Herzen in Heidelberg

»Kannst du bitte noch den Stecker aus der Wand ziehen?« sagt der alte Mann zu der jungen Frau, ehe sie das Zimmer verlässt. »Aber Opa« lacht das Mädchen. Opa liegt im Krankenbett und war einmal ein berühmter Arzt. So sind sie eben, die Ärzte. Das Mädchen Paula wird noch ganz andere Dinge über ihren Opa erfahren und sie werden ihr nicht gefallen. Denn sie hat 783 Punkte beim Robert-Koch-Wettbewerb erzielt, die zweitbeste, bundesweit. Deshalb darf sie nach Heidelberg, in den berühmten Anatomiekurs des berühmten Professors. Im Zug dorthin rettet die Medizinstudentin dem jungen David das Leben, erste Hilfe. Sie wird ihn wiedersehen und in diesem ergreifenden Augenblick, wenn er nackt vor ihr liegt, wird sie begreifen, was es bedeutet, das Herz in Heidelberg zu verlieren. »Wollen Sie bitte«, wird der berühmte Professor sagen, »das Herz herausnehmen?«.

»Anatomie«, den Stefan Ruzowitzky schrieb und inszenierte, ist etwas, das in Deutschland eigentlich nicht vorkommt: Eine reiner Genrefilm, der nicht gedreht wurde, um das Grundmuster intellektuell zu persiflieren, sondern um den Leuten ein wenig Spaß zu machen. Dieser Film, der das klassische Genre Horror reanimieren will, ist die erste gemeinsame Arbeit der neuen deutschen Dependence er Columbia Pictures, eine von Hollywoods Major Companies, und einer deutschen Produktion. Das ist in gewisser Weise ein Problem. Denn die Bilder, ließe sich sagen, kommen aus Hollywood und die Geschichte aus Heidelberg. Was meint, die Inszenierung des Regisseurs Ruzowitzky ist besser als das Buch des gleichnamigen Autors.

Das beginnt wie ein Highscool-Film. Paula trifft in Heidelberg das blonde geile Gretchen, die geht Hein am Strand an die Hose und Phil in der Anatomie. Gretchen ist aber nicht nur geil, sondern auch klug, sie war die Erste im Robert-Koch-Wettbewerb. Aber das sagt sie den Kerlen nicht, weil, sonst kriegen sie keinen mehr hoch. Sagt und erlebt sie. Ein kluges Mädchen, aber es wird ihr nicht helfen. Einmal wird ein Mann neben ihr stehen und auffordernd, anfeuernd wie im Stadion, skandieren: »Gret-chen, Gret-chen…« und es wird um die Frage gehen, ob sie die 10 Zentimeter bis zur Tür noch schafft. Später, sie hat es nicht geschafft, wird sie ein kleines Türchen in der großen Brust haben, damit man auch ihr Herz in Heidelberg bewundern kann, und ein wunderschönes Präparat und unter anderen wunderschönen Präparaten sein, der Film zur Ausstellung »Körper-Welten«. Das geile Gretchen aber mit einem kleinen Türchen in der Brust, das ist nicht wirklich gruselig, das ist eher komisch  und schade ist es natürlich auch, weil, ohne Türchen war sie schöner. Und das ist ungefähr das Problem.

Ruzowitzky, und das ist wichtig für einen Genrefilm und dessen Konventionen, beherrscht sichtlich sein Handwerk als Regisseur, und wenn diesem Film ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen ist, so verdankt er sich dem Regisseur. Wie er im fahlen Licht der Anatomie das geile Gretchen und den doofen Phil einen letzten Danse macabre vollführen lässt; wie er einen jungen Mann blinzelnd erwachen lässt unter der grellen kalten Lampe, und wie der Mann  er benötigt, begreiflich, einen Augenblick länger als wir, der Kamera zu glauben , langsam realisiert, dass es sein Bauch ist, den sie gerade öffnen, dass es sein Arm ist, der da skelettiert neben ihn liegt: Das ist schon schön und nur mit einem erträglichen Ekelfaktor versehen.

Aber der Film hat keine Geschichte für seine Bilder, wenigstens keine, die sich auf Augenhöhe ihrer Ästhetik bewegt, nur lustige Sprüche manchmal. Und vor allem haben die Bilder kein Motiv. Deshalb wohl trifft uns das geile Gretchen als Präparat bei so unerschütterter Gemütslage an. All die Schweinereien haben etwas mit ethikvergessenen Medizinern zu tun, eine geheime Loge, die, natürlich, ihre Blüte unter den Nazis hatte. Und, das ist vielleicht das Deutsche: Es ist alles Quark, alles Alibi. Die hochgeheime und saugefährliche Loge ist ein Heidelberger Heimattheater, ihre Entlarvung, wie die des Einzeltäters, eine unspannende Banalität. Eine Geschichte aber benötigt ein Motiv, dass wir wenigstens ernst nehmen, solang sie dauert. Nicht, damit sie uns etwas erklären kann: Damit sie ihre Bilder aufzuladen vermag mit einem Grummeln, mit einem Untertext, damit die Situationen vibrieren. So ist es, als liefen die Bilder manchmal ins Leere, sie atmen nur das Maß an Grusel, das unmittelbar in ihnen ist.

Man kann diesen Film dennoch sehen, auch wegen Traugott Buhre und Franka Potente. Er ist nicht richtig langweilig, er ist nur spannend auf eine gemütliche Weise. Der Horror aus Heidelberg.

 Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 2000

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine