Außen. Nacht.

Andreas Dresens „Nachtgestalten“ machen Hoffnung auf ein anderes deutsches Kino

Herrje, welche Klischees! Die Geschichte von dem gestressten Büromenschen, der auf dem Flugplatz eine Geschäftspartnerin aus Japan abholen soll und dabei einen kleinen Jungen aus Angola trifft, den er zuerst verdächtigt, seine Geldbörse gestohlen zu haben, um dann eher widerwillig zu seinem Beschützer in der kalten Fremde zu werden. Die Geschichte des Mannes, der den kleinen „Scheinasylanten“ abholen soll und dabei immerhin eine hilfsbereite Seele findet, eine Würstchenverkäuferin aus dem Osten, der die Fremdheit nicht weniger im Gesicht geschrieben steht. Die Geschichte des jungen Obdachlosenpaares, das eine Nacht in einem Hotel mit Dusche und Frühstück verbringen will, was immer wieder von Polizisten, U-Bahnkontrolleuren, Taxifahrern und Conciergen mit christlichen Grundsätzen verhindert wird. Die Geschichte vom naiven Mann vom Land, der in der Stadt Berlin etwas erleben möchte und auf ein heroinsüchtiges Mädchen auf dem Babystrich trifft. Die Rose, die er ihr in einem unangemessen feinen Lokal schenkt, sein vergeblicher Versuch, sie von der Spritze abzuhalten, ein kurzer Traum von einem anderen Leben, bis dann doch alles damit enden muss, dass sie ihm sein Geld klaut. Das alles verbunden miteinander in Robert Altmans Manier: die Geschichten berühren einander, ohne sich dramaturgisch ineinander aufzulösen. Dass alles miteinander verbunden ist und nichts einander erklärt, das zeigt diese Erzählweise.

Bilder, die zugleich über sich und die Welt nachdenken

Andreas Dresen hat seine Ausbildung noch zu den Defa-Zeiten begonnen, hat in seinen Kino- und Fernsehfilmen von dem erzählt, was der Wandel mit den Menschen anstellt. Er ist deswegen ganz gewiss kein Regisseur für Ossi-Themen. Aber etwas anderes ist ihm gelungen, was Nachtgestalten vielleicht zu einem der wichtigsten Filme dieser Jahre machen wird. Er hat etwas von einem humanistischen Realismus für unsere Kinematografie gerettet, für den es im Westen kaum eine Chance gab. Sich Menschen genauer anzuschauen, Personen und Schauplätzen zu vertrauen, dazu war keine Zeit. Im westdeutschen Film gab es verlassene Menschen auf dem Land und heftige Typen in der Stadt.

Die Zärtlichkeit des Regisseurs erschöpft sich nicht in der Liebe zu seinen Figuren und in der Schauspielerführung, der man anmerkt, wie da an einem gemeinschaftlichen Projekt gearbeitet wurde, wie jeder seine Rolle entfalten konnte, ohne den anderen die Luft zu nehmen. Michael Gwisdek, der genau die Grenze zwischen der Karikatur eines Manikers und verzweifelter Selbsterkenntnis trifft, Dominique Horwitz und Meriam Abbas, die nie der Versuchung erliegen, ihren Losern einen Heiligenschein zu verpassen, Susanne Bormann, die dem „Schulmädchen vom Bahnhof Zoo“-Bild widersteht. Jede einzelne Figur, das ist das Geheimnis dieser Erzählweise, wäre stark genug, ihren eigenen Film zu tragen; es gibt keine Trennung von Stars und supporting actors. Und noch für solche Charaktere, die nur kurze Auftritte haben, verwendet Dresen so viel Sorgfalt, als müssten sie jederzeit in der Lage sein, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Es ist auch ein Film, der sehr genau mit Bildern, mit Licht und Farbe umgeht – ein Rot zieht sich durch die nachtgrauen Stadtaufnahmen, das immer dort aufscheint, wo ein Weg zu etwas anderem offen scheint, in der Jacke der obdachlosen Hanna, in der Rose. Und immer wird diese Signalfarbe der Hoffnung auch wieder verloren, vergessen oder zerstört. Wenn wir nicht längst vergessen hätten, darauf zu achten, könnten wir in Nachtgestalten einen Film sehen, bei dem sich die Beteiligten in jeder Einstellung, in jeder Kostümentscheidung, bei jedem Schnitt bemüht haben, nicht zur einfachsten, sondern zur richtigen Form zu gelangen.

Nachtgestalten handelt vor allem von den Träumen, die sich nicht erfüllen, aber allein, weil sie geträumt werden, das Recht der Menschen einfordern. Jochen, der trottelige Mann vom Land, bekommt weder sein Sex-abenteuer, noch erfüllt sich seine Sehnsucht, das Geschäftliche in Pattys Beziehung könnte zur Zuneigung werden – keine pretty woman in Berlin. Hanna und Viktor, die endlich ein Zimmer für die Nacht gefunden haben, die sie dann doch mit einer Wodkaflasche zubringen. Endlich eine Dusche. Aber das Wasser bleibt kalt. Zur Würde dieser Menschen gehört es, dass sie nicht einfach nur Opfer einer kalten Gesellschaft sind, sie leiden auch an sich selbst. Zwanghaft wiederholen sie, was sie auf die Nachtseite des Lebens gebracht hat. Aber es hat das kleine Glück des Innehaltens gegeben; ein Blick in den Spiegel, das Erwachen in einem richtigen Bett, einen Augenblick der Dankbarkeit.

Gewiss leidet Nachtgestalten noch ein wenig unter einer deutschen Krankheit. Der Film erklärt immer ein bisschen zuviel, lässt seine Personen zu oft sagen, was wir auch sehen könnten. Beinahe mathematisch austariert sind die Gesten der Hoffnung und der unerwarteten Zuwendung. Das Komische, das Anrührende und das Verzweifelte halten einander so sehr die Balance, dass man keinen Augenblick fürchten muss, man könne auch abstürzen in diesem Film. In seiner Lust an der Bewegung und seiner Zuneigung zu den Charakteren vergisst der Film gelegentlich den Blick auf das Detail. Es fällt ihm selber schwer zu finden, was seine Figuren so sehr ersehnen mögen, das Innehalten. Es bleibt wenig Geheimnis um Schauplätze und Personen. Am Ende muss sogar der stumme Feliz sprechen. Als wären in dieser Nacht nicht schon genug kleine Wunder geschehen.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Die Zeit 33/ 1999