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Frauentrauer

„Die Tribute von Panem“ erzählen vom Versuch, in Zeiten der Postdemokratie zur Demokratin zu werden

Ihr Name ist Katniss. Das hat mit einer bestimmten Pflanze zu tun, von deren Wurzeln man sich im Bedarfsfall ernähren kann, mag aber auch auf eine gewisse Katzenhaftigkeit ihres Wesens hinweisen. Gleich der Anfang der Teenagerdystopie um THE HUNGER GAMES, deutsch DIE TRIBUTE VON PANEM, handelt von einer Katze, die die Heldin für ihre kleine Schwester rettet. Katniss geht für sie und die Mutter auf die illegale Jagd in der Wildnis, die gleich hinter dem Garten beginnt. Die Zeiten sind übel, Freiheit und Demokratie zerbröseln, stattdessen herrschen supranationale Medienkonzerne, ein schlimmer Präsident und eben: Hunger.

Katniss ist die Auserwählte. Zuerst wird sie als Teilnehmerin einer Mischung aus Castingshow und Millionenspiel bestimmt, in der mit anderen Teenagern aus den anderen „Distrikten“ ums Überleben gekämpft werden muss (wozu auch die Beliebtheit beim Publikum gehört). Und dann wird sie, wieder widerwillig, zur Symbolfigur eines Aufstands werden, dem am Ende der Sieg zufallen muss, wenn vielleicht auch nicht so strahlend wie erhofft.

Teenagerdystopien erfreuen sich derzeit hoher Beliebtheit. Ähnliche Endzeitfantasien finden sich in Filmen wie DIVERGENT – DIE BESTIMMUNG, THE GIVER – HÜTER DER ERINNERUNG oder MAZE RUNNER. Sie liefern ein stimmiges Bild der Welt, in die die Kids hineinwachsen sollen, ohne darin zu Hause zu sein. Macht, Kapital und Medien drehen leer, weder Staat noch Gesellschaft noch Familie geben Halt. Was tun, wenn es nicht einmal zu Loyalität und Solidarität unter seinesgleichen reicht?

Andrerseits bieten Dystopien einen perfekten Rahmen für Mythen- und Bildersampling. Nichts, was in den drei Büchern und bald vier Filmen vorkommt (wie mittlerweile üblich wird der letzte Teil einer erfolgreichen Trilogie in zwei Filme aufgeteilt – der erste dritte Teil startet diese Woche), ist nicht woanders schon vorgekommen. Trotzdem macht genau die Mischung, in der die Autorin Suzanne Collins ihre weibliche Biografie mit Weltuntergang präsentiert, die Tribute von Panem zum erfolgreichen Merchandising. Die Bücher verkauften sich bis zum Jahr 2014 mehr als 90 Millionen Mal. Die erste Verfilmung 2012 spielte 691 Millionen, der zweite Teil beinahe 900 Millionen Dollar ein.

Erste Person Präsens

Damit nicht genug, sollen DIE TRIBUTE VON PANEM dringlich mehr als Unterhaltung für Teenager sein. Zu den bemerkenswerteren Stücken in der Vermarktungskette der Trilogie gehört der Band The Hunger Games and Philosophy, in dem man etwas über die darwinistische Grundierung und die Anwendung der Spieltheorie erfahren kann. Die Tribute von Panem, so scheint’s, gehören zu den Welterklärungen einer Generation, der die digitalen Verheißungen schon abhandengekommen sind. Auf die glückliche Selbstaufklärung des magischen Familienromans in Harry Potter folgt nicht nur ein gender switch, sondern auch ein grundsätzlicher Diskurswechsel. Die Geschichte spielt im Untergang eines Empires, in dem man das römische ebenso sehen kann wie das US-amerikanische. Katniss’ Revolte in dieser Perversion von Macht, konzentriert im „Kapitol“, ist idealistisch begründet. Sie will nicht länger doppelte Sklavin sein – die der Mächtigen und die einer manischen Zuschauermasse: „Warum hüpfe ich herum wie ein dressierter Hund, bemüht, Leuten zu gefallen, die ich hasse?“

Die Geschichte der Auserwählten wird im Buch in der ersten Person Präsens erzählt: das mehr oder weniger authentische Subjekt in einer Post-Subjekt-Welt. Alle Figuren außer Katniss, einschließlich ihres love interest Peeta, bleiben vage Maskenwesen. Wenn man Die Tribute von Panem gegen den Strich liest, käme vielleicht eine Reise in den Kopf einer armen Autistin heraus, die nie über den Verlust des Vaters hinweggekommen ist. Und das bürgerliche Happy End im Epilog ist kein großer Aufbruch: „Meine Kinder, die nicht wissen, dass sie auf einem Friedhof spielen. Peeta sagt, dass alles gut wird. Wir haben uns. Und das Buch. Wir können es ihnen irgendwie so begreiflich machen, dass sie gestärkt daraus hervorgehen. Eines Tages jedoch werde ich ihnen von meinen Albträumen erzählen müssen. Woher sie kommen. Warum sie nie mehr ganz verschwinden werden. Ich werde ihnen erzählen, wie ich es überlebe. Ich werde ihnen sagen, dass es mir an schlechten Tagen morgens unmöglich erscheint, mich an irgendetwas zu erfreuen, weil die Angst, es zu verlieren, übermächtig ist.“

Keine Befreiungsheldin, eher eine Person, die gelernt hat, mit ihren Traumata und Psychosen fertig zu werden, etwa durch Listen, die sie mit „Akten der Güte“ füllt, in einer Ehe mit einem Mann, zu dem die Liebe abgekühlt ist, und mit zwei Kindern, die mehr als Aufgabe denn als Glück empfunden werden. Eine Fantasie aufs (vorauseilende) Depressionsmanagement. Katniss hat das Imperium bezwungen, ihre eigene Entfremdung nicht.

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Zum Erfolg der Trilogie trägt neben der Fülle der Motive, Anspielungen und verhandelten Ideen, neben den klassischen Actionelementen und der Heldinnenidentifikation bei, dass es sich um eine magische Autobiografie der Autorin handelt. Von einer Kindheit in Armut (einschließlich des Zwangs zum Wildern), den Verlust des geliebten Vaters (im Vietnamkrieg), dem Zynismus der Entertainmentmaschinen (dem Fernsehen vor allem, wo sie Drehbücher für Kinderserien schrieb), dem brutalen Konkurrenzkampf und einer Liebesgeschichte mit schweren Krisen – der Lebenstraum von Suzanne Collins. DIE TRIBUTE VON PANEM handeln von der US-amerikanischen Frau aus dem zerfallenden Mittelstand, die anders als ihre männlichen Pendants nicht mit blinder Wut auf den Zerfall der Hoffnungen und Werte reagieren kann. Immer geht es bei Katniss darum, Verantwortung zu übernehmen. Für die Schwester, für den Mann, Peeta, der nicht zufällig einmal „hohl“ klingt, für die Gesellschaft. Für sie selbst bleibt nicht viel.

Theseus oder Spartakus

Was die Filme anbelangt, ist die Hauptdarstellerin, Jennifer Lawrence, eine Idealbesetzung. Etwas in ihr, bei aller klassischen Befreiung vom Opfer zur Heldin, wird immer verschlossen bleiben. Sie sieht nicht aus wie jemand, der einmal richtig glücklich sein könnte. Das hat eine Vorgeschichte in früheren Filmen, stets ist sie Vertreterin der Generation Y, die nie etwas anderes kennengelernt hat als Krise. Das Selbstmitleid der Generation X führt nicht weiter, man muss sich verhalten, sogar richtig verhalten, auch wenn die Seele schon einen irreparablen Knacks hat. Selbst in Highschoolklamotten hat Jennifer Lawrence schon etwas von einer leidenden Vorstadtfrau in sich.

Eines der vielen Muster, die in DIE TRIBUTE VON PANEM aufgefüllt werden, ist die Geschichte von Theseus und dem Kampf gegen den Minotaurus. Nach dem Bekenntnis von Suzanne Collins ist Theseus neben Spartakus das Vorbild ihrer Heldin, die nicht nur betont maskuline Züge aufweist, sondern sich als Erfüllung und Ersatz des verschwundenen Vaters sieht, von dem sie ihre Waffe, Pfeil und Bogen des Rebellen im tiefen Wald, erhalten hat. Wie Katniss für ihre Schwester nahm Theseus den Platz eines der als Jünglings- beziehungsweise Jungfrauenopfer auserkorenen Griechen ein und bezwang im Labyrinth den Minotaurus, um die „Tribute“ zu retten.

Das Ungeheuer in DIE TRIBUTE VON PANEM wird von einer postdemokratischen Einheit von Oligarchie und Unterschicht gebildet. Gegen dieses Ungeheuer steht die Heldin im Namen von menschlicher Würde und bürgerlicher Freiheit auf. Das wäre die linke Lesart der Geschichte von Katniss. Sie tut sich, nach anfänglichem Widerstand, mit der alternativen politischen Führerin Alma Coin zusammen (die Besetzung mit Julianne Moore ist auch ein Coup) und hat damit, neben ihrer süßen Schwester ein weiteres weibliches Rollenmodell als Maßstab. So wie sie Demokratin werden will in postdemokratischen Zeiten, so will sie Frau werden in postfeministischen Zeiten. Katniss’ Charisma schließlich, das für den Ausbruch der Revolte und die Umwälzung aller Werte benutzt werden soll (oder für die Restauration, wie man es nimmt), mag sich selbst nicht annehmen. Am Ende backt Peeta Brot, während Katniss wieder auf die Jagd geht. Die einzige Erinnerung an die alte Katniss ist die Katze, der sie am Ende noch einmal begegnet. Sie verscheucht sie. Katniss lebt statt im Schatten des Vaters in dem der Schwester, übernimmt die offensichtlich ungeliebte Funktion von Ehefrau und Mutter.

Da scheint eine reaktionäre Lesart von DIE TRIBUTE VON PANEM auf. Freiheit wird als kantische Konstitution wiederhergestellt, von einem revolutionären Eros, von Utopie ist nicht die Rede. Daher kann DIE TRIBUTE VON PANEM auch als calvinistische Sonntagsschullektüre durchgehen. Und trotz allen Aufwands und aller Opulenz verbergen die Filme nicht, dass es sich bei DIE TRIBUTE VON PANEM um Erbauungsliteratur handelt – für all die Katniss-Frauen, die verzweifelt ihre Einkaufswagen durch die Supermärkte schieben, die Kinder auf dem Rücksitz des Minivans zu beruhigen versuchen und nicht wissen, ob sie sich auf das abendliche Wiedersehen mit dem Ehemann freuen sollen oder nicht.

Georg Seeßlen

Text zuerst erschienen: freitag.de 19.11.2014

Foto: Studiocanal