Schuss und Gegenschuss

Der Regisseur Clint Eastwood kann nach seinen letzten Erfolgen bei der Kritik und beim Publikum, nach 50 Filmen als Schauspieler und 25 als Regisseur, etwas unternehmen, was man kaum einem anderen gestattet oder verziehen hätte: ein kritisches Bild der amerikanischen Militäraktionen im Pazifik während des Zweiten Weltkrieges in dem Film „Flags Of Our Fathers“, und als Pendant dazu eine Verbeugung vor dem japanischen Gegner, der in so vielen amerikanischen Filmen zuvor als brüllender Sadist und fanatischer Selbstmordflieger das wohlfeile Feindbild abgeben musste. Tatsächlich hat sich die Rechte auch schon beschwert, Eastwood, der einstige Heros von law & order, falle der Kampfmoral der Truppe in den Rücken und betätige sich gar als cineastischer „Vaterlandsverräter“. Aber nein! Beide Filme sind viel mehr von Trauer als von Anklage geprägt, von Respekt mehr als von Zorn.

Der erste Film geht von einem Bild aus: Am 19. Februar 1945 landeten amerikanische Truppen auf der Insel Iwo Jima. Erst nach langen Gefechten und vielen Opfern gelang es den Angreifern, den erbitterten Widerstand der Japaner zu brechen. Nach dem Sieg hissten Marineinfanteristen auf einer Anhöhe die amerikanische Fahne. Die Fotografie dieses symbolischen Aktes gehört zu den bekanntesten Darstellungen des Krieges; die daran beteiligten Soldaten wurden daheim als Helden geehrt, eine „Ikone“ des Patriotismus war erschaffen. In seinem Film „Flags Of Our Fathers“ geht Eastwood dem Schicksal dreier dieser Männern nach; er zeigt Schicksale im Krieg, und zugleich zeigt er die Produktion einer Legende, den Missbrauch der Menschen für die Propaganda; und ihr Scheitern an ihrem falschen Ruhm. Dafür steht vor allem der „native american“ Ira Hayes (Bob Dylan hat vor Jahren ein Lied über ihn geschrieben), der an den schrecklichen Erlebnissen des wahren Krieges und an dem Rummel um die Helden des großen Bildes zum Krieg zerbricht. Der „drunken Indian“, der sein Grauen im Alkohol zu ertränken versucht, ist nur das augenscheinlichste jener Opfer des Krieges, die die feindlichen Angriffe überlebten, aber nicht die Ignoranz der eigenen Gesellschaft. Am Ende des Films wissen wir, wie verlogen das Bild war, und wie gleichgültig in Wahrheit die Politik und die Gesellschaft gegenüber den an Körper und Seele verwundeten Heimkehrern sich verhält. Parallelen zum Krieg in Irak und zu dem, wie die amerikanische Gesellschaft hier mit den Veteranen umgeht, sind nicht zu leugnen.

Wenn Steven Spielberg in seinem nicht minder berühmtem „Der Soldat James Ryan“ sich vom anfänglichen Grauen der Invasion zu einer Fabel vorarbeitet, die am Ende schließlich doch zum Heldenlied wird, verfährt Eastwood gerade umgekehrt: Er sieht hinter die heroische Inszenierung. Und da gibt es nichts anderes als leidende Menschen.

Zeitgleich mit „Flags Of Our Fathers“ drehte Eastwood ein Gegenstück: „Letters From Iwo Jima“ beschreibt das Schicksal der japanischen Soldaten, die von einer unbarmherzigen Militärmaschinerie und einem unmenschlichen Code zum Opfer und zum Tod getrieben werden, viele von ihnen junge Männer, die nichts sehnlicher wünschen als noch einmal nachhause zu kommen, um ihre Frauen und ihre Kinder zu sehen.

Beide Filme verhalten sich wie Spiegel zueinander. In „Flags Of Our Fathers“ bleibt für die amerikanischen Soldaten der Feind nahezu unsichtbar, in „Letters From Iwo Jima“ erhält er ein Gesicht. Selbst die Farbdramaturgie beider Filme verhält sich in einer Spiegel-Komposition: In „Flags Of Our Fathers“ ist die Gegenwart in Farbe und die Erinnerung in grauen Tönen; umgekehrt ist „Letters From Iwo Jima“ in schwarz/weiß (genauer gesagt: entfärbt) gezeigt, die Erinnerungen an kurze Augenblicke des Glücks daheim in lebendigen Farben. Es ist ein Film für die Überlebenden und einer für die Toten, eine Form des filmischen Gedankens, die nicht zwischen den eigenen und den feindlichen Soldaten die Linie zieht, sondern zwischen individuellen Taten. Einige Szenen aus dem einen Film finden im anderen ihre Auflösung; die schrecklichen Taten, die man in beiden Filmen die Soldaten begehen sieht, erhalten im jeweils anderen ihre Vor- und Nachgeschichten, und ebenso verhält es sich mit den Momenten von Großmut, Respekt und Mitleid. „Flags Of Our Fathers“ ist der technologischere Teil des Kriegsbildes; in „Letters From Iwo Jima“ sieht man die hoffnungslos unterlegenen Japaner, die sich in den Berg graben wie in ihr eigenes Grab: Sie alle wissen, dass sie die Insel nicht lebend verlassen werden. Eastwood verbirgt keinen Augenblick das Ausmaß des Schreckens, wie es ist, von einem Bajonett durchbohrt zu werden, wie es ist, wenn ein Flammenwerfer Menschen erfasst, wie es ist, tagelang Finsternis, Hunger, Lärm und Angst ausgesetzt zu sein.

Bei alledem bleibt der Grundton der Filme distanziert; die Gefühle, die diese Bilder auslösen, sind stark genug, dass der Regisseur sie nicht noch durch filmische Mittel betonen muss. Es kommt ihm darauf an, nicht zwischen dem bedeutenden und dem unbedeutenden Leben zu unterscheiden wie der traditionelle Kriegsfilm, wo erst einmal Statisten als Kanonenfutter und dann Kleindarsteller als notwendige „Opfer“ herhalten müssen, um Leben und Tod der wahren Helden herauszustreichen. In Eastwoods Filmen ist jeder Mensch wichtig, und jeder Tod schrecklich, das allein erhebt die beiden Filme in den Rang humanistischer Kunstwerke. (Vom „Antikriegsfilm“ will ich nicht reden, weil kein Mensch weiß, was das sein könnte.)

Nachdem man Eastwood bei Filmen wie „Firefox“ oder „Heartbreak Ridge“ vorgeworfen hatte, allzu sorglos Männerrituale und Kriegslegenden zu bedienen (man kann das, wenn man insbesondere den zweiten Film ansieht, auch anders auffassen), ist hier der bittere Ton unüberhörbar. Für Eastwood gibt es in diesen Filmen keine Helden mehr; der Preis des imaginären Heldentums für die Propaganda dagegen ist hoch. 1948 fälschte John Wayne in dem Film „Sands Of Iwo Jima“ das ohnehin falsche Flaggen-Bild noch einmal (bemerkenswerterweise mit der „echten“ Fahne von Iwo Jima); sechzig Jahre später erhebt Clint Eastwood, der lange Zeit als legitimer Nachfolger dieses amerikanischen Superhelden galt, Einspruch im Namen der Opfer. Das ist auch ein Modell. Hoffen wir, dass es nicht mehr so lange dauert, bis die neuen falschen Kriegsbilder mit den besseren Bildern widerlegt werden.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht im filmspiegel 06/2007