Lebenslügen

„Good by, Lenin!“ ist der Europäische Film des Jahres – mit Recht

„Die Zeit existiert nicht“, sagt Tante Line in Claude Chabrols vorerst letztem Film Die Blume des Bösen und der Versuch, diese Lebens-Lüge zu beweisen ist der Grundeinfall von Wolfgang Beckers Good by, Lenin!, der nun auch offiziell der beste europäische Film 2003 ist. Die Auszeichnungen beim Europäischen Filmpreis – bester Film, bestes Drehbuch, bester Darsteller für Daniel Brühl, den Damen-Preis erhielt Charlotte Rampling für Swimmingpool, sowie der Publikumspreis -, belegen, dass dieser Film weit mehr ist nur die beste der Ostalgie-Shows. Denn hier wird, mit einer wunderbar komödiantischen Grundidee, gefragt, ob die Existenz in der DDR, wenn jemand sie ernst nahm, eine Lebenslüge war. Katrin Saß trägt mit ihrer großen Kraft die Stellvertretung der Ostmenschen und Wolfgang Becker, mit dem Autor Bernd Lichtenberg, stellt diese Frage ohne Verteidigungspathos und Anklagefuror. Das Geheimnis dieses Filmes ist seine komödiantische Oberfläche, unter der, ohne zu eifern, das Problem der Ostmenschen verhandelt wird. Denn der Wiedererkennungseffekt, der im Osten Lachsalven stiftet, kann kaum im Westen und gar nicht im europäischen Ausland sonderlich Wirkung machen. Es muss diese Haltung sein, die die Europäische Filmakademie, bei allen Schwächen, bewog, erstmals einen deutschen Film mit dem wichtigsten ihrer Preise zu ehren.

Dass Bernd Lichtenberg bester Autor wurde, Wolfgang Becker aber nicht den Preis für Regie erhielt, entspricht wohl der inneren Verfasstheit des Filmes – und der Leistung des Dänen Lars von Trier. Denn dessen Dogville ist als Inszenierung der Tat eine Arbeit, der in dieser Saison kaum etwas Gleichwertiges an die Seite zu stellen wäre. Die Souveränität, mit der von Trier Brechts Seeräuberjenny als Motiv und Brechts Theorie als Form verarbeitet war gewiss die kreativste Leistung des europäischen Filmjahres – wenngleich eine Leistung, von deren extremer Formsprache kaum noch Impulse ausgehen können, so wie sie einst von seiner Erfindung des „Dogma“-Kinos für den europäischen Film ausgesendet wurden.

Als ein Impulsgeber darf auch der für sein Lebenswerk geehrte Claude Chabrol gelten, denn die von ihm mitbegründete „Nouvelle vague“ gehört zum Kanon des europäischen Filmes, der mit Chabrol gleichsam sich selbst, seine Substanz, ehrte. Und dessen Thema blieb, über die Jahrzehnte hinweg, die Lebenslüge des Bürgertums. So ist doch das Imaginieren eines Lebenssinns, die Autosuggestion, kein Vorgang, der an eine Gesellschaft gebunden wäre.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben  2003

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine