Einer flog vom Kuckucksnest

Wim Wenders‘ “ The Million Dollar Hotel“: Nicht wichtig, aber schön

Dixie war der fünfte Beatle. Aber das weiß niemand und deshalb bekommt er keine Tantiemen. Das ist nicht schön für Dixie. Da müsste man etwas tun. »Kriegen Sie das mal raus« sagt Dixie dem Mann, der ein Stützkorsett und eine Nackenstütze trägt. »Ich arbeite nie an mehreren Fällen.«, entgegnet FBI Special Agent Skinner. Denn er hat schon einen Fall zu lösen. Es ist die Frage, warum Israel Goldkiss, den sie Izzy nannten, vom Dach fiel, und ob der explodierende Marktwert seiner Bilder damit in einem Zusammenhang steht. Bis jetzt steht aber nur Agent Skinner, und zwar vor einem Rätsel. »Dieser Laden ist ein Irrenhaus« fasst er das Ergebnis seiner Ermittlungen zusammen, und viel mehr wird Special Agent Skinner nicht erfahren. Es geht ihm da wie uns. Dennoch wird er zufrieden abreisen, und auch da geht es ihm wie uns.

Wim Wenders wurde vor wenigen Tagen mit einem Silbernen Bären geehrt. Einen der drei großen Preise eines der drei großen Festivals ist dieser Film gewisslich nicht, hier waren wohl die Gastgeber des Festivals und das Mittelmaß seines Wettbewerbes Entscheidungskriterien. The Million Dollar Hotel ist ein Film ohne Botschaft, ohne Sensationen und beinahe ohne Geschichte. Es ist kein sehr wichtiger Film und kein sehr tiefer, nur ein schöner.

Wenders interessiert sich, seit längerem, mehr für Orte als für Geschichten, es ist, als wolle er die Aura eines Ortes verlebendigen, als wolle er Geschichten erzählen, die aus Atmosphären entstehen. Das bedingt zwingend eine Art von dramatischer Anämie, von dramaturgischer Bewegungsarmut. Es erzeugt aber auch, und das ist nicht zwingend, das ist die Kunst des Regisseurs, eine Sensibilität des Blickes, eine gelassene Aufmerksamkeit des Schauens. Wenders dreht in diesem authentischen Hotel, in Los Angeles gelegen, verschmiert, verwanzt, verrottet. Es ist wie ein Kuckucksnest, ein Ort der Heimatlosen, ein Ort der entsorgten, der abgelegten Menschen. Und einer wird vom Dach fliegen.

Der Junge steht, so fängt es an, oben auf dem Dach. Dort, wo er die meterhohen Buchstaben aus Licht nur von hinten sieht, als sinnentleerte Konstruktion. Er lehnt an der Brüstung, mit dem Rücken zur Stadt, wie ein Leichtathlet in der Halle. Und nimmt einen langen Anlauf, quer über das Dach und winkt noch einmal einen kleinen Abschied einem Engel, aber das erfahren wir erst am Ende , und springt. Und fliegt, die Ewigkeit lang, die die Sekunden vorm Tode währen sollen. Und fliegt, der Straße entgegen, an den geöffneten Fenstern vorbei. Die Hure, der Junkie, das streitende Paar, ein Paternoster des Lebens. Und da denkt der Junge, und sagt es auch, wie schön das Leben sei. Und weil es so schön ist beschließt er, ehe der Aufschlag kommt, uns davon zu erzählen. Und da er hochgradig infantil ist, sieht er vieles, doch er versteht wenig. Also zeigt er uns alles, und erklärt nichts. So ist dieser Tom-Tom, so ist dieser Film.

»Manchmal war Tom-Tom zu doof, um ein Loch in den Schnee zu pissen.«sagt Tom-Tom, und er weiß, wovon er spricht. Er macht für Agent Skinner den Führer durch dieses Hotel, dessen Insassen von hier nur in die Knast oder in die Psychiatrie auschecken können, und uns zeigt er es auch. Das Mädchen Eloise zum Beispiel, das ihm ein Engel scheint und eine Hure ist. »Ich existiere gar nicht. Ich bin eine Fiktion.« sagt Eloise und wir glauben ihr das sofort. Und Dixie. »Wenn genügend Menschen an etwas glauben, dann ist es Wirklichkeit.«, sagt Dixie, der ganz fest glaubt, er habe einmal ein Lied geschrieben, das »Yesterday« heißt. Und Special Agent Skinner. Der dreht einmal, weil er nicht weiterkommt, die Regenanlage auf im Hotel, obwohl es gegen die Polizeivorschriften von L.A. Verstößt. Aber es hilft ihm auch nicht. Hier stehen alle im Regen und immer, das hängt von keinem Special Agent ab.

Wim Wenders inszeniert seine Leute mit müheloser, mit spielerischer Souveränität und spielerisch entwirft er Bilder, die eine Hommage an Edward Hopper sind. Milla Jovovich gewinnt die stärkste Kontur in diesem Panoptikum der Melancholie, ein autistisches Aschenputtel, das nichts weiß von Prinzen, verhuschelnd, beinahe transparent, verschwimmend in der Umgebung und doch sehr präsent. Jeremy Davies, der infantile Tom, gewinnt nicht ganz diese Leichtigkeit, diese Selbstverständlichkeit des Andersseins, da bleibt immer ein Hauch von Handwerk, von Angestrengtheit. Und Mel Gibson trägt die Nackenstütze mit der Selbstverständlichkeit, mit der er sonst anderen das Genick zu brechen pflegt.

Einmal spielt Dixie »I am the Walrus« am Klavier. Und wir begreifen die Ungerechtigkeit, dass »Yesterday« ein anderer geschrieben hat. Da muss einer ein wenig verrückt werden.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 2000

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine