Kalter Blick und kleine Hoffnung

Roberto Benignis Auschwitz-Komödie: Darf man über das Grauen ein Märchen erzählen?

Die populäre Kultur ist ein eigenes Sinnsystem, industriell gefertigt, auf den Markt geworfen, der Bedürfnisbefriedigung und dem schnellen Konsum überantwortet. Frivolität, Vorläufigkeit, Gängigkeit sind ihre Kennzeichen. Sie ist so unfähig zur Erhabenheit der „großen“ Kunst wie zum analytischen Blick. Alles kann Pop werden in der Warenwelt, das Furchtbarste ebenso wie das Gute, Wahre und Schöne, denn Pop ist keine Frage des Inhalts, sondern eine der Verpackung.Darf also die populäre Kultur, dieses Geflecht von Genres, Mythen und Bildern, dem wir seine Frivolität, sein hemmungsloses Wildern und Wuchern in der äußeren und inneren Wirklichkeit, nur verzeihen, weil es stets beteuert, ja nichts als „Unterhaltung“ bieten zu wollen, auch vom Grauen dieses Jahrhunderts, dem deutschen Faschismus und dem Völkermord an den Juden, sprechen? Andersherum gefragt: Wie armselig und töricht müsste diese populäre Kultur sein, in deren Bilderwelt wir alle leben und in der wir uns verständigen, wenn sie es nicht könnte oder dürfte. Sie wäre ja, wenn wir ihr die Fähigkeit zu Aufklärung und Wahrhaftigkeit zur Gänze absprächen, wirklich nichts weiter als die legale Droge des kapitalistischen Alltags.

Bis hierher war es lustig, den Faschisten eine lange Nase zu drehen

Wie Guido seine Angebetete erobert und von ihrem Verlobten, dem faschistischen Aufsteiger, befreit, wie phantasievoll er seinen Kellnerberuf ausübt, wie er den Faschisten, meistens ohne es offensichtlich zu wollen, immer wieder eins auswischt, das wird als warmherzige Komödie, mit ein paar Slapstick-Einlagen hier, ein paar Running Gags dort, erzählt. Aber zugleich tauchen an allen Ecken und Enden Warnungen auf, zeigt sich die zähe, opportunistische Brutalität, die das Land verändert. Immer heftiger werden die Anzeichen, dass sich in diesem campanilistischen Idyll der Terror einnistet: die Direktorin, die das jüdische Kind in die letzte Bank verweist und als Rechenaufgabe gibt, was den Staat behinderte Kinder oder Verrückte kosten, schließlich die Leerung der Piazza, die Allgegenwärtigkeit zuerst der Schwarzhemden und dann der deutschen Soldaten. Auch Horst Buchholz‘ Figur des deutschen Arztes Dr. Lessing, der von Rätseln besessen ist, zeigt zunächst eher skurrile als bedrohliche Züge. Mit der Bemerkung, er sei der phantasievollste Kellner, den er je kennengelernt habe, verabschiedet sich der Doktor mit dem so treffend unpassenden Namen nach Berlin. Bis hierher war es schön, der komischen Faschistengesellschaft eine lange Nase zu drehen. Aber es ist wahr, dass diese lächerliche, brutale und opportunistische Faschistengesellschaft stärker war als die freundlichen Träumer, und es ist wahr, dass Menschen wie er auch noch für ihr Träumen bestraft wurden.

Dann sind vier Jahre vergangen. Guido fährt noch immer mit dem Fahrrad durch die Stadt, die sich verändert hat. Auf der Piazza stehen keine Leute mehr herum und reden, nur Soldaten sind im Hintergrund zu sehen, die Menschen haben es eilig und trachten, einander nicht zu begegnen. Ganz dezent deutet Benigni es an: das Sonnenlicht hat die Stadt verlassen. Guido hat seine Buchhandlung erhalten, er und sein Sohn Giosuè wollen etwas für die Mutter kaufen, aber vor dem Laden steht das Schild „Eintritt für Hunde und Juden verboten“. Schon hier erleben wir, wie Guido seinem Sohn mit lustigen Geschichten die wirkliche Situation zu verheimlichen versucht. Wenn dort der Eintritt für Juden und Hunde verboten ist, so eben woanders für Chinesen und Känguruhs, und ihre Buchhandlung wollen sie für Spinnen und Westgoten verbieten.

Kurz darauf werden Guido und Giosuè wie die anderen Juden des Ortes in die Viehwaggons zum Transport ins Konzentrationslager gebracht. Dora verlangt, dass sie mit ihnen in den Zug kommt. Das ist inszeniert als eine Geste großer Liebe, aber ohne Dämonisierung benutzt sie Benigni auch, um die kalte Gründlichkeit der deutschen Soldaten zu zeigen. Weder sind diese Deutschen bei ihm Marionetten noch sadistische Monster. Sie funktionieren einfach, freilich mit einem so dummen Stolz auf ihr Funktionieren, dass man ihnen nicht einen Augenblick vergeben möchte.

Der Zug fährt durch das Tor des Konzentrationslagers, die Häftlinge werden unter ständigem Gebrüll zum Aussteigen gebracht. Es sind Bilder, die andere Bilder zitieren, die selber schon wussten, dass sie das wahre Ausmaß des Schreckens nicht wiedergeben würden. Guido erklärt nun Giosuè mit immer neuen Einfällen, dass man sich lediglich in einem großen Spiel befinde, in dem es gelte, Punkte zu sammeln – im Hinblick auf ein tolles Geschenk. Dem Tod in der Gaskammer entgeht Giosuè indes nur, weil er vor dem Duschen geflohen ist, so wie er es auch zu Hause tat.

La vita è bella erzählt nicht von einem möglichen Widerstand, aber immer wieder wird der Kampf des Helden zu Signalen der Hoffnung für die anderen. Darin ist er Jacob dem Lügner verwandt. Und als Guido erschossen wird, setzt das gleiche Motiv ein, das auch bei der Einfahrt des Zuges zu hören war. Es geht um den Einzelnen, aber es geht nicht nur um den Einen, der in der Kinophantasie zu retten gewesen wäre.

„La vita è bella“ erzählt einen Traum und warnt zugleich vor dem Träumen

Roberto Benigni hat das Kunststück fertig gebracht, ein Märchen zu erzählen, in einem Film, der nie vorgibt, etwas anderes zu sein, ein Märchen in Bildern, die sich weniger aus der Rekonstruktion der Wirklichkeit als aus den vorhandenen Bildern entwickeln, aus Zitaten, Übermalungen, Stilisierungen, und gerade weil er nicht vorgibt, den wahren Schrecken eines Konzentrationslagers beschreiben zu können, bleibt uns ebendies auch gegenwärtig: Es war viel schlimmer, es war schlimmer, als es irgendein Mensch, irgendein Bild, irgendeine Erzählung aushalten kann. Aber noch im Märchen ist kein Platz für die Verkleinerung des Schreckens und der Schuld, und wenn auch das Böse nur als Karikatur des Bösen und das Gute nur als das geträumte Gute vorkommen kann, so ist das eine doch sowenig verharmlost wie das andere verkitscht. Eine Auflösung in Sentimentalität findet ebensowenig statt, wie es eine Hoffnung auf Sinn und Gerechtigkeit gibt.

Nein, man wird nicht versöhnt durch diesen Film, nicht beruhigt und nicht entlastet. Dass den Sanftmütigen die Welt gehören könnte, hat Benigni in allen seinen Filmen gesagt, vorausgesetzt, sie entwickeln eine Portion Unverschämtheit. Hier retten Sanftmut und Unverschämtheit ein Kind, retten, vielleicht, eine kleine Hoffnung. Das ist sehr viel, und viel zuwenig. Daher enthält der Film auch eine Selbstkritik an der Benigni-Figur, die vor unerschütterlichem Glauben an die Schönheit des Lebens blind zu werden droht. La vita è bella erzählt einen Traum, und er warnt uns zugleich vor dem Träumen. Er erzählt von der heilenden Kraft der barmherzigen Lüge und zugleich davon, dass sie ihren Urheber nicht retten kann. Kein cineastisches Meisterwerk ist da entstanden, keine radikale Neubestimmung des Erinnerns in Bildern, wohl aber der Beweis, daß auch in den Formen der populären Kultur zu sprechen ist von dem, was uns sprachlos machen will.

Das Leben ist schön. Eine geradezu ungeheuerliche Behauptung angesichts der Vernichtungslager. Und doch die einzige Wahrheit, die der Erinnerung des Ungeheuerlichen standhält, mehr noch: die sie einfordert. Gegen die Vergangenheit und gegen die Gegenwart des Faschismus.

Autor: Georg Seesslen

Text geschrieben: November 1998

Text veröffentlicht in DIE ZEIT  47/1998