Terror & Mythos

Bei Fassbinder wird sie „das geisteskranke Märchen“ genannt: die Geschichte der RAF und der bleiernen Jahre. Kann eine Ausstellung zu ihrer Aufklärung beitragen?

Was wir von der Geschichte wissen können, ist wenig. Nie gehen Bilder, Erzählungen und Begriffe ineinander auf: jene Medien des Wissens und seiner Vermittlung, ohne die alles Rätsel bleiben muss. Eine besondere Art solcher Vermittlung ist der Mythos, eine Bilder-Erzählung, die Regeln des Begrifflichen und Historischen außer Acht lässt, aber auch eigene Regeln aufstellt. Auf die Frage: Was war, und warum war es so? antwortet der Mythos: Es war, ist und wird sein, weil es immer war und immer sein wird. Der Mythos transportiert die Bilder aus der Zeit in die Ewigkeit und von der Vernunft zur Ästhetik. Er muss faszinieren, wo dem Verstehen Grenzen gesetzt sind. Kein Wunder also, dass sich Aufklärung und Mythos aneinander blutig reiben und dennoch wissen, dass sie ohne einander nur monströses Denken produzierten.

Was wir von Geschichte wissen können, ist so wenig, nicht nur, weil es so wenig Menschen gibt, die das Einander-Umschlingen von historischem Text und mythischem Bild nachbilden können. Es ist so wenig, weil die Geschichte aus dem Ineinander von Lust und Macht geschrieben wird. So begrenzt sich, was man wissen will und wissen darf. Historisches Bewusstsein wird immer wieder vom mythischen Denken aufgefressen, zugleich aber sperrt sich einmal geschriebene Geschichte mit allen Mitteln gegen die subversive Kraft des Mythos. Die aktuelle Debatte um die geplante Berliner RAF-Ausstellung lässt sich deshalb auch als Symptom unserer Erinnerungskrankheit lesen.

Eine Aufklärung, die den Mythos nichts als hasst, verdient ihren Namen nicht. Aufklärung sucht den Raum der Begegnung, wo Texte und Bilder aneinander in Bewegung geraten. Im Museum, im Kino beispielsweise. Was wir im Streit um die Ausstellung von der Geschichte erfahren, ist (noch) nichts über die bleiernen Siebzigerjahre und das damalige Aufbrechen sozialer Gewalt. Es gibt kein gesellschaftlich anerkanntes Bild dafür, nur Bildfragmente, die schneller Mythos werden wollen, als sie „gelesen“ werden konnten. Allein die Ankündigung einer Ausstellung mit dem Titel „Mythos RAF“ löst, rationalisiert in der Empörung über einige angebliche Sätze aus dem Konzept, bei manchen ein Art hysterischen Anfall aus. Dieser Anfall wiederum provoziert in den Medien ein kulturelles Rumoren, das Aufklärung als „Debatte“ immerhin parodiert, die Hysterie seines Anlasses als Symptom indes nicht mehr vollständig los wird. Kurz: Bevor diese Gesellschaft überhaupt dazu bereit ist, Bilder aus einem hochproblematischen Kapitel der eigenen Geschichte zu reflektieren, produziert sie aktuelle Bilder von sich selbst. Ein Vorgang, der Anzeichen einer radikalen Verdrängung aufweist.

Problematisch ist die semiotische und moralische Falle, die der Titel beinhaltet. Das beginnt damit, dass wir uns einen schludrigen Umgang mit dem Begriff „Mythos“ angewöhnt haben. Mal ist nichts weiter als eine Legende damit gemeint, die sich nicht um die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion schert. Mal meinen wir mit Mythos das radikale, unaufgeklärte Bild, das sich fetischhaft verbreitet. Wie wäre es aber aufzuklären? Indem man ihm seine Geschichte doppelt zurückgibt: die Geschichte, die das mythische Bild ausgelöst hat, und die Geschichte der eigenen Produktion. Damit beginnt es erst: Der Mythos ist nicht nur Abbild und Aussage, sondern auch Praxis, nicht nur, was er sagt, sondern auch was er anrichtet. Er hat viele Ursachen und „Beteiligte“, aber keine Autoren.

Das Problem ist schon in der Geschichte der RAF selbst angelegt. Eine Bewegung, die sich partout in den Text der Geschichte einschreiben wollte, produziert mit Gewalt Bilder, durch die der Text vollkommen leer wird. Umgekehrt bricht eine todkranke Bildersucht aus den Selbstbeschränkungen des historischen Textes aus. Der gerechte Gesetzlose, der nicht revolutionäres Subjekt werden kann – man kennt das aus dem Kino – will Mythos, will Bild werden. Dem Bekennerschreiben zur terroristischen Tat gelingt es nicht mehr, zum klaren Text zurückzukehren. Alles in diesem Untergrund, der auch ein Wahrnehmungsraum ist, spricht vom Umkippen der privaten Psychose in die öffentliche Aktion, der Befreiung in die Gefangenschaft, des Textes ins Bild – und umgekehrt. Vielleicht wurde da wirklich ein „geisteskrankes Märchen“ geschrieben, wie es in Fassbinders Film „Die dritte Generation“ heißt, vielleicht aber auch das Märchen einer Geisteskrankheit. Das erklärt noch wenig. Aber ohne den Umweg über den Mythos ist nichts davon zu verstehen.

Schönheit der Verlierer

Ein Indiz ist vielleicht das Geflecht persönlicher Kino-Konnektionen. Man vermutete Holger Meins als Regisseur des Films „Anleitung zur Herstellung eines Molotow-Cocktails“, Ulrike Meinhofs Film „Bambule“ will selber schon auf die Tat weisen, Schauspieler waren Christoph Wackernagel und Horst Söhnlein. Und in Fassbinders „Dritter Generation“ spricht der Terroristenführer am liebsten über Bresson und Tarkowskij – Eddie Constantine stellt ihn dar.

Paradoxerweise war die mythische Gemeinsamkeit zwischen Film und Wirklichkeit das Scheitern. Eine ganze Reihe von Arbeiten des Neuen Deutschen Films handelte ja von verzweifelten Außenseitern, die unter dem Druck der Verhältnisse zur Waffe griffen, in den Fake-Gangsterfilmen, den linken Heimatfilmen um Wilderer wie Mathias Kneissl und in den Straßenfilmen mit den schönen, geborenen Verlierern. In einem Punkt unterscheiden sich diese deutschen Verlierer von den universalen Verlierer-Mythen der populären Kultur: Die Heldinnen und Helden scheinen auf der Flucht vor der Person ins Bild. Anders als die klassischen Western-Helden oder die Helden des film noir müssen sie sich die Bühne für ihr Scheitern erst suchen. So wie man den internationalen Terrorismus der Gegenwart nicht verstehen kann ohne das Fernsehen, kann man den Terrorismus der bleiernen Jahre nicht ohne das Kino verstehen.

Wut auf die Sympathisanten

Erst jetzt, langsam und ratlos, beginnen die Bilder wieder zu leben. Es sind zunächst die biografischen Bilder der Terroristen, die etwas anderes als reinen Hass oder reine Verzweiflung ermöglichen. Noch nie sind so viele Biografien über diese Zeit erschienen, auch im Kino haben die dunklen Metaphern und Gesellschaftsbilder den Filmbiografien Platz gemacht. Allenfalls die Vorsichtigkeit dieser Erzählungen und Bilder fällt auf, in Filmen wie Volker Schlöndorffs „Stille nach dem Schuss“. Die Häufung solcher Filme und Bücher lässt allerdings auf die Bereitschaft schließen, das Kapitel des deutschen Terrorismus einer Relektüre zu unterziehen. Die Spaltung indes bleibt bestehen. Andres Veiels Dokumentarfilm „Black Box BRD“ führt so sehr in die Abgründe von realen Menschen, wie Christopher Roths „Baader“ über den Rand der Fiktion hinaus den Mythos als Aura reinterpretiert. Die Zeit scheint reif, diese Erzählungen einer nächsten Generation zu vermitteln. Das schmerzt immer, und gelogen wird dabei sowieso. Warum aber die hysterische Reaktion?

Schon die damalige Reaktion trug ja hysterische Züge: Man erinnere sich nur an die wütende Suche nach den „Sympathisanten“. Es ging um eine Umformung, die die Spaltung beschleunigen und dramatisieren musste: die einen drinnen in der guten Gesellschaft, die anderen verfolgt bis zum billigend in Kauf genommenen Tod. Eine radikale, böse Einsamkeit auf der einen Seite, eine fundamentale, nicht weniger böse Regression auf der anderen. Das „geisteskranke Märchen“ erzählt nicht von bösen Tätern in einer guten Gesellschaft, es erzählt von verrückten, bösen Menschen in einer bösen, verrückten Gesellschaft. Der „Mythos RAF“ weiß von der Gesellschaft und dem Staat mehr, als dessen Vertretern lieb sein kann.

Er beinhaltet also vieles, was einen aufklärerischen Gang durch ihn gefährlich erscheinen lässt. Insofern ist die Aufgeregtheit der Debatte verständlich. Denn dieser Mythos bedeutet auch einen Wendepunkt der Sozial- und Demokratiegeschichte. Wer hat ihn produziert, wer ihn benutzt? Hinzu kommt, dass der Mythos stets mehrfach lesbar ist: Aufklärung kann dem Mythos eine Reihe von Erkenntnissen abverlangen, Eindeutigkeit gehört nicht dazu. Um einen Mythos auszustellen, muss man sehr viel verstehen von Bildern und Blicken.

Ein Fazit: Die Ausstellung muss sein, eben weil sie unseren trügerischen inneren Frieden gefährden kann. Kritisiert darf und muss sie werden, das ist die Spielregel der Aufklärung. So schwierig Geschichtsschreibung mit und im Mythos ist, wir kommen darum nicht herum. Und wir kommen nicht darum herum, früher oder später auch die Geschichte der Krise angesichts des jetzigen internationalen Terrorismus zu schreiben. Wiederholt sich nicht vieles, nun in globalisiertem Maßstab? Der Impuls der Erinnerung entwickelt sich gewiss nicht zufällig in einer Empfindung der Krise, die ja nicht nur eine ökonomische ist, sondern vor allem eine moralische. Und wo begann die prekäre Komplizenschaft zwischen Terror und Medien, wenn nicht in den bleiernen Jahren in Europa?

Es ist das Wesen des Mythos, dass jede Aussage, die man ihm entnehmen kann, immer zugleich eine Aussage über die Entnehmenden ist. Nicht dem „Mythos RAF“ gilt die Hysterie. Sondern unserer Menschenferne vor der eigenen Geschichte.

Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 22.08.2003