auf konkrete politische Entscheidungen bezieht, sondern, zumindest was Loachs Spielfilme anbetrifft, in erster Linie als emotionale Bindung zu den Charakteren funktioniert. Auch Joe und Sarah gewinnen unsere Nähe, indem sie beide mit unterschiedlichen Bedingungen vor fast unlösbaren Entscheidungen stehen: richtig oder falsch, für oder gegen den/die andere(n)? Politik, Intimität und Liebe gehören immer und auch in den Filmen von Ken Loach zusammen.

Joe will mit Sarah zusammensein und läßt sich für Liam noch einmal mit McGowan ein, der früher zu seinem Säufer-Alltag gehörte. Weil er Sarah liebt und glaubt, sie vor der Wahrheit beschützen zu müssen, verheimlicht er sein Geschäft, während Sarah, die ein Kind von Joe erwartet, nichts anderes als Ehrlichkeit und Vertrauen will. Als Sarah die Wahrheit erfährt, verläßt sie ihn. Beide haben recht, beide verhalten sich idiotisch, beide können nicht anders und beide haben ebensowenig und ebensoviel Schuld daran. Eben darin liegt jene Schönheit, die sich hinter der Bezeichnung „Realismus“ verbirgt, mit der Loachs Filme regelmäßig charakterisiert werden. Wie schon bei Riff Raff, Raining Stones, Ladybird, Ladybird oder Land and Freedom hat der Eindruck des Realistischen in My Name Is Joe möglicherweise vor allem mit der in sich stimmigen Inszenierung einer Komplexität zu tun, die uns in unserem Leben bestens vertraut ist. Mit den Mitteln der Komödie, des Dramas und des Melodrams stehen diese Erzählungen somit eher Hollywood als dem Dokumentarfilm nahe, und aus diesem Grunde wird die großartige Leistung der Schauspieler dieser Filme so wichtig. Darum ist My Name Is Joe ebenso ein Ken Loach- wie ein Peter-Mullan-Film.

Autor:Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 1/99