LEHRSTÜCK MIT SEEIGEL

Wer ist in allem der Beste? Athina Rachel Tsangaris große Film-Groteske „Chevalier“ über Männerspiele, Griechenland und eine von Ranking und Rating besessene Kultur.

 

Schon die ersten Einstellungen dieses Films sind ziemlich überwältigend. Das Meer. Die Felsenküste. Kleine schwarze Wesen tauchen auf. Es sind Männer in Taucheranzügen. Beute haben sie gemacht dort unten, wie die Tintenfische, die sie durch endlose Schläge gegen den Stein töten. So beginnt mit den Urbildern des Mythos eine grimmige moderne Fabel.

Für so etwas ist derzeit das neue griechische Kino zuständig. Das besteht, genau besehen, nur aus einer Handvoll Leute, die gelernt haben, mit Kooperation und List den ökonomischen und organisatorischen Restriktionen zu begegnen. Und die Regisseurin Athina Rachel Tsangari ist nicht nur mit ihren eigenen Filmen, sondern auch als große Teamplayerin und Produzentin eine Schlüsselperson in diesem ästhetisch-politischen Aufbruch inmitten des sozialen Abbruchs.

CHEVALIER, eine grimmige moderne Fabel also. Sechs Männer auf der Jacht eines Mannes, den man nur den Doktor nennt. Er hat es wohl als Chef eines Krankenhauses zu etwas gebracht; jetzt, so heißt es, wird er die Führung abgeben. Man ist für diesen Ausflug nicht wirklich weit von Athen fort und doch weg von Karriere und Familie, nur über Handy und Computer bleibt man verbunden. Tauchen, Fischejagen, abends zusammensitzen und essen und trinken, sich von der Crew bedienen lassen. Von oben, vom Kapitän in seinem Glashaus, kommen gelegentlich denkwürdige Ansagen. Eine lautet, dass man heute Abend leider statt Zitronenkuchen Käsekuchen servieren müsse.

Man wundert sich schnell, warum diese Männer nicht ihre kleine Auszeit genießen. Mit dem Jetski kann man in die toten Häfen eines gewaltigen Hotelkomplexes düsen, der nicht zu Ende gebaut wurde, windsurfen könnte man, wenn die anderen einen ließen. Einer, dem nur die Vermittlung seines Bruders zur Einladung verhalf, kann noch so lange die Luft anhalten, man wird ihn beim Tauchen nicht akzeptieren. Andere sind durch erotische und berufliche Rivalitäten aneinander gebunden und ineinander verbissen. Man kann die Aggressivität und die Missgunst der sechs Männer mit Händen greifen, schon bevor die verhängnisvolle Idee geboren ist: Man will es nicht mit den gewohnten Spielen bewenden lassen, den kindsköpfigen Macho-Ritualen, die unter Buddies so üblich sind und nicht weiter schlimm, weil am Ende doch die Freundschaft größer ist als Schwanzvergleich. Einen „Buddiefilm ohne Buddies“ hat Athina Rachel Tsangari ihren Film einmal genannt, was übrigens ebenso kreativ irreführend ist wie vieles in der Anlage der Fabel selbst.

Die sechs Männer wollen herausfinden, wer „in allem der Beste“ ist. Dazu stellt immer einer der Gruppe eine Aufgabe, und die sechs bewerten sich gegenseitig, was die Lösung anbelangt. Dieses Spiel reicht vom Fenster- und Silberputzen über den unausweichlichen Erektionswettbewerb bis zum Steine-über-das-Wasser-springen-Lassen. Man vergleicht die Blutzucker- und Cholesterinwerte, Seeigelrezepte und Schnarchgeräusche ebenso wie die Fähigkeit, den CD-Turm einer schwedischen Möbelfirma aufzubauen. Natürlich steckt das alles voller tückischer Konnotationen. Was als Männlichkeitsritual beginnt, endet todsicher in der Destruktion der Männerrolle; was die soziale Überlegenheit demonstrieren soll, verwandelt sich in sklavische Arbeit; was eine Rangordnung produzieren soll, wird zu chaotischer Rangelei.

Bei alledem geht es im Übrigen noch um den „Chevalier“, einen Ring, den der Sieger, also der „Beste in allem“, tragen soll, bis zum nächsten Treffen, zum nächsten Spiel. Aber die Rivalität dieser Männer braucht nicht einmal einen realen Preis; es gibt weder sexuell noch ökonomisch, noch „politisch“ direkt etwas zu gewinnen.

Schnell hat man sich auf eine böse Satire der Männerrituale und auf die Dekonstruktion des Buddie-Mythos eingestellt. Aber darin geht CHEVALIER nicht auf. Genauso wenig wie der Film sich darin genügen würde, das innere Elend einer erschöpften griechischen Oberschicht zu karikieren, die aus der Krise ihres Landes nichts zu lernen imstande ist. Es ist in dieser geschlossenen Männergesellschaft auch nicht mit einer Parodie auf das liberation management getan, wo sich der einstige Boss zurückzieht, um mehr oder weniger vergnügt dem selbstkontrollierenden und selbstzerstörenden System aus Wettbewerb und Allianz zuzusehen, dem neuen Ideal der neoliberalen Organisationsform. Der Spaß an der grotesken Überzeichnung einer von Ranking und Rating besessenen Kultur, die weder zu Weisheit noch zu Lust fähig ist in ihrer Manie der Selbstbeobachtung, spielt allenfalls am Rande mit hinein. Auch wie man heute „Klassengesellschaft“ lebt, schimmert durch. Dazu gibt es einen ziemlich diabolischen Schluss, der aber hier nicht verraten werden soll.

Ganz nebenbei geht es auch um präzise mikrosoziale Beobachtungen. Wie am Anfang noch alle „geordnet“ um den Esstisch sitzen und wie sich diese Ordnung auflöst und dann, als sie noch einmal hergestellt werden soll, prompt in einen aggressiven Ausbruch mündet. Wie zwei Männer ihre Ertüchtigung am Rudergerät zu Beginn mit disziplinierter Synchronität ausführen, wie dann die Bewegungen gegenläufig werden und ihnen schließlich der Rhythmus ganz abhandenkommt. Wie einer, der fürchtet, zum Verlierer zu werden, sich an den nationalen Gründungsmythos der Filiki Eteria klammert, des Geheimbunds griechischer Nationalisten und europäischer Philhellenen des 19. Jahrhunderts, die ihren politischen Pakt mit Blutsbrüderschaft zu besiegeln pflegten. Und er bietet in dieser Tradition den anderen die Blutsbrüderschaft an und schneidet sich mit dem Messer in die Hand. Aber niemand will es ihm gleichtun, nur Dimitris, der Schwächling, der Muttersohn, der Verlierer, schwingt sich auf. Allerdings bietet er zur Blutentnahme den Hintern statt der Hand, weil das weniger wehtut. In diesem grotesken Kurzschluss zwischen Männerkörper und Nationalepos endet das Spiel.

Von ferne grüßt nicht nur Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“ (es scheint lange, als könne keiner der Männer das Schiff verlassen, bevor die Frage nicht geklärt ist, wer in allem der Beste ist), sondern auch ein brechtsches Lehrstück über Konkurrenz als perfideste Form der Versklavung. Letztlich ist der Film auch eine sogenannte Deadpan-Komödie: Einer der komischsten Effekte von Chevalier besteht darin, dass die Beteiligten ihr Spiel mit einer unerschütterlichen Buster-Keaton-Ernsthaftigkeit durchziehen. Das sind Männer, die niemals lachen, schon gar nicht über sich selbst. Eine ähnliche Haltung mutet die Regisseurin allerdings auch uns Zuschauerinnen und Zuschauern zu. Das alles ist wirklich ungeheuer komisch. Aber ein „befreiendes Lachen“ gibt es so wenig wie einen Menschen, dem wir das heile Davonkommen wünschen könnten.

Man kann Chevalier als grandiose Komödie über Männer am Rande der Soziopathie ansehen, das Männer-Pendant zu Tsangaris letztem Film Attenberg, der seine Versuchsanordnung rein weiblich besetzte, als Schattenspiel zur griechischen Misere oder auch als grimmiges Statement über den Zustand der europäischen Gesellschaften. Und dann, hinter Wellen und Felsen, doch wieder der Mythos. In diesem vermaledeiten Ring, den am Ende doch niemand bekommt, ist der Glaube gegossen an eine Zeit, in der beides noch gemeinsam stark war, das Griechische und das Männliche. Das vielleicht ist der größte Witz.

Ansonsten bleibt in Chevalier zu unserem Glück auch vieles offen. Man könnte nicht sagen, dass hier einer Figur mehr Sympathie entgegengebracht würde als den anderen, ebenso wenig könnte man wohl eine Lesart der Fabel der anderen vorziehen. Das grandiose Schauspieler-Ensemble schafft eine vollkommene Gleichwertigkeit in Nähe und Distanz, Erschrecken und Groteske. Wenn die Figuren am Ende in der Nacht verschwinden, zurückkehren zu ihren Berufen, ihren Familien, ihren Abstiegskämpfen, ihren Betrügereien, hat man indes eines gewiss nicht: Lust, ihnen zu folgen.

Georg Seeßlen

© Rapid Eye Movies

in 22. April 2016 DIE ZEIT Nr. 18/2016