Der schönste deutsche Film des Jahres: Tom Tykwers „Drei“

Drei Tänzer, zwei Männer, eine Frau, umkreisen einander, kommen sich nahe, stoßen sich ab. Wie frei schwebend in einem unwirklichen, wie himmlischen Weiß, wie jenseits aller Begrenztheit, wie in einer poetischen Ursubstanz.

Als träumten sie einen flirrenden Traum von der ungebundenen Zweck- und Grenzenlosigkeit des Erzählens. Es ist der Traum, den Tom Tykwer träumt. Am Ende sehen wir ein Bild. Es befindet sich hinter Glas und es hat einen Rahmen. Wir blicken durch ein wirkliches Fenster aber wir sehen zugleich, dass dies ein unwirklicher Entwurf ist, eine Utopie. Und auf diesem Bild liegen drei Menschen in einem Bett, zwei Männer und eine Frau. Nicht die Frau liegt in der Mitte, sondern einer der Männer: Das heterosexuelle Paar hat sich, ohne voneinander zu wissen, in den gleichen Mann verliebt. Die beiden Herren haben Freude an der Frau und aneinander auch. Dann füllt eine Petrischale das Bild: Wir haben einem Laborversuch beigewohnt. Und wer weiß, vielleicht haben wir in diesem Dreier-Bild auch das Entstehen einer neuen Kultur erlebt…

Nein, das gewiss nicht, obgleich diese Konstellation ja so etwas wie die absolute sexuelle Gleichrangigkeit aller Beteiligten ermöglichte. Doch Drei wird wohl nie die Zahl der Liebe, es bleibt eher die der Konflikte. Aber Tom Tykwer will keine Tragödie erzählen und keine Konflikte. Denn das Wichtigste am Erzählen, ist ihm: Das Erzählen.

Simon liegt im Krankenhaus. „Kennen wir uns eigentlich?“ fragt er die Ärztin. „Ja, du bist einmal mit mir fremdgegangen.“ entgegnet die Frau lächelnd, die ihm kurz davor einen Hoden entfernte, der Krebs. So ziemlich im gleichen Augenblick lässt sich Hanna von Adam zeigen, dass mit seinen Hoden alles in der schönsten Ordnung ist. Und wenig später wird Adam zu Simon sagen „Nicht schlecht für eine halbe Portion“ und er wird den Spermaertrag des Operierten meinen. Hanna ist seit 20 Jahren die Freundin von Simon. Irgendwann werden Hanna und Simon gemeinsam zu Adam gehen. Vorher treffen sie sich nach langem Schweigen bei seiner Mutter. „Wenn hier irgendwo meine Mutter ist, dann ist sie das.“ wird Simon sagen, da stehen sie vor einem Plastinat.

Tom Tykwers „Drei“ ist der schönste deutsche Film des Jahres. Vielleicht nicht der wichtigste, der Schönste aber bestimmt. Seinen Namen erwarb sich der Regisseur mit „Lola rennt“. Die folgenden internationalen Großproduktionen – „The International“, „Das Parfüm“ – standen dann deutlich unter dem Diktat der großen Budgets. „Drei“ ist nach „Lola rennt“ wieder ein Film, der einen individuellen Kunstwillen erkennen lässt. Hier rennt niemand, aber, so ließe sich sagen, Tykwer schaut gelassen zu, wie das Leben einfach so läuft. Er nimmt sich, so wie mit der rennenden Lola, mit der er die gleiche Geschichte dreimal erzählte, viel Zeit. Und wie einst geht es ihm weniger um die Geschichte, sondern um die Momente darin. Die Story gibt ihn den Rahmen, das Eigentliche aber sind die impressionistischen Skizzen darin, wie hingetupft, wie absichtslos. Tykwer erzählt nicht die wirklichen Konflikte, er konstruiert ein Experiment, das gibt ihm, unbedrängt von der Wirklichkeit, die Freiheit zu spielen .

Und wie.

Mit der hemmungslosen Freude eines Kindes, das in seinem Spielzeug immer neue Möglichkeiten entdeckt. Ein Split-Screen, als wolle er dem Fernsehen zeigen, wie so etwas geht. Eine surreale Tanzszene, einfach so. Eine Zahlenmystik vom Sterben, die Zahlen lässt er verspielt auf die sonst leere Leinwand schreiben. Ein Engel, der Hesse rezitiert, es ist Simons Mutter, die als Plastinat endet. Eine Berliner Kulturszene mit sanfter Ironie, Ausstellungen, Theater, Konzerte. Eine fröhliche, nahezu hemmungslose Verspieltheit.

Die Beziehung der Kulturjournalistin und des Kultur-Technikers hat keine Probleme, außer ihrer Dauer. Hanna (Sophie Rois) und Simon (Sebastian Schipper) haben auch keine sichtlichen Probleme mit ihren Seitensprüngen, sie tun es einfach. Und Adam (Devid Striesow), das Objekt beider Begierde, ist ein Traum: Stammzellenforscher, Motorradfahrer, Segler, Chorsänger, Judoka, Fußballer, Allesvögler. Allerdings, je weiter die Geschichte fortschreitet, so mehr scheint Tykwers verschwenderischer Umgang mit seinen Einfällen eingeengt, so mehr muss er dann doch Story erzählen. Hannas Schwangerschaft in London, Adams Ex-Familie, das fällt unter die Eleganz der übrigen Erzählung.

Im Ganzen aber ein Film wie ein zweckfreier Laborversuch – heiter, intelligent, unterhaltend.

„Ich würde sagen“, sagt Hanna, „das Leben ist unberechenbar“. Ungefähr das sagt Tom Tykwer auch. Aber es gibt wenige, die das so elegant können wie er.

Text: Henryk Goldberg

veröffentlicht in Thüringer Allgemeine, 28.12.2010

(Quelle/Copyright: Foto: X-Verleih)