Die Grenzen des Menschen

Der wichtigste deutsche Film seit Jahren

Am 9. November 1956 spricht ein Mann in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bunes Aires vor. Er beantragt einen deutschen Reisepass. Er legt ein Lichtbild vor sowie die notwendigen Dokumente, die seine Identität beglaubigen. Es liegt nichts vor gegen den Antragsteller und die Bundesrepublik Deutschland stellt ihrem Bürger ordnungsgemäß, unter Beachtung der notwendigen Formalitäten, seinen Pass aus. Es handelt sich um den deutschen Staatsbürger Dr. Josef Mengele. Und wenn sie ihn verhaftet hätten? Unmittelbar nach dem Krieg, die Alliierten, hätten ihn zum Tode verurteilt, ein Kriegsverbrecher. Die Westdeutschen, zehn Jahre später? Drei, vier Jahre, vielleicht, Befehlsnotstand, Mitläufer. Es hätte vielleicht einige Proteste gegeben und in einer deutschen Kleinstadt hätte die Bürgerschaft vielleicht Petitionen verfasst, es möge die Kampagne gegen ihren beliebten Arzt nun ein Ende haben. Einmal muss Schluss sein. Und noch später? Wenn Dr. Josef Mengele, der berüchtigste Arzt des Vernichtungslagers Auschwitz heute vor einem deutschen Gericht stünde? Wenn die überlebenden Zwillinge, denen er Knochenmark entnahm ohne Narkose für seine Karierre als Rassenhygieniker, widersprüchliche Angaben gemacht hätten, betreffend die Kleidung des Mannes? Wenn die Überlebenden der von ihm geleiteten Selektionen sich in Widersprüche verstrickten, betreffend das genaue Datum der Selektion? Wenn sein Anwalt zu zeigen vermöchte, es entspräche die Praxis der Euthanasie durchaus der damals herrschenden Ethik, auf die man gegenwärtige juristische und moralische Normen nicht einfach übertragen dürfe? Und zeige nicht eben die gerade jetzt statthabende Diskussion über Peter Sloderdijk und „Die Regeln im Menschenpark“, zugegeben, etwas zugespitzt, Hohes Gericht, aber im Ganzen doch nicht unzutreffend, dass diese Fragen unter juristischen wie ethischen Problemstellungen doch keineswegs abschließend beurteilt seien, wie der Herr Staatsanwalt es uns, menschlich verständlich aber juristisch fragwürdig, darzustellen versuchte? Es geht doch, Hohes Gericht, hier um nichts als die Wahrheit.

Dies ist ein Film, der kaum dazu einlädt, über Film zu diskutieren. Es ist aber ein Film, der den Anlaß liefert für ein Fragen, dass so ernsthaft, so seriös, so beunruhigend kein deutscher Film seit Jahren zu stimulieren vermochte.

Roland Suso Richter, der Regisseur, Johannes W. Betz, der Autor sowie, natürlich Götz George und Kai Wiesinger haben hier einen Film gemacht, der so amerikanisch ist, dass er ernsthaft über Deutschland zu handeln vermag. Einen Film, der ein Problembewußtsein hat und der dennoch spannend ist. Peter Rohm hat Geburtstag, die Mutter, die Frau, ein Kollege. Rohm ist Mitte dreißig, ein Anwalt, liberal, demokratisch, kritisch, erfolgreich. Er bekommt ein schönes rotes Modellauto zum Geburtstag, ein süßes Kuscheltier und einen Karton. Darin befindet sich, „Mach doch mal auf!“ eine SS-Uniform mit dem Zeichen des medizinischen Dienstes. Die besitzt Uniform eine Identifizierungsnummer, durch die sich ihr einstiger Träger feststellen läßt. Es handelt sich um die Dienstkleidung von Dr. Josef Mengele.

Natürlich ist das manchmal unbekümmert und gelegentlich auch etwas dreist. Der Anwalt wird nach Argentinien entführt, vorher gibt es ein gerammtes Auto und eine Taschenlampe in dunklen Räumen, wo ihn Mengele anbietet, sich zu stellen, wenn der Anwalt seine Verteidigung übernimmt. Da explodiert ein Auto, neben dem seine schwangere Frau steht, da versucht man, den inhaftierten Menegele umzubringen, und da war auch noch seine Mutter in die Euthansie schuldig verwickelt. Und die Brüche im Verhalten des Anwaltes kann auch der gute Kai Wiesinger nicht motivieren, die werden deutlich außerhalb der Figur gesetzt.

Diese unbekümmerte Trivialität zerrt schon an der Kraft des Filmes doch sie ist sein Preis, ohne diese gleichsam seriöse Unbekümmertheit wäre er nicht, was er ist: Der wichtigste deutsche Film seit langem. Es gibt eine Zeit, da wird der Film hassenswert: Wenn der Anwalt die Normen des Rechtes gegen die Moral mobilisiert. Wenn er uns das Monster als Menschen vorzustellen beginnt. Wenn er uns verführen will, mit Eloquenz und Verständnis. Doch dann bricht er ab: Er hat uns nur gezeigt, was möglich wäre, er hat uns nur aufgefordert, unser sittliches Empfinden als ein Teil des Rechtes zu begreifen, ohne das es keine Sittlichkeit gibt.

Das ist eine, doch über Kunst zu reden, wunderbare Arbeit Götz Georges. Mit einem extremen Minimalismus, dem zur Kunst erhobenen “ reduce to the max“ einem exorbitanten Balanceakt, behauptet er nie, das Unerklärliche erklären zu können, die Altersmaske ist ist auch eine Maske über dem Unenträtselbaren menschlichen Abgründe. Er behauptet seine Figur und zugleich die Distanc zu ihr. Er verführt uns zu Verständnis und bricht die Verführung ab. Und so stellt er uns die monströse Figur, ausgestellt in einem Glaskasten, wie ein historisches Präparat, ein Fossil vor als jemandem, der ein Mensch ist und doch aus seinen Grenzen trat. Wie George, der immer älter immer besser wird – wer war doch gleich Schimanski? -, das Taschentuch nimmt um sich die Lippen zu tupfen, wenn das Thema ihn irgendwie unangenehm berührt, Auschwitz, die toten Augen an der Wand, das ist eine herausragende, künstlerisch gediegene und gesellschaftlich verantwortungsvolle Arbeit dieses Schauspielers, der, nachdem er populär war, beginnt, bedeutend zu werden. Die Biografie seines Vaters, eingewoben in sein Leben, bewegt ihn wohl, Fragen zu stellen. Und dass Bewusstsein, keine Antworten zu erhalten, entbindet uns nicht vom Fragen.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschriebenOktober 1999

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine