Die Ferne nebenan

Immer ist hier Gedrängel, Gewimmel, Gewusel. Manchmal, weil die Menschen zusammengehören, öfter, weil sie aneinander geraten. Nicht immer ist klar, wer warum mit wem kollidiert. Nicht einmal den Beteiligten. „Ajami“, das ist ein Stadtteil von Jaffa, ist so verwirrend, so bestürzend, so eindrucksvoll wie das Leben in Israel. Und so hoffnungslos wie der Frieden. Der muslimische Araber, der seinen Freund an einen christlichen Araber verrät, damit seine Mutter nicht sterben muss. Der christliche Araber, der die verhasste jüdische Polizei einschaltet, damit sie einen muslimischen Araber verhaftet, den der christliche Araber nicht als Freund seiner Tochter akzeptiert. Der arabische Restaurantbesitzer, den seine Freunde attackieren, weil er eine jüdische Frau liebt. Der Jude, der den Araber, der für die Liebe zu einer Jüdin die Ablehnung der Freunde auf sich nimmt, drangsaliert, weil er dessen Bruder für den Mörder seines Bruders hält. Der Araber, der eine unerschwingliche Summe an eine Beduinenfamilie zahlen muss, damit ihn und seine Familie die Blutrache nicht tötet, weil sein Onkel sich mit der Waffe wehrte gegen einen Beduinen, der ihn mit der Waffe bedrohte. Und der arabische Junge, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort ist und von Beduinen erschossen wird. Damit fängt es an. Alles hängt zusammen mit allem und niemand weiß: weshalb. Dies ist einer der bewegendsten und schwierigsten Filme, die seit Langem zu sehen waren. Bewegend, beinahe ist man versucht zu sagen: aufwühlend, wegen seiner Hoffnungslosigkeit, schwierig wegen seiner Struktur. Scandar Coppi, einem arabischer Christen, und Yaron Shani, einem israelischen Juden, gelingt in ihrem Film, was in der Wirklichkeit des Landes Israel fast nie gelingt: der Blick für die Situation des jeweils anderen, der sachliche, hass- und ideologiefreie Blick in die Ferne nebenan. Der klassische, der erwartete Nahostkonflikt kommt kaum vor, nur sein Grund liegt wie ein unabänderliches Muster unter allem, allem Zufall, allem Blut: die Unfähigkeit, zu verstehen, dass andere einen anderen Blick haben. Das hängt nur bedingt ab von individuellem Wollen, da waltet der schlimme Zufall, der hier symbolisch steht für ein unabwendbares Schicksal. So hat dieser Film etwas von der Größe und der Monumentalität, der Kraft und der Ausweglosigkeit des antiken Dramas. Die beiden Regisseure arbeiten ausschließlich mit Laiendarstellern und einer quasi-dokumentaren Kamera. Die erzählt in hektischen, getriebenen, gehetzten Bildern mit der Sachlichkeit und der Authentizität eines Dokumentarfilmes. Einzelne Sequenzen würden hier anmuten wie der Teil eines Fernsehberichtes – in der Summe verdichtet sich das zu einem so beindruckenden wie bedrückenden Kunstwerk über die Wirklichkeit. Die Struktur ist ein wenig Kurosawas „Rashomon“ entlehnt, verschiedene Blicke auf den gleichen Vorgang: Den einen, zentralen Blick, die Gottesperspektive gibt es hier nicht. Das verwirrt mitunter, der Zuschauer sollte sich dem hingeben, am Ende fügt sich alles – und nicht zum Guten. Wer bereit ist, sich diesen zwei Stunden auszusetzen, wird nach „Das weiße Band“ den zweiten exzellenten Film sehen, der für den Auslands-Oscar nominiert war und ihn nicht bekam. Mag sein, er ist zu wahr, zu hoffnungslos.

Autor: Henryk Goldberg